Lecks und Leaks in Fukushima

Das Fass läuft über

Im zerstörten japanischen Atomreaktor des Konzerns Tepco in Fukushima gibt es mehr hochgefährliche Lecks als bisher zugegeben. Die Regierung Japans, die Atomenergie weiterhin befürwortet, will nun endlich einschreiten.

Gut zwei Jahre nach der Katastrophe bleibt die Lage am havarierten Atommeiler Fukushima Daiichi kritisch. Im August erklärte der japanische Elektrizitätskonzern Tepco, dass man das bisher größte radioaktive Leck seit der Erdbeben- und Tsunamikatastrophe vom 11. März 2011 entdeckt habe. Rund 300 Tonnen verseuchten Wassers sind ausgetreten. Japans Atomaufsichtsbehörde wertete das radioaktive Leck als »ernsten Störfall« und stufte den Zwischenfall auf Stufe 3 der bis 7 reichenden internationalen Skala für Atomun­fälle ein.
Masayuki Ono, der Pressesprecher von Tepco, ließ in einer offiziellen Erklärung des Konzerns verlautbaren, dass eine große Menge des kontaminierten Wassers im Boden versickert sei. Auch könne man nicht ausschließen, dass das verseuchte Wasser ins Meer abfließe. Unmittelbar um die betroffenen Tanks stellten Arbeiter Strahlenwerte von 100 Millisievert pro Stunde fest. Eine solche Strahlenbelastung gilt für Menschen als gesundheitsgefährdend. Tepco zufolge enthält das ausgetretene Wasser unter anderem hohe An­teile von Strontium. Das Wasser wurde zum Kühlen der Brennstäbe in den zerstörten Reaktoren verwendet. Beobachter befürchten nun, dass die radioaktive Substanz sich mit den täglich rund 400 Tonnen Grundwasser vermischen könnte, das in die havarierten Reaktoren eindringt. Die Lage auf dem Gelände von Fukushima Daiichi ist damit gefährlicher, als es Tepco bisher öffentlich ein­geräumt hat. Tatsächlich gab es bereits seit zwei Jahren Berichte über derartige Lecks und mangelnde Sicherheitsstandards. Erst im Juli dieses Jahres bestätigte Tepco erstmals das Austreten radioaktiv verseuchten Wassers.

Seit Monaten kämpft Tepco mit knappen Lagerkapazitäten und immer neuen Lecks. Derzeit werden mehr als 430 000 Tonnen verseuchten Kühlwassers in rund 350 Auffangtanks auf dem Gelände der Atomruine gelagert. Ursprünglich ging Tepco davon aus, dass es die Behälter bis zu fünf Jahre nutzen könne. Die neuen Lecks traten jedoch in Anlagen auf, die erst vor knapp zwei Jahren installiert wurden. Berichte von Arbeitern über zahlreiche kleinere Lecks ließen früh Zweifel an der Sicherheit der Auffangbehälter aufkommen. Kritiker wie der renommierte Experte für Nuklearanlagen der Hosei Universität, Hiroshi Miyano, bemängelten öffentlich, dass die Anlagen kaum einem größeren Erdbeben standhalten würden. Auch Japans Behörden geben sich kritisch. Tepco führe weder Aufzeichnungen über die Wartung der Anlagen, noch sei bei der Planung das Risiko derartiger Lecks bedacht worden, konstatierte Toyoshi Fuketa von der japanischen Atomaufsichtsbehörde vergangene Woche gegenüber der Presse. »Mir scheint, die Wartungen der Anlagen sind nur nachlässig durchgeführt worden«, so Fuketa weiter. Auch der Chef der japanischen Atomaufsicht, Shunichi Tanaka, hatte in der vergangenen Woche öffentlich Tepcos Fähigkeit in Frage gestellt, die Lage in Fukushima in den Griff zu bekommen.
In der japanischen Regierung wächst der Unmut über Tepco, einst eines der einflussreichsten Unternehmen des Landes. Seit Jahren macht der Energiekonzern mit mangelnder Transparenz und mangelnden Sicherheitsstandards Schlagzeilen. Er hat konsequent Warnungen über mögliche Gefahren eines Tsunamis ignoriert und Mängel an seinen Atomanlagen vertuscht. Dass die Reaktorkatastrophe in weiten Teilen hausgemacht ist, wird in Japan kaum mehr bezweifelt. Unterdessen macht sich der neue Chef von Tepco, Naomi Hirose, rar. Hirose, der im Juli 2012 sein Amt antrat und eine neue Unternehmenskultur versprach, hat es bisher nicht vermocht, für mehr Transparenz in seinem Konzern zu sorgen. Bereits im vergangenen Jahr versuchte die damalige Regierung unter Führung der Demokratischen Partei (DPJ), das Unternehmen umzubauen und die Verfilzung zwischen Atomlobby und Politik zu bekämpfen. Der Staat wurde Mehrheits­eigner an Tepco und versprach sich davon größeren Einfluss im Management des Unternehmens. Viel wurde daraus nicht. Tepco erwies sich als immun gegen äußere Angriffe. Umso größer ist der Unmut in der japanischen Bevölkerung – nur wenige sind davon überzeugt, dass Tepco Lehren aus dem Desaster gezogen hat.

