Über die Situation in Ägypten

Ägypten im Abgrund

Nach der Räumung islamistischer Protestlager in Kairo eskaliert die Situation in Ägypten. Im chauvinistischen Taumel wird die kritische, revolutionäre Opposition marginalisiert.

Über 1 000 Menschen sind in Ägypten seit Mitte voriger Woche umgekommen, die meisten durch Polizeigewalt. Islamisten töteten mehr als 100 Angehörige der Sicherheitskräfte und attackierten Dutzende Kirchen. Zur Eskalation kam es, nachdem die Protestlager der Muslimbrüder in der ägyptischen Hauptstadt Kairo gestürmt worden waren. Seit Anfang Juli protestierten Zehntausende Mitglieder und Unterstützer der Muslimbruderschaft gegen deren vollkommene Entmachtung. Nach landesweiten Massenprotesten Ende Juni hatte das Militär unter der Führung von General Abd al-Fattah al-Sisi Präsident Mohammed Mursi, sein Kabinett und die islamistische Legislative entmachtet und eine zivile, von liberalen Politikern dominierte technokratische Übergangsregierung eingesetzt (Jungle World 29/2013).
Halbherzige Verhandlungen zur Beilegung der Dauerproteste scheiterten. Vor allem die USA, aber auch die EU hatten zuvor mit ihrer teils widersprüchlichen Einflussnahme die Unnachgiebigkeit der Muslimbrüder in den Verhandlungen mitverursacht, die der »tiefe Staat« nun für sich ausnutzen konnte. Trotz besonnener Stimmen aus der zivilen Übergangsregierung, insbesondere vom für ausländische Angelegenheiten zuständigen Vizepräsidenten Mohammed al-Baradei, der eine politische Lösung anmahnte, forcierten das Innenministerium und die »Falken« in der Militärführung die gewaltsame Räumung der Protestlager und ein hartes Vorgehen gegen die Muslimbrüder.
Dass mehrere islamistische Demonstranten mit Handfeuerwaffen und einigen automatischen Gewehren ausgestattet waren und schließlich auch auf Polizisten geschossen wurde, lieferte die Rechtfertigung für den Schießbefehl: Mindestens 670 Demonstrierende wurden im Verlauf des Mittwochs voriger Woche in Kairo getötet. »Während einige Protestierer Gewalt anwendeten, war die Reaktion der Behörden grob unverhältnismäßig, anscheinend nicht zwischen gewalttätigen und gewaltlosen Protestierern unterscheidend«, fasste Amnesty International das Geschehen zusammen. »Sicherheitskräfte haben auf tödliche Gewalt zurückgegriffen, als dies nicht zum Schutz von Leben oder zur Verhinderung schwerer Verletzungen notwendig war.«
Landesweit kam es zu Demonstrationen und Zusammenstößen zwischen Unterstützern und Gegnern der Muslimbrüder und Sicherheitskräften. Dabei wurden am Mittwoch voriger Woche weitere knapp 200 Zivilisten und über 50 Angehörige der Sicherheitskräfte und in den folgenden Tagen nochmals über 200 Zivilisten und von Jihadisten fast 50 Angehörige der Sicherheitskräfte getötet. Die Übergangsregierung hat in zahlreichen Provinzen den Ausnahmezustand ausgerufen und eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Viele Führungskader der Muslimbrüder wurden festgenommen, deren Organisationsstruktur ist bereits schwer beschädigt. Bald soll ein Verbot durchgesetzt werden.

