Polo, Medienaktivist, im Gespräch über Geschichtspolitik

»Alles Unrecht hat eine Grenze«

Das Fernsehen ist in Chile das tonangebende Medium. Öffentliche oder staatliche Kanäle gibt es nicht. Mit den Verbrechen der Diktatur setzt man sich kaum auseinander. Vielleicht auch deshalb stieß die Dokumentation »Las Imágenes Prohibidas« (Die verbotenen Bilder) auf Chilevisión auf großes Interesse. Darin werden der Putsch von 1973, die Demonstrationen und die Repression der achtziger Jahre gezeigt. Polo, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte, ist Mitbegründer des Community-Fernsehens Señal 3 in Santiago. Die Debatte um den Film ist für ihn nur der Anfang einer umfassenderen Auseinandersetzung mit der politischen Geschichte des Landes.

In Chile gibt es seit einigen Jahren das »Museum der Erinnerung«, das die Geschichte der Diktatur aufarbeitet. Doch erst eine Fernseh-Dokumentation schaffte es, eine Debatte an­zustoßen. Wie erklären Sie sich das?
Es gab 40 Jahre lang keine Gerechtigkeit in diesem Land. Die Wunden vieler Gräueltaten sind nach wie vor offen. Doch davon ist in den Fernsehsendungen, die den 40. Jahrestag des Putsches thematisieren, nicht die Rede. Sie schauen mit Distanz auf die Geschichte. Auch »Las Imágenes Prohibidas« ist davon nicht gänzlich frei.
Welche Perspektive vermissen Sie?
Ich war sieben Jahre alt zum Zeitpunkt des Putsches und erinnere mich, wie die Panzer durch die Straßen von La Victoria rollten. Ich erinnere mich an die Einsätze des Militärs und des Geheimdiensts, die in einem armen Viertel alles kaputtschlugen. Ich habe die Diktatur am eigenen Leib erfahren, die Verhaftungen, die Konzentration auf Sportplätzen in den achtziger Jahren, als wir mitunter stundenlang auf dem Boden liegen mussten.
Aber gerade die Panzer und die Verhaftungen in La Victoria und anderen poblaciones (aus Besetzungen von Arbeitern entstandene Viertel, Anm. d. R.) werden im Film gezeigt. Hat Chilevisión damit nicht ein Tabu gebrochen?
Mag sein, aber man darf nicht vergessen, dass auch Chilevisión eine Mitverantwortung dafür trägt, dass nach dem Ende der Diktatur diese Bilder nirgendwo zu sehen waren. Allein die selbstorganisierten Community-Fernsehsender in den poblaciones haben Dokumentationen wie »La Batalla de Chile« ausgestrahlt, die die Auseinandersetzung mit der Geschichte vorangetrieben haben. Wir haben in La Victoria ab 1993 immer wieder auf der Straße Leinwände aufgebaut und Videos über die Diktatur gezeigt.
Der Film will auch jene Generationen erreichen, die nach der Diktatur geboren wurden. Sound und Bildsprache gleiten mitunter in eine History-Channel-Ästhetik und ins Melodramatische ab. Ist das legitim, solange damit Inhalte transportiert werden, die es sonst nicht ins Programm schaffen würden?
Die Machart des Films hat ihre gute und schlechte Seite. Die gute ist, dass darin Menschen zu Wort kommen, die in den gezeigten Szenen zu sehen sind. Die schlechte Seite ist, dass sich ­unter ihnen auch Vertreter des Militärs befinden, die sich rückblickend als Friedenstauben inszenieren dürfen, ohne dass kritisch nachgefragt wird. In jedem Fall sind die Bilder der Dokumentation heftig für alle, die bisher keinen Zugang zur visuellen Erinnerung an die Diktatur hatten. Inhaltlich enthält der Film ­wenig Neues.
Geht es nicht eher darum, einen Dialog zwischen den Generationen zu fördern? Viele junge Menschen in Chile sagen, ihre Eltern hätten von der Repression nie erzählt.
Es kommt nicht nur darauf an, über etwas zu sprechen, sondern auch auf die Art der Erzählung. Die Debatte wird noch bis zum 11. September anhalten. Doch danach wird das Thema vermutlich schnell wieder in Vergessenheit geraten. Für meinen Geschmack setzt Chilevisión auf einen Schockeffekt. Mit den Bildern des Putsches zu beeindrucken, ist dann wiederum nicht so neu.
