Über die Geschichte der US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung

Schöpferische Spannung

Nach 50 Jahren ist Martin Luther Kings Rede »I have a dream« zum entpolitisierten Mythos geworden. Doch die Bürgerrechtsbewegung, deren spektakulärste Aktion der »March for Jobs and Freedom« war, verbreitete keine verträumten Versöhnungsbotschaften.

Abgesehen von George Washington und Abraham Lincoln dürfte es nur wenige Menschen geben, die in den USA so großes Ansehen genießen wie Martin Luther King. Nicht nur Demokraten und liberals berufen sich auf ihn. Der rechtskonservative Radiomoderator Glenn Beck will »Martin Luther Kings Traum aufnehmen, der entstellt wurde«, um ihn gegen den »Rassisten« Barack Obama zu wenden. Sarah Palin, seine republikanische Mitstreiterin in der Tea-Party-Bewegung, sieht sich in der Tradition Lincolns und Kings als Kämpferin gegen eine »erdrosselnde, übermächtige Regierung«, die ihren Bürgern eine Gesundheitsversicherung aufzwingt.
Kritiker haben zu Recht darauf hingewiesen, dass King über diese Aneignung seines Traums nicht erbaut gewesen wäre. Dass er zu einer fast allseits beliebten Referenzperson geworden ist, belegt jedoch den Erfolg der Bürgerrechtsbewegung. Auch Rechtskonservative wagen es nicht mehr, deren Berechtigung zu bestreiten. Das ist eine bemerkenswerte Karriere für einen Bürgerrechtler, der nicht nur Konservativen als Kryptokommunist oder gar als Agent Moskaus galt, 30 Mal inhaftiert war und vom FBI abgehört, bespitzelt, bedroht und schikaniert wurde.
Die nachträgliche Ikonisierung ist nicht ungewöhnlich. Ähnlich erging es unter anderem den Kämpferinnen für das Frauenwahlrecht, und wer an einer Parade zum Christopher Street Day teilnimmt, feiert den militanten Widerstand gegen einen demokratisch legitimierten Polizeieinsatz. Die bürgerliche Demokratie, anfangs ganz offiziell eine ausschließliche Angelegenheit wohlhabender weißer Männer, musste Schritt für Schritt demokratisiert werden – ein bis heute nicht abgeschlossener Prozess. Dabei muss jeder Fortschritt gegen jene erkämpft werden, die ihn, wenn er kanonisiert ist, gern für sich vereinnahmen, um sich umso erbitterter gegen den nächsten Fortschritt zu wenden. Ikonisiert werden können die Herausforderer des Establishments nur durch eine Mythologierung und Entpolitisierung. So wird King auch zum 50. Jahrestag seiner berühmten Rede als religiöser Mahner dargestellt, der in Kooperation mit Präsident John F. Kennedy die Amerikaner miteinander versöhnte.
Gläubig war King ohne Zweifel, daher war ihm die Gewaltlosigkeit auch ein moralisches und religiöses Anliegen. Doch die gewaltlose direkte Aktion war vor allem eine durchdachte politische Strategie, sie sollte nicht versöhnen, sondern, wie King aus dem Gefängnis in einem Brief schrieb, »eine schöpferische Spannung erzeugen« und die »Probleme so dramatisieren, dass man nicht mehr an ihnen vorbei kann«. Lange hatten Schwarze die Sitze im Bus geräumt, wenn ein Weißer sich setzen wollte. Erst als Rosa Parks dies 1955 verweigerte, wurde das Problem den Amerikanern vor Augen geführt. Aus dem vereinzelten Protest wurde eine Kampagne, die die Regierung zum Handeln zwingen sollte.

