Der brasilianische Geheimdienst. 4. Teil einer Serie

Das Monster und sein Schnüffelhund

Der brasilianische Geheimdienst SNI war Vorbild und Helfer beim Aufbau vieler repressiver Überwachungsdienste Lateinamerikas. Ob sich seine Nachfolgeorganisationen tatsächlich von der alten Sicherheitsdoktrin gelöst haben, ist fraglich. Teil 4 einer Serie über Geheimdienste.

Auf dem Höhepunkt des »arabische Frühlings« fragte man sich in Lateinamerika, ob auch dort die Regierenden von den Ereignissen auf der Straße überrascht werden könnten. Damals durfte der Sicherheitsexperte José Manuel Ugarte von der Universidad de Buenos Aires unwidersprochen festhalten: »Wenn die brasilianischen Geheimdienste nicht in der Lage wären, politische Tendenzen wie im Mittleren Osten zu antizipieren, dann erst recht kein anderer Geheimdienst aus Lateinamerika.«
Doch im Juni dieses Jahres gingen dann in Brasilien die Menschen lieber demonstrieren als in die Fußballstadien. Das vollständige Versagen der staatlichen Aufklärungsdienste wurde nicht nur ein Gemeinplatz der konservativen Presse in Brasilien, sondern löste auch einen internen Konflikt zwischen der Regierung, dem Sicherheitskabinett (GSI) und dem Inlandsgeheimdienst (Abin) aus. Letzterer kündigte nach der öffentlichen Schelte den Einsatz des hausgemachten Überwachungsprogramms »Mosaico« an, das fortan in Echtzeit permanent 700 Schlüsselwörter aus sozialen Netzwerken und Smartphone-Nachrichten filtern soll. Bei brasilianischen Twitterusern sorgte die Ankündigung für Spott. »Niemals ist Abin in der Lage, ein eigenes Online-Überwachungssystem zu entwickeln«, hieß es. Andere unkten, nun seien wohl »OnlineFestnahmen« zu erwarten. »Immer, wenn vom brasilianischen Geheimdienst die Rede ist, geht es entweder um einen Witz oder um Folter«, hieß es in einem anderem Tweet pointiert.