Der Film stellt die Repression in den pobla­ciones in den Mittelpunkt. Teilen der chilenischen Linken wird vorgeworfen, ihr Blick auf die Vergangenheit sei elitär und zu stark auf Exilerfahrungen der Mittelschicht gerichtet.
Die Menschen aus den poblaciones waren die Protagonisten des Widerstands. Ohne sie hätte die Diktatur in Chile noch länger gedauert. Dass es Folter gab und wir keine Chancen hatten, hat uns Jugendliche damals radikalisiert. Linke, die Geld oder Kontakte hatten, gingen zum größten Teil ins Exil und nahmen später wieder ihren Platz in der Gesellschaft ein. Wir dagegen blieben und erlebten in den achtziger Jahren einen Krieg gegen die Armen.
Davon ist in der Dokumentation nichts zu ­sehen, alle Interviews, auch in den poblaciones, finden vor frisch getünchten Häuserwänden und asphaltierten Straßen statt. Ist das Zufall?
Die visuelle Erinnerung an 1973 wurde im Zentrum Santiagos vollständig getilgt. Das Gleiche geschah in den poblaciones. Die Straßen und die öffentliche Infrastruktur wurden verbessert. An der Armut der Menschen, die hier leben, hat sich jedoch wenig geändert. Der Unmut über die soziale Benachteiligung ist nach wie vor groß und erklärt den verbreiteten Drogenmissbrauch sowie die gewaltsamen Proteste, die den 11. September jedes Jahr begleiten.
Ein ehemaliger Technokrat der Regierung unter Pinochet behauptet im Film, die staatlichen Institutionen trügen keine Verantwortung für Verbrechen, die von einzelnen Individuen begangenen worden seien und sinniert, dass keine Diktatur perfekt sei, sonst wäre der Zweite Weltkrieg anders ausgegangen. Gibt es Reaktionen auf diesen selbsterteilten Freispruch und auf die unverhohlene Sympathie mit dem faschistischen und Nazi-Regime?
Weder im Fernsehen noch in der Gesellschaft wird darüber diskutiert. Lediglich die Angehörigen der verschwundenen Verhafteten haben sich öffentlich darüber empört, dass solchen Lügnern Raum gegeben wird, um ihre Verklärung der Vergangenheit zu präsentieren. Da frage ich mich auch, ob die Komplizenschaft der Medien mit den zivilen Mitarbeitern der Diktatur in diesem Film wirklich aufgekündigt wird.
In Argentinien spricht man in Bezug auf die eigene Vergangenheit von einer »militärisch-zivilen« Diktatur. Dieses Verständnis ist auch die Grundlage der Strafverfolgung damaliger Verbrechen. Wie weit ist Chile von einem ähnlichen Selbstverständnis entfernt?
In Chile dominiert seit Jahrzehnten die Straf­losigkeit. Noch immer ist das Schicksal vieler verschwundener Verhafteter ungewiss. Die zivilen Protagonisten der Diktatur sitzen bis heute im Parlament. Irgendwann wird sich der Unmut darüber Luft machen. Die Demonstrationen haben in den vergangenen Jahren zugenommen, die Einstellung derer, die heute auf die Straße gehen, ist eine andere als noch vor zehn Jahren. Alles Unrecht hat eine Grenze.
Welche sind die »verbotenen Bilder« in Chile heute?
Wir haben im vergangenen Jahr landesweit Workshops mit Community-Fernsehen organisiert, um bei der Produktion »verbotener Bilder« oder zumindest von Bildern, die sonst nirgendwo gezeigt werden, zu helfen. Wir haben eine Gemeinde in der Nähe von Arica, im Norden des Landes, besucht, wo Menschen ihre Häuser auf einer nicht gekennzeichneten Giftmülldeponie eines schwedischen Bergbauunternehmens errichtet haben und nun an Krebs leiden. Wir haben im Süden gefilmt, wo gegen den Widerstand der Bevölkerung Wasserkraftwerke gebaut werden. Wir haben Interviews in den indigenen Mapuche-Gemeinden geführt, in den Protestcamps von Gewerkschaftern, in den überfüllten öffentlichen Krankenhäusern, in denen Menschen jahrelang auf eine Bruchoperation warten müssen und Betten auf den Fluren stehen. Das ist das Chile, das wir mit unseren Mitteln zeigen müssen.