Die SPD und der NSA-Skandal

Die Lizenz zum Erröten

Im NSA-Skandal hat die SPD auf nationalistische Stimmungsmache gesetzt. Doch statt die Gunst der Wähler zu erobern, hat sich die Partei blamiert.

Wer eine peinliche Niederlage hinnehmen musste und bis zur Lächerlichkeit blamiert ist, der freut sich über möglichst viel Radau, der die Welt das Vorangegangene zumindest vorübergehend vergessen lässt. Gut dran ist, wer so etwas aus eigener Kraft bewirken kann – wie etwa die SPD. Immerhin konnte sie am vergangenen Wochenende zu ihrem »Deutschlandfest« am Brandenburger Tor in Berlin nach eigenen Angaben 300 000 Parteitrottel aus dem ganzen Land mobilisieren. Gutes Wetter, wohlfeile Bierpreise und die Darbietungen von Sternen deutsch-sozialdemokratischer Leitkultur wie Nena und Roland Kaiser sorgten ebenso für Entzücken wie die rhetorischen Leistungen der anwesenden »Spitzenpolitiker«.
Deren erster ist Peer Steinbrück, und der war mächtig stolz: auf das Land und auf die Partei. Diese begehe in diesem Jahr ihren 150. Geburtstag und habe den Achtstundentag und das Frauenwahlrecht »durchgesetzt«, behauptete der Kanzlerkandidat. Diesen Errungenschaften werde die SPD demnächst einen allgemeinen Mindestlohn von 8,50 Euro und ein »Bündnis der Starken mit den Schwachen« hinzufügen. Außerdem werde man, und hier wurde die Stimme des Kanzlerkandidaten eisern, »mit aller Härte gegen Steuerbetrüger« vorgehen.

Oh, wie wird man sich da im Berliner Grunewald gegruselt haben! Wahrscheinlich so, wie man im Regierungsviertel in der christdemokratischen Kamarilla um Bundeskanzlerin Angela Merkel gefeixt haben wird. Gefeixt nicht nur wegen der Ankündigung Steinbrücks, nach den Wahlen das Kanzleramt zu übernehmen, und nicht nur in der Gewissheit, die Vorhersagen der Demoskopen auf der eigenen Seite zu haben, sondern wohl auch in Erinnerung an das Fettnäpfchen, in das der forsche Sozialdemokrat zuletzt getappt war. Steinbrück hatte versucht, die Verunsicherung nach den Enthüllungen Edward Snowdens über die Methoden zur weltweiten Überwachung des US-Geheimdienstes NSA nationalistisch auszubeuten (Jungle World 30/13) – eine Vorgehensweise, die man in der SPD sehr gut beherrscht. Der Regierungskoalition hatte er »Eilfertigkeit« und »Gehorsam« gegenüber der »US-Administration« vorgeworfen. Steinbrücks Anklage war seinerzeit prinzipiell: »Frau Merkel tut, was sie immer tut, wenn es kritisch wird: Sie geht in Deckung und wartet erst einmal ab. Es scheint, als werde der millionenfache Bruch der Bürgerrechte billigend in Kauf genommen.«
Zugleich hatte Steinbrück die deutsche Sprache um eine Metapher bereichert. »Absaugen« nannte er das massenweise digitale Kopieren von Telefonaten und E-Mails durch die NSA. Das Wort wurde in Alltagsgeschwätz und Publizistik schnell adaptiert. »Absaugen« erinnert leicht an das in der Jugendsprache gängige »Abziehen«, das die widerrechtliche und oft brutale Aneignung von iPhones, Markenkleidung und ähnlichem durch Stärkere bezeichnet. Das Saugen ist auch die Tätigkeit des populärmythologischen Vampirs, der sich auf diese Weise am Blut von arg- und schuldlosen Geschöpfen delektiert. Steinbrücks denunzierende Metapher vom »Absaugen« für das Agieren der Apparate eines ausländischen staatlichen Souveräns steht damit in der Reihe der Schmarotzermetaphern, wie sie jedes autoritäre Denken kennt. Mit der Denunziation des Parasiten werden Volksgemeinschaften als »Bündnis der Starken mit den Schwachen« gestiftet. Man verspricht den armen Schweinen zwar nur 8,50 Euro als Mindestlohn, doch wird ihr Frust lustvoll gemildert, wenn »mit aller Härte gegen Steuerbetrüger« vorgegangen wird.
Zunächst schien Steinbrücks Demagogie wirksam. Aus Snowdens Unterlagen ging hervor, dass zeitweise monatlich ungefähr 500 Millionen digitale Kommunikationsverbindungen von der NSA überwacht worden waren, eine Menge, die nur als Zahl, jedoch nicht konkret vorstellbar ist. Dann stellte sich auch noch heraus, dass sich hinter zwei Kürzeln in einem der Dokumente Abteilungen des deutschen Auslandsgeheimdiensts verbergen. Waren möglicherweise deutsche Dienststellen vom amerikanischen Vampir angesaugt und zum Absaugen eingesetzt worden? Der BND beteuerte eilends, es handle sich zwar um eine einheimische und eine afghanische BND-Abteilung, doch seien von deren Aktivitäten Deutsche – jedenfalls absichtlich – nie betroffen gewesen, sondern nur »Auslandsverkehre insbesondere in Krisengebieten«. Das half freilich wenig. »BND enttarnt sich als NSA-Spitzel«, titelte die Taz und andere schlossen sich sinngemäß an.

