Über den jüngsten Philosophieprofessor Deutschlands

Der Bengel-Faktor

Eben noch in der Krabbelgruppe – jetzt im Sonderforschungsbereich: Markus Gabriel bringt die philosophische Halbbildung auf den neuesten Stand.

Wenn es wirklich so etwas wie Lookism gibt, sind dessen bedauernswerteste Opfer die alten Philosophen. Die nämlich konnten während der Hochzeit ihres Fachs, die immerhin gut zwei Jahrtausende währte, herumlaufen, wie sie wollten, ohne dass irgendjemand daran Anstoß nahm. Langbärtig und verwahrlost zottelten sie durch die Lande und blickten so verträumt in den Himmel, dass sie kaum ein Erdloch verfehlten. Je verschrobener und lebensuntüchtiger sie waren, desto authentischer kamen sie rüber, weil man nicht zu Unrecht davon ausging, dass geistige Menschen am glücklichsten sind, wenn man sie ungestört ihren Spinnereien nachhängen lässt. Dass es bei Denkern auf Äußerlichkeiten nicht ankomme, galt bis hinein ins 20. Jahrhundert. Weder Kant noch Hegel bemühten sich, ihre Intelligenz mit Charme zu verbinden; Schelling sah aus wie ein Exorzistenpfarrer; der Griesgram Schopenhauer durfte seine Invektiven gegen den Zeitgeist mit zerzaustem Haar und stierem Blick kundtun, ohne dass man ihn zum Image-Training bat; Nietzsche, alles andere als Übermensch, fiel gequälten Pferden um den Hals; und Adorno und Horkheimer, die herumnörgelnden Opas aus Frankfurt, hatten den Modegeschmack von Staubsaugervertretern.
In den vergangenen Jahren aber ist das Profil des Philosophen upgedatet worden. Seither ertappt sich, wer im Internet die Personalseiten der Universitäten besucht, immer häufiger bei der politisch inkorrekten Frage, ob Leute, die so aussehen, nicht eigentlich konstitutionell unfähig zum Denken sein müssen. Dass der Geist eines Menschen mit seiner Physiognomie nichts zu tun habe, ist nämlich selbst ein Vorurteil. In der unwiederholbaren Physiognomie eines Menschen, die keine Physiognomik klassifizieren kann, gewinnt dessen individuelle leibliche und geistige Erfahrung sinnliche Gestalt. Da diese Erfahrung unter gegebenen Bedingungen notwendig eine widersprüchliche, leidvolle ist, gleichen jene, denen sie, womöglich absichtslos, besonders gegenwärtig ist, nun mal nicht den drögen Denkbeamten vom Oberseminar oder den freiberuflerischen Grinsebacken aus dem Club um die Ecke. Das Wüste, Verlorene, Verbissene – das Idiosynkratische ihrer Gestalt ist selbst sedimentierter Geist, leibhaftes Zeugnis des Schmerzes, der Trauer und des Glücks, die Gegenstand wie Lebenselement des Denkens sind.
Es ist also kein schaler Witz, sondern der Beginn triftiger Erkenntnis, zu diagnostizieren, dass sich in der Philosophie etwas Wesentliches verändert haben muss, wenn ihre Exponenten plötzlich die Visagen von Richard David Precht und Markus Gabriel haben: weder verzottelt noch verbissen, weder wüst noch verträumt, sondern so leblos vital und lustvoll gemein wie all die humanoid gemusterten, notdürftig affektgepolsterten Mediatoren, Coaches und Supervisoren, die in der bunten falschen Welt dort draußen munter Menschheit spielen, als wäre eine da. An Precht, den Jürgen Drews der philosophischen Colloquien, hat man sich mittlerweile gewöhnt, Gabriel aber ist neu und stößt einem auf wie frisches Rizinusöl. Die Bonner Antrittsvorlesung des 33jährigen Schelling-Experten, dessen Verdienste darin bestehen, der jüngste Philosophieprofessor Deutschlands zu sein und mit Slavoj Žižek ein Buch geschrieben zu haben, kann man sich auf Youtube anhören, seit Erscheinen seines Bestsellers mit dem naseweisen Titel »Warum es die Welt nicht gibt« gilt er als »Shootingstar der zeitgenössischen Philosophie« (SWR), der mit »Verve« (FAZ) und »Wucht« (SZ) die Sinnfragen der Menschheit klarmacht.
