Beshoy Tamry im Gespräch über die Lage der Kopten in Ägypten

»30 Jahre Mubarak sind so schlimm wie ein Jahr Mursi«

Seit Beginn der Aufstände in Ägypten richtet sich die Gewalt immer wieder auch gegen Koptinnen und Kopten. Beshoy Tamry (25) ist freischaffender TV-Reporter und Gründungsmitglied der Organisation »Maspero Youth Union« (MYU). Die MYU versteht sich als säkulare Jugendorganisa­tion der Koptinnen und Kopten Ägyptens. Tamry arbeitet dort im politischen Büro. Mit ihm sprach die Jungle World über Gewalt gegen Kopten und die Kräfteverhältnisse nach der Amtsenthebung Mohammed Mursis.

Warum wurde die MYU gegründet und wie groß ist sie heute?
Gegründet wurde die MYU im März 2011, als nach dem Anschlag auf eine Kairoer Kirche koptische Protestierende vor die Maspero-Fernsehsendeanstalt zogen. Dieses riesige Sendegebäude war vor 2011 Sinnbild der Mubarak-treuen Medien. Um 2011 stand es dann für eine Berichterstattung, die die Gewalt gegen Kopten bestritt. Als Namensgeber für uns diente es schließlich, weil dort der säkulare koptische Kampf begann. Zuvor hatten wir die Koptinnen und Kopten nur aufgefordert, den Kampf für unsere staatsbürgerlichen Rechte und gegen die konfessionell begründete Verfolgung nach außerhalb der Kirchenmauern zu tragen. Im März 2011 haben wir dies dann selbst praktiziert, ebenso im Mai 2011 nach weiteren Übergriffen auf Kirchen; und schließlich im ­Oktober 2011 beim Protest gegen die militärische Übergangsregierung, als die Armee ein Massaker mit 27 Toten anrichtete, das sogenannte Maspero-Massaker. Zur Zeit haben wir fünf Untergruppen in fünf Regierungsbezirken. Zu unseren Demonstrationen sind auch schon einmal 100 000 Protestierende gekommen.
Wie sieht die Diskriminierung der Kopten in Ägypten aus?
Sie findet auf vielen Ebenen statt. Die Regierung schafft ein ausgrenzendes Bildungssystem, wo christliche Schülerinnen häufig ein Kopftuch tragen müssen. Von Gesetzes wegen muss der Bau von Kirchen beantragt werden, der von Moscheen nicht. Ökonomische Benachteiligung zeigt sich darin, dass nicht die Qualifiziertesten, sondern Muslime angestellt werden. Und viele Muslime sehen die Bevölkerung absolut gespalten in gute Muslime und böse Kopten. Die Kopten gelten als eine verschwindend kleine, aber sehr reiche Bevölkerungsschicht, was beides nicht stimmt. Und immer wieder ist von den Christen als Gottesfrevlern die Rede. Die Ideologie ist nicht selten sehr fanatisch. Es gibt Gebiete, die wir als Kopten besser nicht betreten sollten. Dieser Tage wurden über 200 Kirchen, Häuser und Geschäfte von Kopten angegriffen und sechs Kopten aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit getötet.
Gab es im Mai 2011 nicht auch die Idee, koptische Selbstverteidigungsgruppen zu gründen?
Es gab immer wieder einzelne Forderungen danach. Wir als Gruppe gehen mit friedlichen Mitteln vor und fordern, was uns als Steuerzahlern zustehen muss. Selbstverteidigung sehen wir als Aufruf zum Bürgerkrieg, was wir ablehnen.
Was sind die derzeitigen politischen Ziele der MYU?
Wir sind Teil der »Tamarod«-Bewegung. Wir haben uns an der Sammlung der Unterschriften für die Absetzung der Regierung Mursi und an deren Demonstrationen beteiligt. Wir kämpfen für gleiche Staatsbürgerrechte für Kopten. Daher teilen wir die Forderung der Opposition, den obersten Richter Adli Mansur als Übergangspräsidenten einzusetzen und ein verfassungsgebendes Referendum und Neuwahlen abzuhalten.