Eine Woche später war die vom BND verbreitete Version offiziell bestätigt. Der Leiter des Geheimdiensts, Gerhard Schindler, und der Kanzleramtsminister und »Geheimdienstkoordinator« Ronald Pofalla hatten unisono erklärt, der deutsche Auslandsgeheimdienst habe im Rahmen einer »partnerschaftlichen Vereinbarung« mit den USA »in Krisengebieten« digitale Kommunikation »abgeschöpft« und die Resultate an den geschätzten Partner weitergeleitet. »Deutsche Interessen« seien jedoch niemals tangiert worden. Und das sollte zunächst reichen. »Dass der BND nicht massenhaft Informationen über deutsche Staatsbürger an die NSA weitergeben hat, wie zunächst kolportiert wurde«, konstatierte die Süddeutsche Zeitung irgendwie erleichtert und resigniert zugleich, »ist wahrscheinlich. Alles andere wäre ­illegal gewesen.« Auch wenn immer noch völlig offen ist, was es allein mit der ungeheuren Anzahl von 500 Millionen monatlich überwachten »Verkehren« auf sich hatte – Deutsche schienen nicht oder kaum betroffen, Anlass zur Beunruhigung war nicht mehr vorhanden.
Und so stand Steinbrück mit seinem Absaug­syn­drom ziemlich komisch da und wollte sich bald nicht mehr zur Sache äußern. Auf dem »Deutschlandfest« war von der Angelegenheit keine Rede mehr. Ernsthafte Einwände, wie sie ausnahmsweise einmal von einem Vertreter der Grünen vorgetragen wurden, blieben randständig. Dem Tagesspiegel zufolge rechnete Hans-Christian Ströbele, Mitglied des ominösen Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestags, vor, dass »der BND dem Gremium für die vergangenen drei Jahre zwischen 2,9 und 37 Millionen überwachte Kommunikationsvorgänge seiner ›Strategischen Fernmeldeaufklärung‹ aufgezählt habe – wo die halbe Milliarde in einem einzigen Monat herkommen sollte, verstehe er nicht«.
Wenig randständig, aber durchaus peinlich war hingegen die Intervention der SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles im Bundestag. Offenbar noch völlig von der Angst vor dem Absaugen gepeinigt, rief sie aus: »Es muss jemanden geben, der das genehmigt hat, autorisiert hat. Wenn ja, wüsste ich gerne, wer das war.« Die Antwort erfolgte zwei Tage später durch den Regierungssprecher Georg Streiter: Es war der derzeitige SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier, der im April 2002 als Kanzleramtsminister ein entsprechendes Abkommen mit den USA ausgehandelt hatte. Dieser begehrte kurz darauf Einlass beim Parlamentarischen Kontrollgremium, um sich dort gegen »Lüge und Vertuschungen« zu wehren, die ihn »für die millionenfache Ausspähung von Deutschen« verantwortlich machten. Das von der Regierungskoalition dominierte Gremium verweigerte ihm jedoch den Zutritt. Seine Mitglieder aus Union und FDP dürften ähnlich gefeixt haben wie später angesichts der Tiraden Steinbrücks auf dem »Deutschlandfest«.

Und dennoch wird diese sozialdemokratische Peinlichkeit noch überboten. Die Bundesregierung hat für den Fall ihrer Wiederwahl eine Maßnahme angekündigt, die auf den ersten Blick wie ein schlechter Witz aus dem Milieu der Paar- und Beziehungstherapeuten anmutet: den Abschluss eines »No-Spy-Abkommens« mit den USA. Darin sollen beide Seiten einander garantieren, sich nicht auszuspionieren. Das bedeutet – jedenfalls wenn gerade kein Whistleblower zur Stelle ist: Wenn eine Seite der anderen eine Verletzung des Abkommens vorwürfe, könnte sie dies nur tun, weil sie bereits selbst gegen das Abkommen verstoßen hat. Auf diese Weise würden beide Seiten sich nach Herzenslust ausspionieren dürfen, dies aber niemals der jeweils anderen Seite zum Vorwurf machen können.