Der Gesundheitsminister will die Krankenkassen umbauen

Abschied vom Solidarprinzip

Die FDP will das Geschäft der privaten Krankenversicherer ausweiten. Mit ihren Forderungen geht die Partei noch weiter als die Lobbyisten der Branche.

Die FDP ist traditionell das Standbein der Versicherungswirtschaft in der Politik, immer wieder machen die Freidemokraten der Assekuranz Geschenke. Das neueste Präsent hat Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) in Aussicht gestellt. Er will den privaten Krankenversicherern Zugang zu einem gigantischen Markt eröffnen. »Ich möchte, dass alle Menschen selbst entscheiden können, wie und wo sie sich versichern wollen. Das ist meine Vision«, erklärte er bei einem Besuch der Rhein-Zeitung. Das würde bedeuten: Mehr als 60 Millionen Menschen, die sich zur Zeit bei einer gesetzlichen Krankenkasse versichern müssen, würden zu potentiellen Kunden der privaten Krankenversicherer werden.
Den gesetzlichen Krankenkassen gefällt es nicht, dass die Konkurrenz in ihre Gehege einbricht. »Ein Hilfsprogramm für die private Krankenversicherung auf Kosten von Millionen von Beitragszahlern lehnen wir ab«, erklärte prompt Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenkassen, der die Interessen der 134 Krankenkassen vertritt. Auch SPD, Grüne und Linkspartei lehnen Bahrs Vorschlag ab, selbst die CDU geht auf Distanz. Aber die FDP hat eine erstaunliche Durchsetzungskraft, wenn es um ihr Kernklientel geht. Die Forderung des Gesundheitsministers ist keine spontan geäußerte Wunschvorstellung, sondern Teil des liberalen Bundestagsprogramms.

Die privaten Krankenversicherer haben politische Hilfe bitter nötig. Sie leiden unter hohen Ausgaben, niedrigen Zinsen für ihre Kapitalanlagen und einem schlechten Image wegen erheblich steigender Beiträge. Dass es die Freidemokraten sind, die ihr zu Hilfe eilen, hat Tradition. Sie sind mit der Versicherungswirtschaft eng verbunden. Otto Graf Lambsdorff war Vorstandsmitglied bei der Victoria Rückversicherung, bevor er 1977 Wirtschaftsminister der sozialliberalen Bundesregierung wurde. Der heutige Wirtschaftsminister und FDP-Vorsitzende Philipp Rösler hat in seiner Zeit als Gesundheitsminister den stellvertretenden Direktor des Verbands der privaten Krankenversicherung, Christian Weber, zum Leiter der Abteilung Grundsatzfragen im Bundesgesundheitsministerium berufen. FDP-Generalsekretär Patrick Döring ist ebenfalls ein Mann der privaten Krankenversicherung, wenn auch keiner für Zweibeiner: Er ist Vorstandsmitglied der Agila Haustierversicherung.
Die liberalen Versicherungsfreunde gehen mit ihrer Forderung nach der generellen Öffnung der privaten Krankenversicherung weiter als die professionellen Lobbyisten der Branche selbst. Erst vor kurzem hat der Vorsitzende des Verbands der privaten Krankenversicherung, Uwe Laue, im Handelsblatt die Absenkung der Verdienstgrenze gefordert, ab der Interessierte vom Kassen- zum Privatpatienten werden können. Laue wollte die Öffnung für einen bestimmten Teil der Bevölkerung – nicht für alle, wie es die FDP verlangt. Nicht jeder kann sich privat krankenversichern, 90 Prozent der Bundesbürger sind gesetzlich, zehn Prozent privat krankenversichert. Nur wer als Angestellter mehr als 52 200 Euro im Jahr verdient oder wer selbstständig ist, darf sich privat krankenversichern.

