Eine Graphic Novel über den argentinischen Sänger Carlos Gardel

Das große Schmachten

Der Tangosänger und -komponist Carlos Gardel ist in Argentinien ein Nationalheld. Eine Graphic Novel widmet sich seiner Kunst und seinen Geheimnissen.

Der Autor Carlos Sampayo und der Zeichner José Muñoz sind ein eingespieltes Team. Seit 40 Jahren machen die beiden Argentinier gemeinsam Comics. Ihre Hardboiled-Krimis um den New Yorker Detektiv Alack Sinner etablierten einen eigenen Zeichenstil und gelten als einer der zentralen Einflüsse für Frank Millers »Sin City«. Keine schlechte Referenz. Ihr jüngster, nun auch auf Deutsch erschienener Comic widmet sich dem Leben und der Bedeutung des argentinischen Tangosängers und -komponisten Carlos Gardel, der »Stimme Argentiniens«, wie er genannt wird.
Das zentrale Motiv ihrer Geschichte, schreiben Sampayo und Muñoz im Vorwort der Graphic Novel, sei die Identität, genauer die argentinische. Das hat seinen Grund: Zum einen ist das Verhältnis der beiden Autoren zu ihrem Land ein gespaltenes. Beide haben Argentinien in den Siebzigern auf der Flucht vor Peronismus und Diktatur in Richtung Europa verlassen und leben heute in Mailand respektive Paris. Dennoch beschäftigen sie sich weiterhin mit dem Land, seiner Geschichte und seiner Kultur. 1984 veröffentlichte Muñoz einen Bildband, der sich dem Tango und der Milonga, den beiden großen Musikgenres in Argentinien, widmet. Und Sampayo siedelt die Handlung seiner Romane immer wieder in Argentinien an.
Es gibt nur wenige Personen in der Geschichte Argentiniens, die eine so große Bedeutung für das Selbstverständnis der argentinischen Bevölkerung haben wie Carlos Gardel. Allerdings gibt es in dessen Biographie so viele Fragezeichen, wie Möwen über dem Hafen von La Boca kreisen. Das beginnt bereits mit seiner Geburt. Es darf als sicher gelten, dass er an einem 11. Dezember geboren wurde. Seine Geburtsurkunde besagt, er sei am 11. Dezember 1890 in Toulouse geboren worden; in seinem Personalausweis ist es das Jahr 1887, seine Geburtsstadt wird hier mit Tacuarembó/Uruguay angegeben. Auch um seinen Tod ranken sich Legenden. Offiziell ist der Musiker im Juni 1935 bei einem Flugzeugunglück im kolumbianischen Medellín umgekommen, doch es gibt etliche Fans, die daran zweifeln.
Es ist bemerkenswert, dass jemand wie Gardel, der für das Selbstverständnis Argentiniens so wichtig ist wie Evita Peron und Maradona, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in Argentinien geboren worden ist. Argentinien war eines der wichtigsten Ziele der damaligen europäischen Emigration. Das Land, das damals eines der wohlhabendsten und wirtschaftlich erfolgreichsten der Welt war, hatte einen nahezu unstillbaren Bedarf an Arbeitskräften, und so verdoppelte sich die Bevölkerung zwischen 1885 und 1914 von vier auf rund acht Millionen. Immigration war und ist also ein Teil der argentinischen Identität.
Der junge Carlos Gardel wuchs in Buenos Aires auf, im innenstädtischen Bezirk Balvanera, in der Gegend um den Großmarkt Abasto. Heute steht dort ein Denkmal, das an ihn erinnert. Damals war es ein verrufenes Viertel, bekannt für seine Bordelle, seine Tanzlokale und seine Gewalt. Viele Einwanderer lebten dort, vor allem Spanier, Italiener und Juden; viele von ihnen waren dem Anarchismus oder dem Kommunismus zugetan. Hier beginnt die Geschichte Gardels und die des Tango. Wie so viele Musikstile, die im Laufe der letzten 150 Jahre erfolgreich wurden, war auch der Tango in seinen Anfängen eine Musik der Subalternen, die von den höheren gesellschaftlichen Schichten lange mit Verachtung gestraft wurde.
