Razzien gegen vermeintliche Nichtrussen

Einig gegen Migranten

In Russland gibt es vermehrt Razzien gegen vermeintliche Nichtrussen. Die Mehrheit der Bevölkerung sieht Migration inzwischen als dringlichstes Problem an.

In Moskau tobt der Wahlkampf. Oder besser gesagt auf den Moskauer Märkten und an allen Orten, an denen hauptsächlich Migrantinnen und Migranten ihrer Arbeit nachgehen. Am 8. September wird mit höchster Wahrscheinlichkeit der amtierende, von der Regierung eingesetzte Bürgermeister Sergej Sobjanin durch eine Volksabstimmung legitimiert.

Zehn Jahre lang hielt die russische Regierung dieses aufwändige Prozedere für überflüssig, erst die Protestwelle von 2012 veranlasste sie, die Moskauerinnen und Moskauer wieder über ihren Bürgermeister abstimmen zu lassen. Und um diesen Vorgang im Vorfeld mit zugkräftigen Inhalten zu füllen, bedienen sich Sobjanin und sein Apparat gnadenlos klassischer rechtspopulistischer Methoden, indem sie die Jagdsaison auf Migrantinnen und Migranten eröffneten. Mitte Juni vertrat Sobjanin in einem Interview mit der Tageszeitung Izvestija die mehr als gewagte These, Moskau wäre ohne Berücksichtigung der hohen Kriminalitätsrate unter Migranten die gesetzestreuste Stadt der Welt. Fragwür­diges Datenmaterial zur Untermalung seiner These liefert die Moskauer Polizeibehörde. Deren Statistik vermeldete in den vergangenen Jahren zwar einen Rückgang der von Ausländern begangenen Straftaten, pünktlich zur Wahl sprach sie jedoch davon, dass 47 Prozent der Straftaten in der Hauptstadt von Ausländerinnen und Ausländern begangen würden. Dass diesbezügliche Zahlen der Staatsanwaltschaft und der Migrationsbehörde weit darunter liegen und sich zwischen sieben und etwa 17 Prozent bewegen, bei einem geschätzten Ausländeranteil von etwa zehn Prozent, geht im Medienhype fast komplett unter.
Ende Juli wurde ein Polizist bei einer Auseinandersetzung mit einigen Händlern aus Dagestan auf einem Moskauer Markt schwer verletzt. Seine Kollegen standen untätig daneben. Zwar deutet der Vorfall auf Probleme unter den Polizisten hin, er diente jedoch in der Folge als Anlass für eine beispiellose Hetzjagd auf Migrantinnen und Migranten, in deren Verlauf Tausende Menschen festgenommen wurden. Die Polizei vermeldete am Sonntag, dass in den ersten beiden Augustwochen über 2 700 Festnahmen erfogt seien. Razzien in Wohnheimen und auf Märkten, bei denen sich häufig rechtsradikale Gruppen mit Namen wie »Moskauer Schutzschild« oder dessen St. Petersburger Äquivalent »Russische Säuberungen« profilieren, die nicht selten enge Beziehungen zu Organisationen der Kremljugend unterhalten, gehören längst zur Tagesordnung in russischen Metropolen. Durch den Wahlkampf hat deren Ausmaß jedoch um ein Vielfaches zugenommen.

Da die Kapazitäten der Abschiebegefängnisse längst ausgeschöpft waren, ließen die Moskauer Behörden Anfang August im Stadtteil Goljanowo ein Zeltlager für über Tausend festgenommene Personen errichten, größtenteils für vietnamesische Arbeiterinnen und Arbeiter aus einer naheliegenden Textilfabrik, aber auch aus anderen Ländern. Im Lager fanden sich auch viele Syrerinnen und Syrer aus Aleppo wieder, die wegen der heftigen Kämpfe nach Russland geflohen waren. Mit einem Asylstatus können sie kaum rechnen, oder nur, wenn sie bereit sind, den »Tarif« von mindestens 2 000 Euro zu bezahlen. Dafür gibt es in Moskau Arbeit, allerdings zu den üblichen Bedingungen, also ohne Arbeitsgenehmigung und Registrierung.
Doch spielt die Legalität des Aufenthalts ohnehin nicht immer eine Rolle. Bei Razzien muss auch dann Schmiergeld bezahlt werden, wenn die Dokumente in Ordnung sind. Im Zuge der der jüngsten Planerfüllung haben Moskauer Gerichte Gesetzesverstöße festgenommener sogenannter Illegaler festgestellt, ohne sich dafür zu interessieren, ob die Betreffenden über gültige Papiere verfügen oder nicht.
Die oppositionellen Bürgermeisterkandidaten, allen voran der Nationalist Aleksej Nawalnyj, stören sich nicht an diesem Vorgehen. Nawalnyj fordert die Einführung der Visumspflicht für die Länder Zentralasiens, aus denen die meisten ­Arbeitsmigrantinnen und -migranten stammen. Die konsequente Diffamierung von Migranten aus Zentralasien, aber auch russischer Staatsbürger aus dem Nordkaukasus, als Illegale und Gesetzesbrecher hat Folgen. Inzwischen legen alle führenden Meinungsforschungsinstitute Um­frageergebnisse vor, wonach über die Hälfte der Bevölkerung als dringendstes Problem die Migration aus den ehemaligen Sowjetrepubliken nach Russland benennt. Erst weit dahinter werden als Problem die übermäßig hohen Wohnbetriebs­kosten genannt, ein Thema, das bis vor kurzem noch die öffentliche Debatte dominierte.