Tatsächlich ist er eher ein kecker Konformist, aus dem sich mit einer deftigen Watschen von Mama, einer Woche medienabstinenten Hausarrests und dem neuesten Wickert-Schinken als Beißholzersatz wahrscheinlich ein wohltuend unauffälliger Staatsbürger machen ließe. Doch weil sowas als Schwarze Pädagogik gilt, darf er ungestraft an seiner anschaulichen Ontologie basteln. Der Frage »Was ist Existenz?« kann man sich nämlich »leicht anschaulich nähern«: »Denken wir einfach an ein Nashorn auf einer Wiese. Dieses Nashorn existiert. Es steht schließlich auf der Wiese. Der Umstand, dass es auf der Wiese steht, dass es zum Sinnfeld der Wiese gehört, ist seine Existenz.« Da »Existenz« die »Erscheinung in einem Sinnfeld« ist, nennt sich ihre Seinslehre »Sinnfeldontologie«: »Damit etwas in einem Sinnfeld erscheinen kann, muss es zu einem Sinnfeld gehören. Wasser kann zu einer Flasche gehören, ein Gedanke zu meiner Weltanschauung.« Dass der Philosoph eine Flasche ist, die sich mit Gedanken füllt, um sie nach kräftigem Schütteln spritzig wieder auszuspotzen, darin steckt in der Tat der Keim einer Erkenntnis. Und wenn man sich einen Hornochsen denkt, der im Hörsaal steht, folgt daraus tatsächlich zwingend, dass der Hornochse existiert. Er steht schließlich im Hörsaal. Der Umstand, dass er zum Sinnfeld des Hörsaals gehört, ist seine Existenz. Eine Legitimation ist ihr dadurch allerdings noch nicht verliehen.
Im Vergleich mit den Exempeln von Gabriels Sinnfeldontologie (»Der Gedanke ›Es regnet in London‹ ist wahrheitsfähig. Ich kann ihn außerdem leicht überprüfen, indem ich das Wetter in London google«) erscheinen die Lehrbeispiele angloamerikanischer Sprachpragmatiker wie John L. Austin und John R. Searle (»Die Katze liegt auf der Matte«; »Ich taufe dich auf den Namen Berta«) als Zeugnisse philosophischer Vernunft. Aber erst wenn er, statt müßig an ihrer Bezeichnungsfunktion herumzufummeln, die Sprache nur noch als bedeutungs- und widerstandsloses Material willkürlicher Zurichtung kennt, tritt der Analytische Philosoph in die Om-Om-Phase der Erkenntnis ein und versteht Marx besser als der sich selbst: »Ein schönes Beispiel« für dessen Begriff des Warenfetischismus etwa ist die Fleischwurst: »Auf den ersten Blick ist eine Fleischwurst der Inbegriff von Fleisch. Genau besehen, handelt es sich um zerhacktes, gewürztes und bearbeitetes Fleisch von im Einzelnen sehr fragwürdiger Herkunft und Qualität. Die Fleischwurst verdient ihren Namen. Dennoch sieht man ihr eigentlich ihre animalische Herkunft gar nicht mehr an. (…) Die Wahrheit über die Wurstwelt ist deswegen traumatisch.«
Traumatisch ist auch die Wahrheit über die Philosophie im Gabriel-Stadium. Anders als bei der Fleischwurst, muss man bei ihren Denkwürsten jedoch nicht lange hinsehen, um zu bemerken, dass sie aus unverdauten, rhetorisch verhackstückten, mit faden Zitaten gewürzten Halbbildungsbrocken von nicht nur im Einzelnen fragwürdiger Herkunft und Qualität bestehen. Im Gegensatz zur Fleischwurst verdient eine solche Philosophie ihren Namen nicht. Wie aber verdient ein Buch genannt zu werden, in dem solche Sätze stehen: »Warum gehen wir eigentlich gerne ins Museum, ins Konzert, ins Kino oder ins Theater? ›Unterhaltung‹ ist keine hinreichende Antwort auf diese Frage. (…) Der Sinn der Kunst ist, dass sie uns mit dem Sinn konfrontiert. (…) Der Sinn der Kunst liegt darin, dass sie uns mit der Ambivalenz von Sinn vertraut macht. (…) Die Kunst konfrontiert und also mit reinem Sinn (…). Der Sinn der Kunst besteht nun darin, dasjenige, was uns normalerweise selbstverständlich ist, in ein merkwürdiges Licht zu rücken. (…) Alles tritt letztlich vor einem Hintergrund hervor, der nicht selbst hervortritt.«