Die Geschichte des Geheimdiensts in Brasilien ist eng mit der militärisch-zivilen Diktatur von 1964 bis 1984 verbunden. Auch wenn geheimdienstliche Tätigkeiten innerhalb des nationalen Verteidigungsrates bereits seit 1927 organisiert wurden, wurden sie erst spät institutionalisiert. Zunächst Ende der fünfziger Jahre, als künftige brasilianische Agenten in den USA in »Techniken der Kommunistenjagd« geschult wurden, wie Lucas Figueiredo im »Geheimbuch des Militärs« dokumentiert. Der damals geschaffene Aufklärungsdienst wurde nach dem Putsch 1964 von den Mitarbeitern des Instituts für Forschung und soziale Studien (IPES) übernommen, einem Think Tank, der sich unter Führung des Militärberaters Golbery do Couto e Silva bereits vorher aktiv an der Destabilisierung der linken Regierung João Goularts (1961 – 1963) beteiligt hatte.
Die Nationaler Informationsdienst (SNI) getaufte Organisation unterschied sich nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers Alfred Stepan von der Columbia University in ihrem Einfluss maßgeblich von anderen Geheimdiensten jener Zeit, da der SNI die Grenzen seines politischen Handelns weitgehend selbst bestimmte und sogar sein eigenes Budget festlegte. Der SNI entwickelte sich schnell zur Kaderschmiede, zwei seiner Leiter, Emílio Garrastazu Médici und João Figueiredo, wurden später Präsidenten. Auch in den Führungsgremien aller weiteren Regierungsinstitutionen und staatlicher Unternehmen sorgten Funktionäre für die Durchsetzung der Nationalen Sicherheitsdoktrin. Viele der 50 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren direkt an der Verfolgung von Regimegegnern beteiligt. Die berüchtigten internen Operationszentren des Militärs (DOI-CODI), in denen verhört und gefoltert wurde, unterstanden dem SNI.
In Lateinamerika war der SNI zugleich Pate für die Reform oder Neugründung repressiver Geheimdienste, beispielsweise der Geheimpolizei Dina in Chile unter Manuel Contreras. Die Sichtung von Archivmaterial in jüngerer Zeit belegt die herausragende Rolle des SNI bei der »Operation Condor«, einer multinationalen Kampagne gegen linke Oppositionelle, und bei der Ausbildung von Agenten anderer lateinamerikanischer Diktaturen im hauseigenen Schulungszentrum (ESNI). Zu dessen Absolventen gehören mutmaßliche Beteiligte der politisch motivierten Giftmorde an Präsident João Goulart in Brasilien und Eduardo Frei Montalva in Chile und am chilenischen Dichter Pablo Neruda.
Dass solche Untersuchungen derzeit Forensiker und Gerichte beschäftigen, ist auch der von Präsidentin Dilma Rousseff einberufenen Wahrheitskommission und einem in ihrer Amtszeit verabschiedeten Gesetz über den Zugang zu Informationen zu verdanken. Denn nach der Auflösung des SNI 1990 und der Gründung der Nachfolgeorganisation Abin forderte selbst ein Senator der intensiv bespitzelten Arbeiterpartei (PT), Cristovam Buarque, den »Komplex des SNI« zu überwinden und die Geschichte ruhen zu lassen. Die erneute Debatte über die Vergangenheit der Institution wirft dagegen aktuelle Fragen auf. Wie könne es sein, dass Abin im Gegensatz zu den Geheimdiensten anderer Rechtsstaaten auch im Inland »im Leben brasilianischer Bürger herumschnüffelt«, fragt der Journalist Figueiredo und konstatiert: »Der Fokus auf den inneren Feind hat sich bis heute wenig geändert.«
Auf einem Treffen der Geheimdienste der Länder Südamerikas 2003 vereinbarte der gastgebende Abin mit seinen Partnern in der Abschluss­erklärung, soziale Bewegungen zu überwachen, die die »Armutsfrage« behandeln, da diese »Gefahren und Herausforderungen gegenüber den strategischen Interessen der Länder Südamerikas repräsentieren«. Solche Absichten brachten kritische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor zwei Jahren dazu, eine Audienz mit einem Regierungsberater einzuberufen, in dem sie General José Elito Siqueira, dem Leiter des Sicherheitskabinetts, das in der Informationskette zwischen Regierung und Abin steht, vorwarfen, »weiterhin dem Denken der Diktatur verhaftet« zu sein. Ihre Forderung, Abin nicht länger militärischen und polizeilichen Interessen unterzuordnen, blieb ungehört.
Vor diesem Hintergrund erscheint die im Juni vom GSI gemachte Versicherung, die Arbeit des Geheimdienstes sei weder »politisch konnotiert«, noch beinhalte sie die Überwachung von »Gewerkschaftsbewegungen oder Gewerkschaftern«, als Lippenbekenntnis. Vorausgegangen war der Erklärung übrigens eine Meldung, dass vier als Hafenarbeiter verkleidete Agenten von Abin von der Militärpolizei im Bundesstaat Pernambuco gefasst worden seien. Sie hatten zunächst zugegeben, Informationen über den Gouverneur Eduardo Campos zu sammeln, dessen Sozialistische Partei Brasiliens (PSB) derzeit den Austritt aus der Regierungskoalition erwägt. Das GSI dementierte dies. Nachdem zwei mutmaßliche Mitarbeiter des Abin als agents provocateurs im Juli auf einer Demonstration in Rio de Janeiro verhaftet wurden, stand der Geheimdienst erneut unter Erklärungszwang.
Das Überwachungsprogramm Mosaico zumindest ist kein Schnellschuss, sondern Teil einer längerfristigen Strategie in Zeiten der »elektronischen Kriegsführung«. Bereits 2011 berichtete das brasilianische Fachblatt Teletime von einer interministeriellen Arbeitsgruppe von Abin, GSI und Justizministerium, die sich mit dem Online-Schutz der Nationalen Sicherheit beschäftigt. Bereits damals war von der notwendigen Überwachung von Facebook und anderen sozialen Netzwerken die Rede.
Interessant ist deshalb, wie die Zeitschrift Carta Capital unlängst schrieb, nicht immer nur die Frage, was Abin und GSI wissen, sondern vor allem, ob und unter welchen Umständen sie dieses Wissen auch weitergeben. Der Gründer des SNI, Couto e Silva, zeigte sich rückblickend stets bestürzt darüber, »ein Monster geschaffen« zu haben.