Tepcos Versagen beim Rückbau der Atomruine in Fukushima wird zu einem ernsthaften innen­politischen Problem für die Regierung von Ministerpräsident Shinzo Abe. Abe, der seine Liberaldemokratische Partei (LDP) im Dezember vergangenen Jahres zurück in die Regierung führte, gilt als Befürworter der Kernenergie. Seit Jahrzehnten ist die LDP eng mit der japanischen Atomlobby verbunden. Abe selbst spricht sich klar für die Wiederinbetriebnahme der japanischen AKW aus. Infolge der Kernschmelze von Fukushima wurden alle Reaktoren für Sicherheitstests vom Netz genommen. Auch zwei Jahre nach der Katastrophe laufen nur zwei der insgesamt 50 Reaktoren wieder. Japans Bevölkerung ist mehrheitlich gegen die Wiederinbetriebnahme der AKW. Bereits im vergangenen Jahr wurde klar, dass der Atomausstieg im Kreise der japanischen Politik und Wirtschaft kaum mehr konsensfähig war. Seit Jahren investieren japanische Konzerne wie Toshiba und Hitachi in die Kernenergietechnik. Japans Industriepolitik baut auf den Export der eigenen Nuklearanlagen. Will Abe die Unterstützung der Bevölkerung für seine Energiepolitik gewinnen und alle AKW wieder ans Netz bringen, muss die Regierung für das Fiasko bei Tepco Verantwortung übernehmen.
Bereits Anfang August erklärte Abe das Krisenmanagement im Fall Fukushima zur Chefsache und bezeichnete die Verbesserung der Situation im Atommeiler als ein »dringendes Anliegen« seiner Regierung. Er stellte Sofortmaßnahmen in Aussicht und versprach, Tepco zu helfen – mehr als zwei Jahre nach der Atomkatastrophe.

Hatte man Tepco bisher weitgehend freie Hand gelassen, erklärte Japans Industrieminister Toshimitsu Motegi in der vergangenen Woche, dass sich sein Ministerium nun stärker ins Krisen­management einmischen werde. 12,5 Milliarden Yen (rund 100 Millionen Euro) will Motegi im Haushalt seines Ministeriums für Aufräumarbeiten am Katastrophenmeiler veranschlagen. Das sind 44 Prozent mehr als in diesem Jahr. Mit Steuergeld soll unter anderem die aufwendige Er­richtung eines Sperrwalls finanziert werden, der das Eindringen von täglich 400 Tonnen Grundwasser in die betroffenen Atomreaktoren verhindern soll. Die Pläne sehen vor, die Arbeiten im Oktober 2015 abzuschließen.
Derweil erklärte Tepco, im November mit der Entfernung der 1 300 genutzten Brennelemente in Reaktor 4 zu beginnen. Ein Jahr soll diese Aktion dauern. Vorsichtige Schätzungen in Japan ­gehen davon aus, dass der Rückbau der Atomruine rund elf Milliarden US-Dollar kosten und mehr als 40 Jahre in Anspruch nehmen wird. Tepcos prekäre Finanzlage dürfte zur derzeitigen Krise des Konzerns beigetragen haben. Neben den Kosten für den Rückbau belasten die Entschädigungszah­lungen an die Opfer der Katastrophe den Konzern.
Allein in den vergangenen zwei Jahren wurden 15 Milliarden US-Dollar in die Dekontaminierung betroffener Regionen investiert – mit begrenztem Erfolg. Nur wenige der 100 000 Menschen, die im März 2011 vor der Strahlenkatas­trophe flüchteten, sind bisher in ihre Heimat zurückgekehrt. Fukushimas Dörfer verfallen und die Jugend kehrt der Region den Rücken. Diejenigen, die bleiben, sehen sich mit Gesundheits­ri­siken konfrontiert. So berichtete die japanische Tageszeitung Asahi Shimbun im August, dass lokale Behörden in Fukushima einen weiteren Anstieg von Schilddrüsenkrebs bei Kindern im Alter von bis zu 18 Jahren verzeichneten. Demnach wurden bei Untersuchungen von 210 000 Kindern seit der Reaktorkatastrophe weitere 18 Krebsfälle sowie 25 Verdachtsfälle diagnostiziert. Die Zahl der berichteten Fälle seit der Reaktorkatastrophe ist damit von 28 im Juni auf derzeit 44 gestiegen. Wissenschaftlich lässt sich jedoch nicht ein­deutig nachweisen, dass diese Fälle in unmittelbarer Beziehung zur Katastrophe im AKW Fukushima Daiichi stehen. Die Untersuchung soll auf alle 360 000 Kinder in der Präfektur ausgeweitet und in regelmäßigen Abständen wiederholt werden.