Der nicht hervortretende Hintergrund, vor dem Gabriels »großartige Gedankenübung« (Žižek) sich eher hervortut als hervortritt, ist die universale Annullierung geistiger Erfahrung. Deren jüngstes Zerfallsprodukt ist der Philosophen-Streber, der zugleich, wie jeder Streber, ein Bengel ist. Denn um Hegel als »genialsten Metaphysiker aller Zeiten« und Freud als »ebenso amüsant wie tiefschürfend« zu loben, um es als »Arbeitsauftrag« der Kritischen Theorie anzusehen, »ihre eigene Zeit auf ideologisch verzerrte Annahmen hin zu untersuchen«, und die gar nicht mehr beim Namen genannte Shoa als »große politische Katastrophe« zu rubrizieren – um einen solchen Frevel am Gedächtnis der Menschheit zu begehen, muss man schon ein Streber-Bengel sein.
Wie der Klassenstreber hat Gabriel alles verstanden, bevor er irgendwas gelesen hat, und alles gelesen, ohne irgendetwas begriffen zu haben. Und wie der Streber, weil er konstitutionell ein Bengel ist, mit seinem verständig aufpolierten Unverstand prahlt und seine Mitschüler mit seiner eloquenten Dummheit belästigt, empfiehlt sich Gabriel, weil er von nichts Besonderem eine Ahnung hat, als Erklärer der Welt, über die man freilich »nicht von oben herab (...) nachdenken« könne, weil »alles eine show about nothing« sei, und beendet seine Plauderei über die »Menschheitsfragen« mit einem Neon-kompatiblen Schulterklopfer: »Der Sinn des Lebens ist das Leben, die Auseinandersetzung mit unendlichem Sinn, an der wir glücklicherweise teilnehmen dürfen. Dass wir dabei nicht immer glücklich sind, versteht sich von selbst. (…) Denn nur, weil es alles gibt, bedeutet dies noch nicht, dass alles gut ist. Wir befinden uns alle gemeinsam auf einer gigantischen Expedition – von nirgendwo hier angelangt, schreiten wir gemeinsam fort ins Unendliche.«
Solche sich als lebensbejahend und abenteuerlustig ausgebende Affirmation der schlechten Welt schmiert der Streber-Bengel seinen vom Denken der leidenden Kreatur gezeichneten Ahnen als Epitaph aufs Grab. Nur weil die in jenem Denken kristallisierte Erfahrung, nachdem ihr Erbe ausgeschlagen wurde, objektiv nichtig ist, nur weil jeder Einzelne von Geburt an als die Leiche gilt, die er später wird, und die individuelle Lebenslinie zur kürzesten Verbindung zwischen zwei Punkten schrumpfte; nur deshalb gilt es heute auch in der Sphäre des Geistes als Ausweis von Originalität, ein Junior zu sein. Der Junior ist der Streber-Bengel par excellence: der erfahrungslos Naive, dessen abgefeimte Nichtigkeit ihn zum beliebig einsetzbaren Ich-Agenten macht, der sich in allen Branchen tummelt wie der Fisch im Wasser; niedrigster Büttel und Alpha-Männchen, Leistungsträger und Charge in Personalunion.

Markus Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt. Ullstein-Verlag, Berlin 2013, 272 Seiten, 18 Euro