Die globalen Aufstände und die Paralyse der Kritik

Die Paralyse der Kritik

Die akademische Linke scheint sich in ihren wortgewaltigen Theorien einig zu sein: Vom »Arabischen Frühling« bis »Occupy Wall Street« und zurück versprechen die internationalen Proteste angeblich eine Wiederkehr der Idee des Kommunismus. Wäre dem so, wäre es um diesen nicht gut bestellt.

Ein Rückblick: Das Buch wurde zum Bestseller, begleitete die Neue Linke der Sechziger und Siebziger, verschwand dann aber in den Achtzigern, ist seit den Neunzigern nur noch antiquarisch zu haben – und zählt heute wohl zu den vergessenen, also unbekannten Theoriewerken einer emanzipatorischen Opposition: Herbert Marcuses »Der eindimensionale Mensch« erschien 1964 in den Vereinigten Staaten am Vorabend der internationalen Protestbewegungen; die deutsche Ausgabe folgte 1967, rechtzeitig zum Auftakt der Apo.
Marcuses zentrale These seiner, so der Untertitel, »Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft«: Die Totalität moderner Gesellschaften verdichtet sich unter Bedingungen eines korporativen Kapitalismus »totalitär«, aber nicht im Sinne eines Terrorregimes, sondern als System einer technologischen Rationalität, das mit dem Zugewinn der Freiheiten auch die Herrschaft ausweitet. Dieselben Kräfte, die eine Befreiung und Befriedung des menschlichen Daseins bedeuten können, verstärken zugleich die Mechanismen der Anpassung und Integration. Zwar sind demnach »Bourgeoisie und Proletariat (…) in der kapitalistischen Welt (…) noch immer die grundlegenden Klassen. Die kapitalistische Entwicklung hat jedoch die Struktur und Funktion dieser beiden Klassen derart verändert, dass sie nicht mehr die Träger historischer Umgestaltung zu sein scheinen.« Ohnehin gibt es an einer historischen Umgestaltung kein soziales oder politisches Interesse mehr: »Die politischen Bedürfnisse der Gesellschaft werden zu industriellen Bedürfnissen und Wünschen.« Befriedigt werden sie durch eine unablässige Warenproduktion, die permanent technisch verbessert wird und damit scheinbar auch das Leben verbessert. Die Menschen identifizieren sich in einer falschen Unmittelbarkeit mit den Verhältnissen. In den sechziger Jahren nennt Marcuse das »die Paralyse der Kritik: eine Gesellschaft ohne Opposition«.
Protest als sozialer Protest vermochte sich nur gegen die totale Gesellschaft und ihre totalitäre Struktur zu artikulieren. Marcuse beschrieb das als die Notwendigkeit einer »Großen Weigerung«. Fehlt der Kritik des Ganzen eben das Bewusstsein vom Ganzen, wird sie unweigerlich ins System zurückgeworfen, integriert oder eliminiert. Kritische Theorie und Praxis der Gesellschaft erlangt ihre Radikalität in der Konsequenz, die bestehenden sozialen Verhältnisse in ihrer »konkreten Totalität« (Karl Marx) zu transzendieren. Ähnliches postulierte im März 1969, wenige Monate vor seinem Tod, Theodor W. Adorno: »Kritische Theorie geht nicht auf Totalität, sondern kritisiert sie. Das heißt aber auch, dass sie ihrem Inhalt nach anti-totalitär ist, mit aller politischen Konsequenz.«
Solche Formulierungen wie überhaupt solche Kritik der Gesellschaft charakterisieren einen Theorietypus, der seit 1968 sukzessive durch einen anderen abgelöst wird: Nunmehr beanspruchte der Strukturalismus beziehungsweise Poststrukturalismus theoretische wie praktische Radikalität. Eine Radikalität indes, die allerdings nicht, nach Marx, »ad hominem«, also am Menschen demonstriert, sondern die, nach Friedrich Nietzsche, »den Menschen« als ein machtvolles Dispositiv der Normierung und Kontrolle zu entlarven und schließlich zu überwinden trachtet.
Einher ging damit der allgemeine Wandel von der Moderne zur Postmoderne – gesellschaftlich vor allem signifikant durch das Ende der Massengesellschaft und den Beginn eines privatistischen Individualismus (vernehmliche Orientierung an individuellen Lebensweisen statt an sozialen Klassen; Kulturalisierung der gesellschaftlichen Lage; Diffusion des Politischen einerseits in Verwaltung und Versachlichung, andererseits – vor allem was die »Werte« angeht – ins Lebensweltliche, in common sense und in Irrationalismen wie Religion und Sekten aller Art).
Protestbewegungen, die sich in dieser Theorie­linie als »Linke« formierten, verfügten kaum noch über ein reflektiert und reflexiv fundiertes Selbstverständnis.
Was in den Siebzigern nur partiell die westlichen Wohlstandsstaaten betraf (und eigene Formen von sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen sowie Subkulturen hervorbrachte), verfestigte sich im Zuge der Globalisierung und – insbesondere nach dem Pyrrhussieg des Kapitalismus – des Neoliberalismus als ideologisches Schema einer neuen Weltordnung. Im Jahr 2000 wurde sie unter dem Titel »Empire« von Toni Negri und Michael Hardt zur Kolportage – ein theoretischer Großentwurf, der mit prätentiöser Verve auch eine Zäsur zu behaupten beanspruchte: dass die kritische Theorie der Gesellschaft endgültig obsolet sein sollte, dass mit Dialektik und historischem Materialismus, überdies mit Begriffen wie Klassenbewusstsein, Entfremdung oder Wertformanalyse, schließlich einem Telos wie dem vom befreiten und befriedeten Dasein der Menschen nichts mehr zu machen sei.

