Die deutschen Parteien im »postideologischen« Wahlkampf

Das große nationale Wir

Im Herbst stellt sich erneut die quälende Frage: Wo nur das Kreuzchen machen? Porträts der wichtigsten deutschen Parteien, die sich dem Wahlkampf im medial herbeigesehnten »postideologischen Zeitalter« widmen.

Es ist wieder soweit. Der Herbst rückt näher, und Menschen werden an den Straßenlaternen aufgehängt. Natürlich nur Fotos von Menschen, genauer: von ihren Gesichtern, in der Regel als frontales Porträt. Die meisten der Abgebildeten sind nicht mal prominent genug, um ins »Dschungelcamp« eingeladen zu werden, deshalb steht ihr Name unter dem Bild und eine Buchstabenkombination, die auf eine Parteizugehörigkeit hinweist. Das Ganze nennt sich Wahlkampf und sollte zumindest unterhaltsam sein. Ist es aber nicht.
Wahlkampf ist eine in Staaten der westlichen Hemisphäre noch immer recht beliebte Form, sich unblutig zu einer wenigstens partiell neuen Führung zu verhelfen. Eine wirklich neue Führung oder gar ein neues System käme zustande, würde man statt der Porträtfotos die auf ihnen abgebildeten Menschen an die Laternenpfähle hängen. Das aber wäre eine Revolution, und Revolutionen werden nur dann positiv gesehen, wenn sie anderswo stattfinden und potentiell geeignet sind, der eigenen Wirtschaft zu dienen. Also lässt man wählen. Da uns die Natur keine Organisationsform vorgegeben hat, wie etwa den Insekten per biologisch determiniertem Kastensystem, und weil der menschliche Intellekt einem reinen Gesetz des Stärksten im Wege steht, hat die Menschheit wahrscheinlich immer schon gewählt, jedenfalls lange bevor die antiken Griechen ihre Form der Demokratie entwickelten. Vielleicht wählte in prähistorischen Zeiten sogar der ganze Stamm. Bei den Griechen, die unserer Staatsform nicht nur den Namen gaben, war das anders. Abgesehen davon, dass nie die ganze Bevölkerung an der Wahl teilnehmen durfte, blieb die Attische Demokratie immer nur eine Ergänzung zur faktisch weiterexistierenden Oligarchie. Bereits Aristoteles misstraute den Wahlentscheidungen der politischen Laien, und dieses Misstrauen der Machtelite gegenüber dem Wahlvolk hat sich bis heute erhalten.
Daher trifft Georg Bernard Shaws schöner Aphorismus, die moderne Demokratie sei »die Wahl durch die beschränkte Mehrheit anstelle der Ernennung durch die bestechliche Minderheit«, nur bedingt zu. Heute wie damals werden Demokratien von einer komplexen Struktur getragen, deren vorrangiger Zweck es ist, den tatsächlichen Einfluss der Wählerstimmen zu minimieren. Im Zentrum dieser Struktur stehen nicht die Parteien mit ihren Ideologien, sondern die Berufspolitiker. Die dauerhafte Bindung des Berufspolitikers an das gesetzgebende Organ, also etwa den Bundestag, führt dazu, dass er den Großteil seiner Zeit mit Wirtschaftslobbyisten und Interessenverbänden verbringt, Verbindlichkeiten eingeht, seine Ideologie ablegt und ein technokratisches Verständnis des Machbaren oder Wünschenswerten entwickelt. Damit lässt sich schwer Wahlkampf führen, aber es garantiert politische »Stabilität«, und die ist in Deutschland sakrosankt. Insofern zeugte Angela Merkels medial inkriminierte Floskel von der »Alternativlosigkeit« von geradezu charmanter Ehrlichkeit. Es drückt sich darin ihre Überzeugung aus, dass die Opposition in der jeweiligen Angelegenheit genau dasselbe tun würde, wäre sie gerade an der Regierung, und das trifft wahrscheinlich zu.