Der Unterschied zwischen den beiden Systemen ist groß. Ärzte und Kliniken behandeln Privatpatienten bevorzugt, weil sie mehr an ihnen verdienen. Die Leistungen werden einzeln abgerechnet, während die gesetzlichen Kassen für die Behandlung ihrer Versicherten ein begrenztes Budget zur Verfügung stellen. Die Gesetzlichen folgen solidarischen Prinzipien: Bis zu einer bestimmten Grenze zahlen die Mitglieder einen Teil ihres Einkommens unabhängig davon, wie alt oder krank sie sind. Anders bei den Privaten: Sie dürfen sich ihre Kunden aussuchen, der Beitrag hängt nicht vom Verdienst ab, sondern vom Alter und dem individuellen Gesundheitszustand.
Von den rund 70 Millionen gesetzlich Krankenversicherten könnten theoretisch rund fünf Millionen zu den Privaten wechseln – viele tun es nicht, weil sie krank sind und enorme Beiträge zahlen müssten. Die 43 privaten Krankenversicherer konkurrieren heute also um eine relativ kleine Gruppe. Anders als bei den Gesetzlichen finanzieren sie die Kosten für die Behandlung ihrer Kunden größtenteils nicht über die Umlage der eingenommenen Beiträge, sondern über das Kapital, das sie mit den Prämien der Versicherten aufbauen. Um neue Kunden zu locken, berechnen die Gesellschaften die Beiträge für junge Leute niedrig. Je älter die Kunden werden, desto mehr müssen sie zahlen. Sie können faktisch nicht zu einem anderen Unternehmen wechseln, weil sie das bei ihrem Versicherer aufgebaute Kapital nicht mitnehmen können und deshalb bei einem neuen Anbieter viel höhere Prämien zahlen müssten.
»In fünf Jahren kollabiert das Neugeschäft«, glaubt Karl Lauterbach, designierter Gesundheitsminister im Schattenkabinett des SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück. »Die jungen Leute sind nicht so dumm, dass sie sich privat versichern.« Viele Privatpatienten haben schlaflose Nächte, weil sie nicht wissen, wie sie ihre Beiträge in Höhe von 700 oder 800 Euro im Monat aufbringen sollen. Immer mehr können nicht zahlen. Rund 144 000 Kunden haben Beitragsschulden in Höhe von zusammen 750 Millionen Euro. »Das Geschäftsmodell der privaten Krankenversicherer ist nicht zukunftsfähig«, ist der SPD-Bundestagsabgeordnete überzeugt.

Lauterbach ist Erfinder des Modells der Bürgerversicherung. Das Konzept sieht eine Abschaffung der privaten Krankenversicherung zugunsten ­einer gesetzlichen Krankenversicherung für alle vor. SPD, Grüne und Linkspartei wollen die Bürgerversicherung einführen. Aber in der Welt der gesetzlichen Krankenkassen ist keineswegs alles bestens. Im Gegenteil, hier herrscht nach diversen rot-grünen, schwarz-roten und schwarz-gelben Gesundheitsreformen ein gnadenloser Wettbewerb. Gesetzliche und private Krankenversicherer werden sich in manchen Punkten immer ähnlicher. Private können sich ihre Kunden aussuchen, wer zu krank oder zu alt ist, bekommt keine Police oder eine zu immensen Preisen. Sie dürfen, wie es im Versicherungsjargon heißt, eine »Risikoselektion« vornehmen. Das dürfen die gesetzlichen Krankenkassen nicht. Sie müssen jeden nehmen, egal wie alt, krank oder arm er ist – theoretisch. Die Realität aber sieht anders aus.
Nach einem Bericht des Bundesversicherungsamts versuchen Krankenkassen systematisch, »gute Risiken« zu gewinnen und »schlechte Risiken« abzuschrecken. »Eine Reihe von Krankenkassen hat mit ihrem Vertrieb sog. ›Zielgruppenvereinbarungen‹ mit dem Ziel abgeschlossen, vorrangig einkommensstarke und gesunde Versicherte zu akquirieren. Oft zahlen die Krankenkassen ihrem Vertrieb keine Prämien für das Werben von einkommensschwachen oder kranken Versicherten oder verlangen Prämien zurück, wenn die Neumitglieder höhere Krankheitskosten verursachen als erwartet«, heißt es in dem Bericht. »Hierdurch verstoßen die Krankenkassen gegen das Diskriminierungsverbot und das in der gesetzlichen Krankenversicherung zu beachtende Solidaritätsprinzip.« Eine Krankenkasse hat sogar versucht, Druck auf chronisch Kranke auszuüben, um sie loszuwerden. Verantwortlich dafür ist der Gesetzgeber, so der Gesundheitsexperte Christoph Kranich von der Verbraucherzentrale Hamburg: »Schuld ist die Politik, die die Krankenkassen in den Wettbewerb gezwungen hat.« Reicht das Geld nicht, das die Kassen vom Gesundheitsfonds zugewiesen bekommen, müssen sie einen Zusatzbeitrag erheben – mit der Folge, dass die Versicherten abwandern. So stellt sich die Politik Wettbewerb im Gesundheitswesen vor. Deshalb geben die Krankenkassen so wenig Geld wie möglich aus. Mit katastrophalen Folgen: Mittel für Gesundheitsförderung und Prävention werden gekürzt, Kranke müssen um Therapien und Hilfsmittel kämpfen – oder sie werden verdächtigt, zu simulieren. Und das in einem schier unglaublichen Umfang. Im vergangenen Jahr haben die Krankenkassen 1,5 Millionen Mal kontrollieren lassen, ob Arbeitnehmer wirklich arbeitsunfähig sind – trotz ärztlichen Attests. In 234 000 Fällen waren die Kassengutachter der Auffassung, die Beschäftigten sollten die Arbeit wieder aufnehmen.