Über die Lebensgeschichte von Joseph Beuys

Der Pantoffelheld

Hans Peter Riegel hat die Lebensgeschichte von Joseph Beuys geschrieben und dabei zahlreiche Ungereimtheiten aufgedeckt. Eine Sensation ist diese Biographie aber nicht.

Im Alter von 61 Jahren versuchte sich der weltberühmte Aktionskünstler als Popsänger. »Sonne statt Reagan« heißt das Stück, das man sich auf Youtube anhören kann. Ungelenk schwingt Joseph Beuys das Mikrophon und singt: »Aus dem Land, das sich selbst zerstört/und uns den ›way of life‹ diktiert,/da kommt Reagan und bringt Waffen und Tod/und hört er Frieden, sieht er rot.//Er sagt als Präsident von USA/Atomkrieg? Ja, bitte dort und da./Ob Polen, Mittler Osten, Nicaragua,/er will den Endsieg, das ist doch klar.//Doch wir wollen Sonne statt Reagan,/ohne Rüstung leben!/Ob West, ob Ost,/auf Raketen muss Rost!« Beuys wurde von Musikern der Kölner Gruppe BAP und von der Sängerin Ina Deter begleitet. Der Sänger von BAP, Wolfgang Niedecken, der an diesem Machwerk nicht beteiligt war, spricht noch heute von einem »grottenschlechten Text«, den im übrigen ein Werbetexter verfasst habe.
Der Text sagt jedoch viel über Beuys’ Weltsicht aus. Beuys, der ehemalige Wehrmachtsoldat, der sich 1941 freiwillig zur Luftwaffe gemeldet hatte, unterstellt dem »Präsidenten der USA«, dass er Polen mit Atombomben bombardieren und wie Hitler den »Endsieg« wolle. Die Sonne, das Emblem der damals noch jungen Grünen, symbolisiert die Gegnerschaft zu Reagan beziehungsweise zum Regen. Der Feind, der »uns den ›way of life‹ diktiert«, sind die USA.
Das Lied, das, laut Niedecken, im Auftrag der Grünen eingesungen wurde, für die sich das Parteigründungsmitglied Beuys als Kandidat aufstellen ließ, repräsentiert nicht nur die politische Gesinnung des Künstlers, sondern die einer ganzen Generation.
Beuys war als bekennender Anthroposoph und ehemaliger Wehrmachtsoldat einerseits durchaus dem Deutschnationalen und dem Militarismus zugeneigt, andererseits unterstützte er linke internationalisitische Friedensgruppen und Ökopaxe. Mit dieser widersprüchlichen Haltung stand er nicht allein. Viele Gründungsmitglieder der Grünen pflegten eine ähnlich diffuse Weltsicht. Die Verteufelung der USA und die Ablehnung der Bundesrepublik einte das linke Milieu und verdeckte politische Differenzen. In welcher ideologischen Tradition diese Haltung stand, wurde lange Zeit nicht gefragt.
Im Fall Beuys’ werden diese Kontinuitäten aufgedeckt und der Öffentlichkeit präsentiert: Vor einigen Wochen berichtete Ulrike Knöfel im Spiegel über einen jetzt aufgetauchten Brief aus dem Jahr 1944, den Beuys den Eltern des tödlich verunglückten Flugzeugführers Hans Laurinck geschrieben hatte. Er schildert darin den Absturz mit einer Stuka-Maschine auf der Krim, den er auf dem Nebensitz überlebt hat. Beuys, von dem Knöfel behauptet, er gelte als »moralische Instanz«, bedient sich des damals üblichen Stils der Soldatenbriefe an Hinterbliebene. Dabei verharmlost er den Krieg und wertet seine eigene Rolle auf. Den Absturz beschreibt er geradezu pathetisch: »Das nächste, was mir wieder klar bewusst wurde, war, dass Russ. Arbeiter u. Frauen (auf unserem Gebiet), die mich wohl aus den Trümmern geborgen hatten, sich mit mir abgaben, das Blut aus dem Gesicht spülten und mir auf eine fragende ­Bewegung hin zu verstehen gaben, dass Hanne, mein lieber Hanne, seinen Flug in die Ewigkeit bereits getan hatte.«
Der Spiegel präsentiert diesen Brief als eine Sensation und glaubt Beuys dennoch die Legende von den mildtätigen »Russen«. Dabei hätte man wissen können, dass es sich um eine Falschdarstellung handelt. Erst kürzlich ist Hans Peter Riegels umfangreiche Beuys-Biographie erschienen, auf die sich die Spiegel-Autorin auch explizit bezieht. Riegel, Fotograf, Autor und langjähriger Privatsekretär von Jörg Immendorff, zeigt nicht nur auf, dass Beuys niemals, wie er behauptet hatte, von Tataren aufgefunden und gepflegt worden ist, sondern bereits am Absturztag von der Wehrmacht in ein Feldlazarett verbracht wurde.
Die »Tatarenlegende«, die in autorisierten Biographien und Interviews von Beuys verbreitet wurde, ist immer wieder angezweifelt worden. Er sei, behauptete Beuys 1976, mehrere Tage von Tataren gepflegt worden, die ihn nach seinem Absturz gefunden und in ihren Zelten versorgt hätten: »Sie rieben meinen Körper mit Fett ein, damit die Wärme zurückkehrt, und wickelten mich mit Filz ein, weil Filz die Wärme hält.« Auch als später erste Zweifel an dieser Geschichte auftauchten, beharrte Beuys auf seiner Darstellung. Selbst seine Ehefrau hielt sie für unglaubwürdig und sprach von einer »Fieberphantasie«. Eine Recherche des Künstlers Jörg Herold, über die die FAZ im August 2000 berichtete, hat ergeben, dass Beuys kurz nach dem Absturz von einem Suchkommando geborgen wurde.