Wie schätzt die MYU die außenpolitischen Forderungen der »Tamarod«-Bewegung ein? Im Fragebogen spricht sie sich gegen die Abhängigkeit der Regierung Mursi vom Ausland aus, vor allem von den USA. Als sich die USA und die EU nach Mursis Amtsenthebung für die Aufnahme von Gesprächen zwischen der Interimsregierung und der Muslimbruderschaft aussprachen und auf die Militärgewalt bei der Räumung der Pro-Mursi-Camps hinwiesen, hat »Tamarod« mit Bildern verbrannter US-Flaggen auf ihrer Facebook-Seite und mit Demonstrationen gegen ausländische Einmischung reagiert. Außerdem fordert die Bewegung die Aufkündigung des Friedenvertrags von Camp David mit Israel, »um die Rechte Ägyptens an seiner Grenzsicherung zu ga­rantieren«.
Auch wir sind gegen die jetzige Einmischung des Auslands, da das nur die Muslimbrüder stützt. Wir haben uns allerdings intern noch nicht zur Ablehnung der Hilfszahlungen der USA positioniert. Vermutlich werden wir das ablehnen. Von der Forderung »Tamarods« nach der Aufkündigung des Friedensvertrags habe ich noch nicht gehört. Das finde ich zu krass. Allerdings sollte man eine Änderung des Vertrags anregen. Die letzten terroristischen Übergriffe auf dem Sinai waren auch deswegen so schwerwiegend, weil der Vertrag im Grenzgebiet eine Truppenbegrenzung vorsieht. Das ist nicht mehr zeitgemäß und bedeutet eine Schwächung des antiterroristischen Kampfes.
Wie stehen Sie zur Kritik am hohen Maß militärischer Gewalt in den vergangenen Tagen? Amnesty International kritisierte, dass offensichtlich wahllos in die Menge gefeuert wurde.
Vorletzten Freitag habe ich zusammen mit den Bewohnern den Kairoer Stadtteil Shubra verteidigt. Daher weiß ich, dass vom Boden aus nicht zwischen Bewaffneten und Nichtbewaffneten unterschieden werden kann, zumal Letztere die Bewaffneten schützen. Das muss man beim Urteil gegen die Armee bedenken.
Dann sind die Aktionen der Armee gerechtfertigt?
In dieser Sache ja. Jeder weiß, wie kritisch wir über die Armee denken. Beim Maspero-Massaker haben sie 27 von uns getötet, sie waren immer sehr gewalttätig gegen uns und haben nie die Kirchen und Kopten verteidigt, auch jetzt nicht.
Ebenso wenig sind Polizei und Feuerwehr zu Hilfe gekommen. Im mittelägyptischen Minya waren Revier und Feuerwache gerade mal 20 Meter entfernt von der niederbrennenden Kirche vor ein paar Tagen. Als sie um Hilfe gebeten wurden, sagten sie, das sei nicht ihr Auftrag. Wie kann man mit einer solchen ­Situation umgehen?
Daran sieht man, wie irre es wäre, die gesamte Armee zum Feind zu haben, man muss differenzieren. Wir haben die für das Maspero-Massaker verantwortlichen Militäroberen, Mohammed Tantawi, Hamdi Badeen und Mohammed el-Damaty, gerichtlich angeklagt.
Teilen Sie die Angst vor einer neuen Militärdiktatur, die viele auch angesichts des jetzt ausgerufenen Ausnahmezustands haben? Der Revolutionsaktivist Mohammed Abdal Salam von der »Association for Thought and Expression« hält es sogar für wahrscheinlich, dass sich die Armee die Opposition vornimmt, wenn sie mit den Muslimbrüdern fertig ist. Außerdem warnt er vor der Rückkehr des »tiefen Staates«, also der personellen Verfilzung von Militär und Elite des alten Regimes. Er weist darauf hin, dass auch Anhänger Mubaraks auf den »Tama­rod«-Demonstrationen und in der gegenwär­tigen Übergangsregierung präsent sind.