Gardel gilt als eine der zentralen Figuren in der Geschichte des Tango – nicht zuletzt weil er als einer der ersten die Instrumentalmusik Tango mit Gesang begleitete. Er wurde die Stimme des Tango, eine Ikone. Auf dem Gipfel seines Erfolges, kurz vor seinem Tod, lag ihm die Welt zu Füßen. Er sang auf den Bühnen von Paris und drehte Filme in den USA. Er war es, der Argentinien auf der Weltkarte des Showbusiness einzeichnete und das Land mit Stolz erfüllte.
Sampayo und Muñoz geht es nicht allein um die Person Gardel und ihre Wahrnehmung in der argentinischen Öffentlichkeit, auch wenn sie eine Menge Platz der alten Frage einräumen, ob Gardel, der zwar verlobt, aber nie verheiratet war und nach eigenem Bekennen keine Frau außer seiner Mutter liebte, nun schwul war oder nicht. Dass diese Frage die Menschen auch mehr als 70 Jahre nach seinem Tod noch bewegt, kann als Indiz dafür gelten, dass die Argentinier sich nur schlecht damit abfinden können, dass »ihr« Gardel noch immer ein Mysterium ist, ein Mythos, dessen Biographie gespickt ist mit Spekulationen, Gerüchten und Halbwahrheiten. Noch 2005 widmete sich die argentinische Tageszeitung Clarín lang und breit der Frage nach der sexuellen Identität des Musikers. Der Autor des Artikels, der Schriftsteller Leopoldo Brizuela, der selbst offen schwul lebt, kommt darin zu dem Schluss, dass es zumindest keine Belege für die Homosexualität Gardels gebe. Er wirft aber auch die viel wichtigere Frage auf, warum das denn eigentlich so viele Menschen interessiert.
Für viele konservative Argentinier wäre es sicher schwer zu ertragen, wenn der große Gardel nach ihren Maßstäben »kein richtiger Mann« gewesen wäre, doch wahrscheinlich würden sie sich dann schlicht damit herausreden, dass er ja ohnehin kein »echter Argentinier« war, da er ja im Ausland geboren worden ist. Gardel ist eine vieldeutige Figur. Sampayo und Muñoz lassen in der Rahmenhandlung ihres Buches einen linken Soziologen und einen rechten »Gardel-Experten« in einer Talkrunde im Fernsehen über den Musiker wie auch über die die Identität Argentiniens diskutieren. Sie sind dabei offenbar bemüht, durch ständige Perspektivwechsel ein vieldeutiges Bild von Gardel zu zeichnen. Im Vorwort schreiben sie, der Gardel ihres Comicsei eine fiktive Figur. Der monochrome Zeichenstil von Muñoz mit seiner harschen, groben Schwarzweiß-Ästhetik steht dabei in krassem Gegensatz zu der Erzählung, die klare Aussagen vermeidet und sich eher in dem Grau dazwischen bewegt.
»Aber Geschichte wird nicht erzählt, sondern geschrieben«, lassen Sampayo und Muñoz an einer Stelle einen Vertrauten Gardels sagen. Vielleicht ist genau das der Grund, weshalb sie selbst es vorziehen, sich im Ungefähren zu bewegen. Es ist offensichtlich, dass ihr Werk eine Hommage an Gardel sein soll. Eine solche Hommage jedoch darf nicht zu konkret, zu explizit sein, weil sie sonst Gefahr läuft, den Mythos Gardel zu beschädigen, der sich neben seiner wunderbaren Stimme auch aus seiner aufreizenden Undurchschaubarkeit speist.
So interessant ihr Ansatz auch sein mag, über Gardel und die argentinische Identität zugleich zu schreiben, so stellt sich doch die Frage, ob die Umsetzung gelungen ist. Ihre Erzählung ist so verworren, dass deren Sinn und Zweck bis zum Ende nicht wirklich klar wird.

Carlos Sampayo und José Muñoz: Carlos Gardel.
Die Stimme Argentiniens. Aus dem Spanischen von Rike Bolte. Reprodukt-Verlag, Berlin 2013, 128 Seiten, 20 Euro