Über die politische Harmlosigkeit der parlamentarischen Linken

Bloß nicht polarisieren

Die parlamentarische Linke ist an Harmlosigkeit kaum zu überbieten.

Es ist das wohl mit Abstand kurioseste Plakat im Wahlkampf: die Absage der Linkspartei an die Revolution. »Revolution?« wird da brüllend groß gefragt. Und die kleingedruckte Antwort folgt prompt: »Nein, einfach zeitgemäß: 10 Euro Mindestlohn per Gesetz«, und ein paar andere un­realistische Wahlversprechen sind als Revolutionssurrogat drangehängt.
Kurios ist das deshalb, weil man sich fragen muss: Wer bloß hat »Die Linke« noch im Verdacht gehabt, eine Revolution zu wollen? Von wem wollen sie sich distanzieren, wem müssen sie etwas beweisen? Dämlich ist das Motiv obendrein: Tatsächlich dürfte die Sehnsucht nach einer Revolution größer sein denn je – gerade in der Schicht, die die Linkspartei liebend gerne als neue Wähler­klientel hätte: bei den jungen, gut ausgebildeten, posthedonistischen Mittelschichtskids und Kleinbürgern, die sich derzeit von Prekarisierung bedroht sehen. Mit einem Bekenntnis zur Revo­lution – deren Eintreten womöglich realistischer als die Realisierung ihres Wahlprogramms wäre – würde sich »Die Linke« immerhin einen gewissen Respekt verschaffen: Die wollen noch was, die haben noch Ziele!

Stattdessen bewegt sich »Die Linke« auf dem Niveau gewerkschaftlicher Forderungen aus dem Jahr 2004. Wir erinnern uns, das war die Zeit, in der sich Gewerkschaftsbosse auf keinen Fall Hartz IV bieten lassen wollten und gegen die Agenda 2010 einige Großdemos organisierten – am Ende beschränkten sie sich auf ihre berüchtigten »kämpferischen Appelle« und machten kleinlaut mit. Dabei wäre das so einfach mit der Revolution, zumindest mit jener Prise Unruhe, die man in Deutschland bereits für »Revolution« halten würde.
1966 fanden die linken amerikanischen Sozialhistoriker und Bürgerrechtler Richard Cloward und Francis Fox Piven heraus, dass nur ein geringer Teil der Bedürftigen die ihnen zustehende Wohlfahrt in Anspruch nimmt. Würden alle Armen Sozialhilfe beantragen, wäre das System schnell überlastet und müsste dem Druck von unten nachgeben. Die Konsequenz wäre die Einführung eines garantierten Mindesteinkommens, das Sozialhilfe und Arbeitslosenunterstützung überflüssig machte und die Leute zumindest teilweise vom Zwang zur Lohnarbeit entlasten würde. Noch heute ist diese sogenannte Cloward-Piven-Strategie das große Schreckgespenst konservativer Kommentatoren und wird regelmäßig auf Fox News beschworen, wenn Barack Obama irgendwelche sozialpolitischen Reformen erwägt.
Was das mit Deutschland zu tun hat? Längst nicht alle Hartz-IV-Bedürftigen nehmen die Stütze tatsächlich in Anspruch, etwas drei bis fünf Millionen Menschen, hat die Bundesagentur für Arbeit herausgefunden, verzichten darauf. Würden die alle Hartz IV beantragen, müsste automatisch der Satz angehoben werden, denn die Höhe von Hartz IV, der sogenannte Regelbedarf, berechnet sich danach, was arme Menschen in Deutschland ausgeben, um über die Runden zu kommen. Der Durchschnitt würde steigen, wenn mehr von diesen etwa 15% der Bevölkerung Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe bezögen – also müsste auch der Hartz-IV-Satz selbst steigen.
Und was hat das mit dem Wahlkampf zu tun? Sehr viel, denn »Die Linke« frönt im Wahlkampf ganz dem guten alten sozialdemokratischen Paternalismus: Wir fordern für euch, wir handeln für euch, wir machen Politik für euch, wir – »100 Prozent sozial«, wie noch kleingedruckter auf den Wahlplakaten steht – wissen eben, was das Beste für euch ist: auf keinen Fall eine Revolution. Die Cloward-Piven-Strategie zielte auf Selbstermächtigung, Graswurzelarbeit, Community Organizing. Jene Strategien also, die derzeit die jungen Leute in Spanien, Griechenland oder Frankreich brennend interessieren und die man ja auch hierzulande ausprobieren könnte – mal ganz bescheiden angemerkt. Aber so verbohrt, wie die SPD die seit 1998 existierende Rot-Rot-Grüne-Parlamentsmehrheit ignoriert, so verbohrt beharrt »Die Linke« darauf, die wahre SPD zu sein.
Keine Identitätsprobleme haben dagegen die Grünen. Sie sind dermaßen mit sich selbst identisch, dass ihre einzige Anstrengung darin besteht, einen möglichst sinnbefreiten Wahlkampf zu führen, denn jede konkrete Forderung könnte schließlich Nachfragen provozieren. Sie wissen, dass das, was sie plakatieren, schlichte Worthülsen sind, aber genauso muss es sein. »Menschenrechte für alle« heißt es zum Beispiel, und man sieht im Vordergrund eine junge Dame mit Migrationshintergrund. Vielleicht kommt ihre Familie aus einem der Länder, in denen sich die westliche Menschenrechtspolitik regelrecht totgesiegt hat, man weiß es nicht. Die Grünen sagen nicht »Bürgerrechte für alle«, was sie vielleicht doch in eine gewisse Nähe zu den jüngsten Flüchtlingsprotesten rücken würde, und sie umfahren auch großräumig alles Aktuelle: zum Beispiel, dass es in Deutschland ein großes Problem mit vertuschter oder beschönigter Polizeigewalt gibt und diese Institution im Gegensatz selbst zur Bundeswehr alle kritischen Nachfragen in puncto Menschenrechte ignoriert.