Was hier endgültig verloren ging, ist, mit einem Wort, die Utopie. Damit reagierte allerdings das erste Mal linke Theorie im Bestseller-Maßstab, ergo mit erheblicher öffentlicher Aufmerksamkeit, auf den Umstand, dass – womöglich nach 1989, dem Zusammenbruch des Realsozialismus – politische Proteste gegen gesellschaftliche Zustände nicht mehr unbedingt in einer (wie auch immer disparaten) sozialistischen Utopie ihren gemeinsamen Nenner fanden; ja, es zeigte sich überdies in den Neunzigern, dass die verschiedenen Protestbewegungen – allesamt Ausläufer nunmehr historisch überholter Sozialbewegungen, von der Arbeiterbewegung über Ökologie und Feminismus bis zum Punk – auch kein Potential und kein Interesse mehr hatten, überhaupt eine Utopie zu formulieren.
Der Utopieverlust schlug auf das zurück, was einmal als revolutionäres Subjekt bezeichnet wurde: nämlich ein sich geschichtlich konstituierendes Subjekt, das sich zugleich durch die Fähigkeit, seine eigene Geschichte zu machen, als Subjekt ermächtigt (beziehungsweise emanzipiert). Theoretisch wie praktisch war der Anspruch auf Revolution in diesem Sinne aufgegeben. Mehr noch: Theoretisch wie praktisch war auch das Subjekt suspendiert. Hardt und Negri füllten mit dem von ihnen starkgemachten Begriff der Multitude (übersetzbar mit Menge) insofern keine Leerstelle, sondern bündelten in aller Vagheit weit­gehend ziel- und richtungslose Proteste.