Um an der Regierungsarbeit teilnehmen zu dürfen, müssen auch die Parteien zwangsläufig in gewissem Maße verbunden sein mit den Interessen der modernen, weitgehend entpersonalisierten Oligarchie, welche sozusagen eine stabile DOS-Ebene für das fragile Betriebssystem Demokratie bildet. Schafft es mal eine neue Fraktion in den Bundestag, gilt sie – im Sinne der »Stabilität« – so lange als nicht koalitionsfähig, bis diese Verbindung zuverlässig genung ist. Hauptproblem dieser strukturellen Einbindung ist der Profilverlust, den die Parteien dabei zwangsläufig erleiden, weshalb die allgemeine Wahlbeteiligung kontinuierlich zurückgeht und die Medien sich genötigt sehen, den offenbar gewordenen Gleichschaltungsprozess als »postideologisches Zeitalter« zu feiern.
Nicht jede Partei hat schließlich so einen brillanten Wortführer, wie es Joschka Fischer für die Grünen war, als er 1999 vorexerzierte, dass man als Pazifistenpartei gewählt sein und sich trotzdem an einem Angriffskrieg beteiligen kann, ohne vom Wähler abgestraft zu werden. Die SPD dagegen hat das durch die Einführung von Hartz IV und die nachfolgende Regierungsbeteiligung unter Angela Merkel verlorene Vertrauen ihrer Stammwähler bis heute nicht zurückgewonnen. Wie die Untoten aus den Zombiefilmen der siebziger Jahre staksen ihre Funktionäre seither unbeholfen zwischen CDU und Linkspartei herum und beißen hier wie dort meist ins Leere. Denn die CDU setzt letztlich nur das gemeinsam begonnene Werk fort, während auf den Plakaten der Linkspartei all das steht, was früher auf SPD-Plakaten stand. Die SPD muss also Wahlkampf gegen die eigene frühere Politik führen, dabei aber immer noch gemäßigter wirken als die selbst fast schon zu Tode gemäßigte Linkspartei. Die damit zu erreichende Klientel wäre selbst dann zu klein, wenn man einen Spitzenkandidaten ohne das Stigma des Merkel-Ministers hätte.
Die sozialdemokratisierte Linkspartei ihrerseits würde von dieser Schwäche gerne profitieren und plakatiert daher, gegen eventuelle Ängste alter SPD-Wähler, nochmal in aller Deutlichkeit: »Revolution? Nein.« Doch aufgehen wird diese Taktik kaum. Zu willfährig hat sich die Partei in ihren bisherigen Regierungsbeteiligungen auf Länderebene präsentiert, und wohin die Entwicklung geht, hat der Wähler schon bei den »echten« Sozialdemokraten erlebt. Deren Verzweiflung ist inzwischen so groß, dass sie es es bei ihrem »Deutschlandfest« vor dem Brandenburger Tor sogar mit Antiwerbung versuchten, indem sie daran erinnerten, dass schon seit 150 Jahren keine historische Fehlentwicklung ohne ihre Beteiligung auskommt, Hartz IV mithin kein Ausrutscher war.
Glücklich können sich die Grünen schätzen. Obwohl sie unter den größeren Parteien über das meiste ideologische Rückgrat verfügen, sind sie paradoxerweise die einzige Partei neben der Merkel-CDU, die den Sprung ins »postideologische Zeitalter« geschafft hat. Was sie tun, wenn sie an der Regierung sind, spielt für ihre Wähler letztlich eine untergeordnete Rolle. Mit den Grünen von heute wählt man vor allem den eigenen Lifestyle: sich tolerant gerierende Bürgerlichkeit zwischen iPad und Bioladen. Deshalb steht auf ihren Wahlplakaten eigentlich nur: »Wir sind die Guten!« Und mit derselben Hybris, mit der sich die Vertreter dieses Lifestyles für das Glück der Erde halten, gehen sie davon aus, dass ihre Abgeordneten im Bundestag schon die richtigen Entscheidungen treffen werden, gleich, wie diese dann aussehen.
Darin ähneln die Wähler der Grünen jenen von der FDP, mit dem Unterschied allerdings, dass es der FDP nie gelungen ist, ein massentaugliches Lifestyle-Modell zu präsentieren. Mit kleinen Ausrutschern nach oben oder unten bleibt die Partei eine eher skurrile Politsekte um die fünf Prozent. Ihre Plakate haben – genau wie jene von NPD, DKP oder MLPD – einzig den Zweck, an ihre Existenz zu erinnern.