Wenn die Grünen konkret werden, dann geht es ihnen um diesen gewissen Hauch von Tugendterror – etwa Rauchverbot und Veggie-Day. Die Grünen wollen dem Publikum Haltungen beibringen, Selbsttechniken und Lebenspraktiken: Gesundheit, Nachhaltigkeit, Toleranz, Umweltbewusstsein, Maßhalten. Politisch ist das absolut folgenlos und ganz billig zu haben, es verhindert nicht die nächste internationale »Menschenrechtsintervention« – soll es auch nicht. Jede politische Untat wird den Grünen nachgesehen, solange man als Lohas-Typ (Lifestyle of Health and Sustainability) sein Leben bzw. sein schlechtes Gewissen im Griff hat, dank der Grünen natürlich.
Nicht im Griff hatten sich im vergangenen Jahr die »Piraten«, was bei allen, die auf Schwarm­intelligenz und Netzdemokratie hofften und die »Piraten« darin als Avantgarde vermuteten, nicht so gut ankam: Was nützt die ganze Mitbestimmung, wenn vor allem der Irrsinn potenziert wird? Die »Piraten« setzen deshalb auf einen unverdächtigen und superentspannten Wahlkampf: »Märkte brauchen Regeln/Menschen brauchen Freiheit«, lautet ein Plakatspruch, und wir staunen: Die »Piraten« haben das neue heiße Ding entdeckt – soziale Marktwirtschaft! Das Problem dabei: Eigentlich müsste doch jeder wissen, dass in den vergangenen Jahren die Verbraucherrechte enorm gestärkt wurden, als Konsument genießt man alle Rechte der Warenrückgabe, Reklamation und Erstattung. Wozu dafür eigens eine neue Partei im Bundestag? Die »Piraten« taumeln in ihrer kurzen Karriere zwischen zwei Polen: Datenschutz und Verteidigung des fröhlich-unentgeltlichen Konsumierens im Netz. Ersteres hat sich erledigt: 2009 galt der politischen Konkurrenz die Warnung der Piratenpartei vor der totalen Datenüberwachung noch als Paranoia, heute winkt sie müde ab – ist doch alles längst bekannt! Letzteres hat sich auch erledigt, denn die Leute haben mittlerweile gemerkt, dass sie Filme und Musik weiter herunterladen können, ohne dafür eine Vertretung im Bundestag zu benötigen.
Wonach sieht das alles aus? Nach gar nichts. Noch nie wurde so wenig Programmatisches, so wenig Polarisierendes in einem Wahlkampf verbreitet. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob das an der Planlosigkeit des politischen ­Personals liegt; oder im Gegenteil an einer Demokratie, die keine Polarisierung und keine Ideen mehr braucht, um zu funktionieren. Letzteres drückt sich vor allem in der vollendeten Harmlosigkeit der parlamentarischen Linken aus. Die betteln geradezu darum, dass man sie rechts liegen lässt und Politik ohne sie macht.