Vielerorts bildeten sich lokale »Bürgerwehren«, die Kontrollen durchführten und »Verdächtige« verprügelten oder an die Sicherheitskräfte auslieferten. Ein langer Bart oder ein »konservatives Kopftuch« konnten zur Identifizierung als Terrorist oder Terroristin, zu Schlägen und sexuellen Übergriffen führen. Bei spontanen Vergeltungsaktionen von Islamisten wurden bis zum Wochenende landesweit mehr als 90 Kirchen, Schulen und andere Einrichtungen der christlichen Minderheit sowie Geschäfte und Wohnhäuser von Christen angegriffen. Es kam zu Plünderungen, der Großteil der betroffenen Kirchen und Einrichtungen wurde angezündet. Fast überall waren Sicherheitskräfte abwesend, schritten nicht oder erst zu spät ein – wie bei anderen sektiererischen Übergriffen der vergangenen Jahre und schon zu Zeiten der Herrschaft Mubaraks. Schutzlose Minderheiten sind seit jeher die ersten Sündenböcke, aus Lautsprechern der Muslimbrüder und Salafisten wird seit Jahren immer wieder gegen die Kopten als »fünfte Kolonne« und »Feinde des Islam« gehetzt. In manchen Orten kommen Auseinandersetzungen zwischen Clans und Sozialneid hinzu.
Während diese Geschehnisse in der internationalen Berichterstattung zunächst eher untergingen, schufen die staatlichen und »liberalen« privaten Medien in Ägypten einen medialen Ausnahmezustand. Auf allen Kanälen werden markige Parolen wie »Das ägyptische Volk im Kampf gegen den Terror« eingeblendet. »Extremisten« und »Terroristen« sind dabei sämtliche Unterstützer der Muslimbrüder, die auf den Straßen von einigen als »Bestien« oder »Tiere« bezeichnet werden. Aufgeputscht von nationalistischer und chauvinistischer Rhetorik des Militärs oder auch »liberaler« Politiker, die Massaker zur »Notwehr« erklären, sowie von fanatischen Predigern, die zu Kampf und Märtyrertod aufrufen, kennen viele Ägypterinnen und Ägypter nur noch Freund oder Feind. Während man die eigenen Toten beweint, wird der Tod der Feinde ersehnt.
Im früher für kritische Berichterstattung bekannten Sender ONTV erhielt ein die Gewalt der Polizei rechtfertigender Menschenrechtsaktivist am vergangenen Samstag dreimal so viel Redezeit wie Heba Morayef von Human Rights Watch Ägypten. Deren Kritik an der exzessiven Gewalt und ihre Aussage, wonach das Recht auf körperliche Unversehrtheit das höchste Gut sei und Sicherheitskräfte auch beim Vorgehen gegen Gewalttäter im Rahmen des Gesetzes handeln sollten, war eine Ausnahme der ägyptischen Kriegsberichterstattung, die im ausschließlich aus der Perspektive der Muslimbrüder berichtenden Sender al-Jazeera ihr propagandistisches Spiegelbild findet.

Journalismus, der nicht Stellung bezieht, gilt als feindlich. Es kam zu Dutzenden Übergriffen auf Journalistinnen und Journalisten – ägyptische wurden von Islamisten attackiert, ausländische von Polizei und Unterstützern al-Sisis, der als »starker Mann Ägyptens« gefeiert wird. Die jungen Populisten der Kampagne »Tamarod« (Rebellion) hetzen gegen den »Terroristenfreund Obama« und fordern eine Kündigung des Friedensvertrags mit Israel  – die irrationale Hysterie kennt keine Widersprüche. Al-Baradei, aufgrund des Blutvergießens bei der Räumung zurückgetreten, hat Ägypten verlassen. Er war als »feiger Landesverräter« angegriffen worden. Der Oppositionspolitiker Amr Hamzawy hat angesichts der Militarisierung auch des ägyptischen Liberalismus seinen Rückzug aus der Politik angekündigt.
Diese Ereignisse sind eine Zäsur in der jüngeren Geschichte Ägyptens und des Nahen Ostens, der Geschichte des »arabischen Frühlings«. Die deutschen Medien schaffen es zumeist weder, das Geschehen zu kontextualisieren, noch, diese Zäsur zu erfassen. Doch um zu begreifen, was in Ägypten geschieht, muss man zum einen die jüngere Geschichte und zum anderen die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Blick nehmen.
Die Muslimbrüder waren mit dem Militär verbündet und entschieden sich für die autoritäre Herrschaft. Nach dem Sturz Mubaraks errang die Organisation erst die absolute Mehrheit im Par­lament, dann die Präsidentschaft. Sie brach mehrfach ihr Wort und marginalisierte gemeinsam mit dem Sicherheitsapparat die Opposition. Als die Polizei oppositionelle Demonstrierende verfolgte, folterte und tötete und es zu Massakern kam, dankten die Muslimbrüder den Sicherheitskräften für deren »Einsatz für Ordnung und Sicherheit« gegen »Kriminelle« und »Schläger«.
Präsident Mohammed Mursi erklärte, die Blockade von Straßen sei ein schweres Verbrechen, gegen das mit Härte vorgegangen werden müsse – diese Argumentation wendete das Innenministerium nun gegen diejenigen, die für Mursis Wiedereinsetzung demonstrierten. Als es schließlich zum »Verfassungsputsch« kam und die Muslimbrüder durch die vom Präsidenten angeordnete Entmachtung der Judikative eine islamistisch geprägte, autoritäre, Bürger-, Minderheiten- und Arbeiterrechte einschränkende Verfassung durchsetzten, hatten sie schließlich in den Augen der revolutionären und liberalen Opposition jegliche Legitimität verspielt. Da sich zudem die soziale Lage weiter Bevölkerungsteile nicht verbesserte, Versorgungsprobleme anhielten und in der staatlichen Verwaltung inkompetente Mubarak-Loyalisten durch inkompetente Muslimbrüder ersetzt wurden, wandten sich auch die unpolitischen Teile der Bevölkerung gegen die Regierung.