Richtig ernst nehmen den Plakatwahlkampf ohnehin nur die »Piraten«. Ähnlich wie die Grünen präsentieren sie zwar vor allem einen »postideologischen«, ja sogar »postpolitischen« Lifestyle (»Die scheiß Mieten sind zu hoch!«). Dummerweise ließen sie sich aber, nach beeindruckenden Anfangserfolgen, dazu drängen, eine eigene Ideologie für Fragen diesseits des Internet zu entwickeln. Eine »richtige« Partei wollten sie nun sein und haben noch immer nicht gemerkt, dass all ihre Positionen bereits von anderen vertreten werden. Plakative Kenntnislosigkeit – das hat die Piratenpartei bewiesen – ist im bildungsreformierten Deutschland wählbar, wenn sie nur cool und lustig daherkommt. Offenbarte Kenntnislosigkeit in politischen Sachfragen ist es (noch) nicht. Da macht der potentielle Wähler sein Kreuz dann doch lieber bei Mutti.
Mutti, das ist die Merkel-CDU, die brillanteste Neuerfindung in der gegenwärtigen Parteienlandschaft. Muttis Erfolg basiert auf einer präsidialen Kanzlerin, die vor allem Europa regiert und – von gelegentlichen populistischen Kurswechseln abgesehen – das innenpolitische Kleinklein ihren Ministern überlässt. Damit ist Angela Merkel zur Galionsfigur eines nationalen Größenwahns geworden, der sich im Zuge von Einheitstaumel und WM-Sieg 1990 als tobender Mob vor Flüchtlingsheimen rekonstituierte und im rot-grünen Moralistengewand ab 1998 »Wir sind wieder wer!« von der internationale Bühne tönte. Seine heutige, eher unmartialische Gestalt verdankt dieser neue Nationalismus der gelungenen Inszenierung der Fußball-WM 2006, deren wesentliches Kennzeichen es war, dass es – gegen alle Erwartungen – nicht zu Pogromen und Menschenjagden kam, und der technokratischen Macht­ausübung der Kanzlerin auf internationaler Ebene. Mit unaufgeregter Autorität bringt sie die »faulen Südländer« zur Räson und baut die Vormachtstellung Deutschlands in Europa zur Freude der Stammtische kontinuierlich aus. Und weil nationale Größe hierzulande immer schon wichtiger war als persönliches Wohlergehen, ist die Merkel-CDU von dem Land, das sie regiert, längst nicht mehr zu trennen und muss daher auch keinen Wahlkampf mehr führen. Insofern stimmt der SPD-Slogan: »Das WIR entscheidet.« Nur ist dieses Wir kein soziales, sondern ein völkisches mit familiärer Tarnung. Das Wir – die CDU-Plakaten verraten es – hat einen Namen. Es heißt Deutschland, und Mutti bringt diese Familie schon durch.

Gegen einen solchen Nimbus ist schwer anzukommen. NSU-Skandal hin, NSA-Skandal her – auf der Bühne, auf der die Merkel-CDU das nationale Wir präsentiert, spielt das alles keine Rolle. »Muttis« einzige verwundbare Stelle ist ein Koalitionspartner, der es nicht geschafft hat, von ihrer Größe zu profitieren.
Sollte die FDP tatsächlich an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, wäre es für den Unterhaltungswert zukünftiger Wahlkämpfe wohl das Beste, die SPD würde sich mit einer erneuten Großen Koalition in die verdiente Selbstauflösung begeben. Die einzige Alternative dazu, eine schwarz-grüne Koalition nämlich, wäre ein »postideologisches« Lifestyle-Konstrukt aus Party-Nationalismus und Weltrettungsattitüde, das Opposition nahezu unmöglich und daher jeglichen Wahlkampf für Jahrzehnte obsolet machen würde. Andererseits blieben uns dann vielleicht die bizarren Porträts an den Straßenlaternen erspart. Und Neuzugänge im prozentual festgefügten Bundestag könnte man auch so bestimmen wie die alten Griechen ihre Beamten: per Los. Spannender als dieser Wahlkampf wäre das allemal.