Die »Tatarenlegende« gilt bei Beuys’ Anhängern als Urszene seines künstlerischen Schaffens. Riegel betont, dass Beuys mit seinem bevorzugten Material Fett auf ganz banale Weise in Berührung kam. Er sei in unmittelbarer Nähe einer Margarinefabrik aufgewachsen. Gleich nebenan habe es auch noch eine Pantoffelfabrik gegeben, wo Beuys vermutlich den Werkstoff Filz kennenlernte. Die beiden Materialien waren dem Künstler also bereits seit seiner Kindheit vertraut. Die schnöde Wahrheit allerdings war nicht dazu angetan, die Aura des Künstlers zu stärken.
Seine Aura war Beuys, wie Riegel geradezu besessen nachweist, besonders wichtig. So ­löste sich Beuys schnell vom Einfluss seines Lehrers Ewald Mataré, der sich später nur ­abfällig über seinen ehemals besten Schüler äußern sollte. Auch die Fluxus-Bewegung, die aus den USA nach Deutschland schwappte, macht sich Beuys zunutze, obschon er mit den Intentionen der Fluxus-Künstler kaum übereinstimmte. Indem er sich in ihre Performances geradezu hineindrängte, bekam der bislang wenig beachtete Professor an der Düsseldorfer Kunsthochschule immense Aufmerksamkeit.
Seine Arbeiten mit den Materialien Filz, Fett und Hasenkadavern lassen sich, wie Riegel ausführlich erklärt, vor allem mit Hilfe der Theorien Rudolf Steiners deuten. Auch seine Idee einer internationalen Freien Schule, die auf die Gründung seiner völlig unbedeutenden »Deutschen Studentenpartei« folgte und Beuys 1972 endgültig seine Professur kostete, war von den Lehren Steiners inspiriert. Er scheute sich nicht, bei seinen Kampagnen mit ehe­maligen oder aktiv rechtsradikalen Politikern zusammenzuarbeiten. Allerdings kann auch Riegel nicht nachweisen, dass der nach Einschätzung seines Freundes Klaus Staeck »naive« Beuys von der rechten Gesinnung seiner Helfer überhaupt Kenntnis hatte. Dass Beuys ausgerechnet Tataren zu seinen Idolen erkor, lässt vielleicht eine völkische, keinesfalls aber eine ­nazistische Gesinnung erkennen.
Dass Beuys seine Biographie gerade so verklärte, wie es ihm gefiel, ist das Hauptargument Riegels gegen Beuys. So behauptete Beuys wiederholt, er sei in Kleve, wo er aufgewachsen ist, geboren, und nicht etwa im nahegelegenen Krefeld, wo er tatsächlich 1921 zur Welt kam. Auch das für die Professur notwendige Abitur hat sich Beuys höchstwahrscheinlich erlogen, er war auch nie, wie behauptet, Pilot, sondern Bordfunker, seine Werke datierte er, wie es ihm beliebte, und seine anthroposophische Gesinnung versuchte er lange Zeit zu verschleiern, erst spät bezog er sich öffentlich immer wieder explizit auf Steiner. Von seinen sporadischen Kontakten zu rechten Politikern ließ er sich ebenso wenig abbringen, wie er, der als Antimarxist einzuschätzen ist, aufhörte, die maoistische Kunstzelle des jungen Jörg Immendorff zu unterstützen. Beuys war, wie Riegel zeigt, ein Opportunist – zumindest, wenn es seiner Arbeit und der Aufmerksamkeit für sein Werk diente. Dies alles liest sich interessant, doch erklärt es nicht, wie und warum seine Kunst weltweit Erfolg hatte. Riegel selbst – wie auch viele andere Beuys-Gegner – gibt immer wieder zu, welch ein außergewöhnlich guter Zeichner Beuys war. Selbst jene, die mit der kulturalistischen Esoterik Steiners nichts anfangen können, müssen immer wieder einräumen, wie heftig einzelne Beuys-Kunstwerke und Installationen auf sie wirken. Seine Studentinnen und Studenten – und er nahm jahrelang ausnahmslos jeden in seine Kunstklasse auf, der sich beworben hatte – schwärmen von ihm und seiner Bereitschaft, sich Zeit für die Studierenden zu nehmen.
Gibt es also zwei Seiten der Figur Joseph Beuys? Oder einfach nichts Neues? Die »Enthüllungen« sind längst nicht so sensationell, wie es die Verlagswerbung suggeriert. Nicht nur, dass vieles schon lange bekannt war. Fragwürdig ist auch der Ansatz, eine »Neubewertung« des Künstlers und seines Werks einzufordern, die sich lediglich auf neue biographische Details stützt. Ob Beuys in Krefeld oder Kleve das Licht der Welt erblickte, ist für die Beurteilung seines Werks wohl ziemlich belangslos.

Hans Peter Riegel: Beuys: Die Biographie. Aufbau-Verlag, Berlin 2013, 525 Seiten, 28 Euro