Zurzeit bringt der Terrorismus den Sicherheitsstaat hervor, nicht umgekehrt. Wenn eine Militärdiktatur meine Bürgerrechte auf den Weg bringt, soll es mir auch recht sein. Das ist nur ein Streit um Begriffe. Ich habe befreundete kommunistische Aktivisten, die aus Angst vor dem Militär sagen, ein Zurück zu Mursi sei besser. Wir von der MYU dagegen sind überzeugt, dass alles andere besser als Mursi ist. Außerdem sind in der Übergangsregierung überwiegend Konstitutionalisten, und linke Nasseristen aus dem Umfeld von »Tamarod« haben dort Einfluss. Der Weg ist richtig, ich sehe das Problem nicht. Auch nicht, dass dort von Mubarak korrumpierte Leute sitzen. Sie sind wenigstens keine Terroristen und konstitutionell gebunden. Das Problem der Muslimbrüder ist ihr kolonialistisches Besatzer-Verhalten. So sagte etwa 2010 der ehemalige Vorsitzende der Muslimbrüder, Mohammed Mahdi Akef: ›Hör’ mir auf mit Scheiß-Ägypten! Ich kenne nur eine Nationalität: den Islam.‹ Deswegen geht es auch nicht um die Fortsetzung der Revolution um jeden Preis, womöglich noch mit den Muslimbrüdern, sondern um die Garantie konstitutioneller Rechte. Oder so ausgedrückt: Auch wenn es unter Mubarak den Kopten schlecht ging, so sind für mich 30 Jahre Mubarak so schlimm wie ein Jahr Mursi.
Wie ist unter diesen Umständen eine Demokratie aufzubauen, wenn der große Teil der Muslimbrüder fehlt? Was sagen Sie zu dem Einwand, die Muslimbrüder seien keine monolithische Gruppe, sondern das Problem sei die alte Generation? Kann man auf die jüngere Generation bauen?
Wäre der Anteil der Muslimbrüder innerhalb der Bevölkerung so groß, wären sie noch an der Macht. Es geht um den Kampf gegen deren Organisationsstrukturen und Führungsspitze, unter anderem durch ein Verbot. Ich bin der Ansicht, dass die Rede von einem Generationenkonflikt in der Muslimbruderschaft Teil ihrer Propaganda ist. Ohne Führungsspitze wird sich ihr Fußvolk im Laufe der Zeit demokratisch integrieren. Gefährlich sind die Muslimbrüder vor allem wegen ihres Kampfapparats. Die salafistische Partei al-Nour ist von ihrem Programm her genauso schlimm, hat aber keinen solchen Apparat und ist daher leicht zu kontrollieren.
Der bekannte Aktivist Ahmed Maher von der »Bewegung 6. April« hat kürzlich besorgt auf die Verrohung der Öffentlichkeit hingewiesen. Die Anhänger und Gegner Mursis würden davon reden, sich gegenseitig »ausmerzen« zu wollen, und scheinen dies mit den Bürgerwehren tatsächlich anzustreben. Maher spricht davon, dass diesen Konflikt nur eine »dritte Stimme« lösen kann. Tatsächlich ähnelt sich die Sprache beider Lager: Man spricht dem an­deren das Menschsein ab und unterstellt umstürzlerische ausländische Unterstützung.
Diese Sprache ist natürlich abzulehnen. Aber es sind nur emotionale Reaktionen, die ich angesichts der Gewalt gut verstehen kann. Eine »dritte Stimme« würde mir nicht gefallen. Es geht hier schließlich um das nackte Überleben und unsere Freiheit.
Was ist aus dem »arabischen Frühling« geworden, wie soll es mit Ägypten weitergehen?
Mit unserer road map führen wir ihn weiter und sind so auch Vorbild für ein Tunesien ohne islamistische Radikalisierung. Mit der Wahl werden die Parteien auch das Problem der sozialen Gerechtigkeit in den Griff bekommen.