Das ist die Grundlage der gegenwärtigen blutigen Misere. Bestätigt wird sie unter anderem in den Ergebnissen einer repräsentativen Erhebung von Zogby. Demnach lässt sich die ägyptische Bevölkerung grob in drei Gruppen aufteilen. Die kleinste davon bilden diejenigen, die sich durch die Muslimbrüder oder salafistische Parteien repräsentiert sehen, die mittlere diejenigen, die sich durch säkulare liberale und revolutionäre Gruppen vertreten sehen, während die größte Gruppe sich keiner dieser politischen Strömungen zugehörig fühlt. Während über 90 Prozent der Islamisten Anfang des Jahres der Meinung waren, es gehe ihnen besser als vor fünf Jahren, meinten mehr als 80 Prozent der Oppositionellen und Unpolitischen, es gehe ihnen schlechter. Gefragt, ob sie in Bezug auf den »arabischen Frühling« heute noch hoffnungsvoll seien, bejahten über 90 Prozent der Islamisten, doch nur etwa 15 Prozent der Revolutionäre und Unpolitischen. Über 90 Prozent der Islamisten äußerten Vertrauen in Präsidentschaft und Muslimbruderschaft – doch mehr als 98 Prozent in den anderen beiden Gruppen, also über 70 Prozent der ägyptischen Bevölkerung, misstrauten dieser Organisation.
Diese Polarisierung ist der Hintergrund der Massenproteste im Juni, des Sturzes Mursis und der offenen Militarisierung der Politik in den vergangenen Wochen. Beide Seiten beschimpfen ihre Gegner als »Ausländer« oder »Zionisten«, die Entmenschlichung der Anderen und die Rechtfertigung der eigenen Gewalt rekurriert auf rassistische und antisemitische Denkformen und Verschwörungstheorien – auf »rationalisierte Paranoia mit psychosozialen Funktionen, die eine Reaktion autoritätsgebundener Subjekte auf die politischen, ökonomischen wie sozialen Umbrüche und Abhängigkeitsverhältnisse der modernen Gesellschaft darstellt« (Lars Rensmann).
Die konformistische Rebellion großer Teile der Bevölkerung und die Dominanz autoritärer Charakterstrukturen ist vor dem Hintergrund jahrzehntelanger autoritärer Herrschaft in einer durch neoliberale Reformen zusätzlich zerrütteten Weltmarktperipherie zu verstehen, die von Massenarmut, Verteilungskämpfen und Gewalt­sozialisation gekennzeichnet ist. Daher kann die Prognose für Ägypten nur negativ sein. Während die Übergangsregierung zerbricht, sind kritische Oppositionelle marginalisiert oder ziehen sich zurück. Chauvinismus und »tiefer Staat« – Sicherheitsapparat und altes Establishment – triumphieren unter dem starken Mann al-Sisi. Viele revolutionäre Aktivisten sind daher verzweifelt: »Auch wenn die Idee noch in unseren Köpfen ist, die Revolution für Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit in Ägypten ist vorerst tot.«