Politiker schätzen so etwas nicht, Kings Verhältnis zu Kennedy war daher alles andere als konfliktfrei. Wäre es nach dem Präsidenten gegangen, hätte King nie vor dem Lincoln Memorial »I have a dream« gesagt. Justizminister Robert Kennedy versuchte, den Bürgerrechtlern die Idee einer Demonstration in Washington auszureden. Der Präsident habe die Bürgerrechtsgesetze im Kongress eingebracht, dessen Wirken es nun abzuwarten gelte. Als King an seinem Vorhaben festhielt, wurde er von Präsident Kennedy mit Erkenntnissen des FBI über angebliche Kommunisten in seinem Umfeld konfrontiert. King brach die offiziellen Kontakte mit den Denunzierten ab, hielt aber an seinen Absichten fest.
Das war ein Risiko für die Bürgerrechtsbewegung, denn eine geringe Beteiligung hätte deren Anliegen geschadet, auch waren Angriffe von Rassisten und Polizisten nicht ausgeschlossen. Zu den wichtigsten Bündnispartnern Kings gehörte A. Philip Randolph, erster Präsident der Brotherhood of Sleeping Car Porters, der Gewerkschaft der überwiegend afroamerikanischen Schlafwagenschaffner. Diese kleine, aber kämpferische Orgsanisation verbesserte nicht nur die Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder, sondern erlangte auch große Bedeutung in der Bürgerrechtsbewegung. Randolph hatte bereits 1941 einen Marsch auf Washington geplant, ihn jedoch abgesagt, nachdem Präsident Franklin D. Roosevelt die Executive Order 8802 unterzeichnete, die rassistische Diskriminierung in der Rüstungsindustrie verbot. Wie Reformen durchgesetzt werden müssen, soll Roosevelt späteren Aussagen seiner Witwe Eleanor zufolge Randolph bei einem Treffen im Weißen Haus selbst gesagt haben: »Sorgen Sie dafür, dass ich es tun muss.«
Die Demonstration in Washington am 28. August 1963 wäre ohne die Gewerkschaftsbewegung nicht zustande gekommen. Dass sie ein »March for Jobs and Freedom« war und soziale Gerechtigkeit als untrennbar mit den Bürgerrechten verbunden betrachtet wurde, ist fast in Vergessenheit geraten, obwohl King die ökonomische Benachteiligung der Schwarzen, die »auf einer einsamen Insel der Armut in einem großen Ozean der materiellen Prosperität leben«, in seiner Rede ansprach.
Als kluger Stratege legte King aber auch Wert auf Prominente aus der Unterhaltungsbranche. Ihre Präsenz organisierte der Sänger und Schauspieler Harry Belafonte, der zu den führenden Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung gehörte. Fast alle der berühmtesten Stars erschienen, sogar Charlton Heston war dabei. »Als Gruppe spielten wir im Alltagsleben der Amerikaner eine größere Rolle als ihre Priester, Pastoren, Politiker und sogar Lehrer«, schreibt Belafonte in seiner Autobiographie. So fiel es schwer, die Demonstration als das Werk kommunistisch infiltrierter Unruhestifter darzustellen.
Die Demonstration, an der sich 200 000 bis 300 000 Menschen beteiligten, war die spektakulärste Aktion der Bürgerrechtsbewegung. Entscheidend für den Erfolg waren jedoch die Kampagnen der gewaltlosen direkten Aktion, die nach dem Marsch auf Washington fortgesetzt wurden. Neben dem Kampf gegen die Segregation, die bereits 1954 vom Obersten Gericht für illegal erklärte, aber weiterhin praktizierte US-amerikanische Version der Apartheid in den Südstaaten, ging es vor allem um die Registrierung der afroamerikanische Wählerinnen und Wähler, die durch rassistischen Terror bislang weitgehend verhindert worden war.