Bis Seattle 1999 und Genua 2001 konnte diese Theorie immer noch als notwendige Ergänzung zu globalen und globalisierungskritischen Bewegungen verstanden werden: Im Kern war die Multitude noch immer »links«, »antikapitalistisch«, »sozialistisch« – auch wenn immer mehr Rassisten, Antisemiten, Religiöse, Fanatiker, Spinner und aufgebrachte Wutbürger die Menge zur Meute machten.
Dass diese Protestbewegungen irgendwie »links« (das heißt politisch emanzipatorisch) seien, gehört jedoch nicht mehr unbedingt zu ihrem Selbstverständnis. Was ihnen bei allen Unterschieden gemeinsam ist: Sie brauchen keine Theorien, die ihnen erklären, wie revolutionär, wie subversiv und widerständig, wie nah am Kommunismus sie sind. Dass man sich auf weitgehend theoriefreie Machwerke wie »Der kommende Aufstand« oder Hessels »Empört Euch!« kapriziert, kommt nicht von ungefähr. Allenfalls geht es um eine dumpfe Rechtfertigung des Aktionismus, wie es am sympathischsten vielleicht noch David Graeber mit »Direkte Aktion« gelungen ist.
Ohnehin bleibt fraglich, ob diese Proteste, die um das Jahr 2011 gruppiert werden, sich überhaupt als im emphatischen Sinne soziale Bewegungen formieren, aus denen tatsächlich so etwas wie geschichtsmächtige und Geschichte machende, nämlich nach Marx’ und Engels’ Kommunismus-Definition »wirkliche Bewegungen« entstehen könnten. Doch solche Kritik irritiert den linkspopulistischen Theorieoptimismus, für den, ­allen voran und vor allem laut im bürgerlichen Feuilleton hörbar, Slavoj Žižek skandiert: »Die lange Nacht der Linken geht jetzt zu Ende!« Alain Badiou pariert, ruft das »Volk« an und glaubt als alter Maoist an das »Erwachen der Geschichte«. Jeder Aufstand ist ihm ein »Geschichtszeichen« für die Wiederkehr der »Idee des Kommunismus«. John Holloway konterkariert dies, sieht in der Summierung aller erdenklichen Widerstände »den Kapitalismus aufbrechen«. Hinzu kommen die pseudotheoretischen Verbrämungen obskurer Kämpfe und idiosynkratischer Widerstände (zum Beispiel queer politics) im Verbund mit Umdeutungen reaktionärer »Bewegungen« (Islamismus).
Bei allen Zurechtdeutungen, wo und wie beim sogenannten Arabischen Frühling, bei »Occupy«, bei Geschlechtsumwandlungen, beim Urban Gardening oder der Stadtteilpolitik nun die »Idee des Kommunismus« aufscheinen soll, bleibt die theoretisch radikale wie praktisch konkrete Bestimmung dieser Idee vollständig ausgespart – und das nicht zuletzt, weil die hier zum Konglomerat internationaler Protestbewegungen zusammengezurrte Opposition ohne jeden kritischen Begriff von Gesellschaft bleibt.
Das charakterisiert die gegenwärtige Paralyse der Kritik. Mit ihr verlängert sich, was Marcuse bereits vor 50 Jahren konzedierte: »Die Unterbindung sozialen Wandels ist vielleicht die hervorstechendste Leistung der fortgeschrittenen Industriegesellschaft … « Das ist für heute wörtlich zu nehmen: Innerhalb der nunmehr global durch­gesetzten kapitalistischen Gesellschaftsformation haben sich zweifellos unzählige Wandlungsprozesse vollzogen (insbesondere in Hinblick auf die extreme technologische Entwicklung einerseits, fundamentalreligiösen Regress andererseits). Nur: Diese Wandlungsprozesse bedingen keine gesellschaftlichen Veränderungen, sondern stabilisieren vielmehr die soziale Logik des Kapitals. Der blutige Konflikt um Demokratie im »Arabischen Frühling«, die Auseinandersetzungen mit der Regierungsgewalt in der Türkei und in Brasilien, die Straßenschlachten, die es in den Metropolen gegeben hat, allemal die »Occupy«-Versamm­lungen sind allesamt Proteste, denen eine kollektive Konfiguration als gesellschaftliche Bewegung fehlt. Im entscheidenden Moment bleibt etwa die Solidarität aus mit dem chinesischen Industrieproletariat in seinem verzweifelten Kampf gegen die absolute Entmenschlichung in den Fabriklagern; auch die brasilianische Landlosenbewegung ringt seit nunmehr Jahrzehnten um breite globale Unterstützung; Südamerika, Afrika, Asien sind, was politische Solidarität mit Befreiungs­bewegungen angeht, für die gegenwärtigen internationalen Protestbewegungen terra incognita. Von der Großen Weigerung, die nach wie vor der nötige emanzipatorische Impuls wäre, fehlt jede Spur. So bleibt auch heute nur wie damals für Marcuse, nach Walter Benjamin, die Einsicht: »Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.«