So schwärmten auch im Jahr 1964 wieder Freiwillige aus, die ebenso wie die Unterstützerinnen und Unterstützer vor Ort erhebliche Risiken eingingen. Zwischen dem 21. Juni und dem 23. September wurden 13 Bombenanschläge, zwei Brandanschläge auf Kirchen sowie zahlreiche Morddrohungen und Gewalttaten registriert – allein in McComb, Mississippi, einer Kleinstadt mit kaum mehr als 10 000 Einwohnern. Der Civil Rights Act war vom Kongress bereits im Juni verabschiedet worden, doch den rassstischen Mob, zu dem auch die meisten Polizisten und Richter in den Südstaaten zählten, interessierte das wenig. Weiterer Druck war erforderlich, um ein Eingreifen der Bundespolizei und -justiz zu erwirken.
Nicht allein die gewaltfreien Organisationen, Kings SCLC (Southern Christian Leadership Conference) und das von jüngeren Aktivistinnen und Aktivisten getragene SNCC (Student Nonviolent Coordinating Committee), sorgten dafür, dass der Kongress die Bürgerrechtsgesetze beschließen musste. Vor allem im SNCC wurden immer wieder Zweifel am Prinzip der Gewaltfreiheit angesichts des rassistischer Terrors geäußert, was dem eifrig abhörenden FBI nicht entging, und radikalere Politiker wie Malcolm X gewannen an Einfluss. King scheint das in den Verhandlungen mit den Kennedys genutzt zu haben. »Martin machte sich große Sorgen, dass junge, wütende Aktivisten seine Appelle zur Gewaltlosigkeit nicht länger befolgen« würden, schreibt Belafonte. »Wenn die Kennedys das begriffen, könnte man sie vielleicht endlich dazu drängen, es mit dem Kongress aufzunehmen.«
Die städtischen Aufstände in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre trugen dann maßgeblich zur affirmative action und zu Hilfsmaßnahmen für die afroamerikanischen Armenviertel bei, die gezielt das Wachstum einer schwarzen Mittelschicht fördern sollten. Eine sozioökonomische Benachteiligung gibt es noch immer, und auch der Rassismus ist nicht verschwunden. Doch während noch Präsident Richard Nixon sagte, die Schwarzen lebten »wie eine Hundemeute«, wird er nur von Rechtsextremisten offen geäußert. Im konservativen Milieu dominiert heute das Bild des »gefährlichen Armen«, der wie zufällig meist ein Afroamerikaner oder Latino ist, gegen den repressive Maßnahmen zu ergreifen sind. Weiße wie Beck, die ihre Privilegien bedroht wähnen, stilisieren sich nun selbst als Opfer des Rassismus und bekämpfen die affirmative action als Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz.
King hingegen war sich der Tatsache bewusst, dass das Recht, ein Restaurant zu besuchen, wenig bedeutet, wenn man die Rechnung nicht bezahlen kann, und dass das Gesetz »den sozialen Fortschritt blockiert«, wenn es nicht »dem Ziel der Gerechtigkeit dient«. Seine letzte Arbeit vor seiner Ermordung am 4. April 1968 war die Vorbereitung einer Solidaritätsdemonstration für die Beschäftigten der Müllabfuhr von Memphis, deren Streik gerichtlich verboten worden war. Seine Erben finden sich heutzutage nicht unter den Reaktionären der Tea Party, sondern eher unter den Aktivistinnen und Aktivisten der sozialen Protestbewegungen des Westens und der arabischen Revolten, wo die Rosa Parks unserer Tage dafür kämpfen, sich ohne männliche Begleitung einen Kaffee bestellen zu dürfen – und ihn sich leisten zu können.

Die Erinnerung an King und die Bürgerrechtsbewegung ist nicht allein eine Frage des historischen Gedenkens. Beispielhaft wird hier deutlich, wie gesellschaftliche Veränderungen erkämpft werden können. King war kein bedeutender Theoretiker, aber ein brillanter Stratege, der mit dem politischen Establishment verhandelte, sich ihm aber nie unterordnete. Dies vor allem ist es, was den heutigen sozialen Bewegungen fehlt: der Sinn für Strategie.
Die damaligen Organisationsformen können und sollten nicht kopiert werden. Rosa Parks, Diane Nash und viele andere Frauen beteiligten sich an der Bürgerrechtsbewegung, deren Führung jedoch weitgehend Männersache war. Überdies waren die informellen Führungsstrukturen alles andere als transparent und demokratisch. Um zu überlegen, wie strategische Debatten basisdemokratisch geführt werden können, muss jedoch zunächst die Notwendigkeit erkannt werden, dies zu tun. Strategische Überlegungen sind nicht zuletzt im Verhältnis zum Establishment erforderlich, das, solange die soziale Revolution nicht auf dem Programm steht, aus den Forderungen Gesetze macht. Präsident Barack Obama kann keine tiefgreifenden Sozialreformen durchsetzen, weil niemand dafür sorgt, dass er es tun muss. Ähnliches gilt für die europäische Sozialdemokratie.
Die Demokratisierung der Demokratie ist trotz weiterer Fortschritte in Bürgerrechtsfragen ein nicht abgeschlossener Prozess, zumal die kapitalistische Modernisierung ständig neue Formen der Diskriminierung hervorbringt, etwa bei der frühen Aussortierung und Zwangsmedikamentierung nicht normgerechter Kinder. »Ich habe einen Traum«, sagte King, »dass meine vier Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der sie nicht nach der Farbe ihre Haut, sondern nach ihrem Charakter beurteilt werden.« Charakter – ein fast vergessenes Wort, das man vielleicht wieder aufgreifen sollte. Denn heutzutage spricht man bei Gleichstellungsmaßnahmen unweigerlich von der Leistung und vom Nutzen für die Wirtschaft. Das hätte auch King tun können, doch als vielleicht letzter bedeutender Repräsentant des revolutionären amerikanischen Bürgertums stand er noch in der ehrenwerten Tradition des individualistischen Starrsinns, die die Menschenrechte für unveräußerlich erklärte und es daher auch nicht für nötig befand, ihre nationalökonomische Nützlichkeit zu prüfen.