Die Wirtschaftspolitik unter Pinochet

Das Scheitern der Chicago Boys

Die ersten zehn Jahre der an den Lehren der »Chicago Boys« orientierten Wirtschaftspolitik des Pinochet-Regimes waren ein einziges Desaster.

1982 war der General mit seinem Latein am Ende. Die Wirtschaftsleistung des seit dem blutigen Putsch vom 11. September 1973 von Augusto Pinochet regierten Chile brach um 19, die Indus­trieproduktion gar um 21 Prozent ein, die Arbeitslosigkeit erreichte den Rekordwert von annähernd 30 Prozent – allein in der Indus­trie waren in einem Jahrzehnt 177 000 Stellen weggefallen – und die Inflation stieg binnen eines Jahres von 9,5 auf 20,7 Prozent, im darauffolgenden Jahr auf über 23 Prozent. Zudem hatten die keinerlei Regulation unterliegenden Finanzinstitute des Landes, denen ein Großteil der indus­triellen und gewerblichen Vermögenswerte gehörten, einen Schuldenberg von über 14 Milliarden Dollar angehäuft, was deutlich mehr als der Hälfte des chilenischen Bruttoinlandsprodukts entsprach. 16 von 50 Instituten mussten Konkurs anmelden. Das »Wunder von Chile«, das der Propagandist einer von allen staatlichen Zwangsmaßnahmen befreiten Marktwirtschaft, Milton Friedman, noch am 25. Januar des Jahres in seiner Newsweek-Kolumne ausgerufen hatte, hatte sich vollends als Trugbild erwiesen.

Begonnen hatte die chilenische »Schocktherapie« (Friedman) noch in der Regierungszeit des seit 1970 regierenden sozialistischen Präsidenten Salvador Allende, dessen halbherzige Verstaatlichungen und Wohlfahrtsprogramme dem konservativen Establishment Chiles bereits viel zu weit gingen. Im September 1971 hatten sich dessen Vertreter auf einer vom Militär und dem von Orlando Sáenz geführten Industriellenverband organisierten Konferenz darauf geeinigt, dass sich Allendes Regierung nicht »mit der Sicherheit in Chile und der Existenz von Privatunternehmen« vertrage und daher so bald wie möglich weggeputscht werden müsse. Überdies müssten »spezifische wirtschaftliche Programme als Alternativen zu den Regierungsprogrammen« ausgearbeitet werden. Auch US-amerikanische Institutionen waren involviert. 1975 stellte ein Ausschuss des US-Senats fest, dass die CIA daran beteiligt gewesen sei, »einen umfassenden Wirtschaftsplan auszuarbeiten, der die Grundlage für die wichtigsten ökonomischen Entscheidungen der Junta« gebildet habe.
Mit der Ausarbeitung war eine Gruppe von Ökonomen um Sergio de Castro und Sergio Undurraga beauftragt. Beide hatten ebenso wie sechs der acht anderen Teilnehmer und etwa 100 weitere Studenten an dem Austauschprogramm zwischen den Wirtschaftsfakultäten der Katholischen Universität Santiago und der Universität von Chicago teilgenommen, wo Friedman und Arnold Harberger sie stramm auf eine ultraliberale Linie getrimmt hatten. Das Ergebnis überraschte nicht. Die über 500seitige Studie, die pünktlich am 12. September – einen Tag nach dem Putsch – den nun herrschenden und wie entfesselt ihre Gegner ermordenden Generälen übergeben wurde, enthielt konkrete Pläne für die in Friedmans »Kapitalismus und Freiheit« vorgeschlagene Kombination aus Privatisierungen, Deregulierung und heftigen Kürzungen bei den Staats- und vor allem Sozialausgaben.
Fieberhaft wurde mit der Umsetzung begonnen. »Die ›Chicago Boys‹, wie sie in Chile hießen«, schrieb Allendes Botschafter in Washington, Orlando Letelier, der später dort von chilenischen Agenten ermordet wurde, »überzeugten die Generäle davon, dass sie bereit waren, die dem Militär eigene Brutalität mit ihren intellektuellen Errungenschaften (…) zu unterstützen.« Viele der in Staatsbesitz befindlichen Betriebe und Banken wurden privatisiert, der Finanzsektor dereguliert, die Importzölle von 74 auf zunächst 33 und spä­ter zehn Prozent reduziert, während der staatliche Etat gleich im ersten Jahr um zehn Prozent gekürzt wurde. Lediglich der Militäretat wurde erhöht.
Das Ergebnis war verheerend. Das Bruttoinlandsprodukt, das 1973 noch etwa 18 Milliarden US-Dollar betragen hatte, war bis 1975 auf magere 7,9 Milliarden geschrumpft. Die Inflationsrate, die im Krisenjahr 1973 bereits auf das Rekordhoch von 508 Prozent geklettert war, sank bis Ende 1975 lediglich auf etwas mehr als 340 Prozent und die Arbeitslosenquote schnellte gar von drei Prozent im Jahre 1972 binnen drei Jahren auf über 15 Prozent nach oben. Selbst Industriellenboss Sáenz erklärte die »Schocktherapie« zu ­einem »der größten Misserfolge unserer Wirtschaftsgeschichte«.

Trotz dieses offensichtlichen Scheiterns fand keine Umorientierung statt. Im Gegenteil: Im März empfing Pinochet Friedman und Harberger, die die Junta darin bestärkten, die »Hindernisse zu beseitigen, die jetzt den privaten Markt einschränken«. Mit der konsequenten Umsetzung – Pinochet hatte in einem offenen Brief an Friedman dies »in vollem Umfang« zugesagt – wurde nun de Castro als neuer Wirtschaftsminister beauftragt. Bis auf die staatliche Kupfergesellschaft Codelco wurden alle 500 noch in öffentlichem Besitz befindlichen oder mit staatlichen Beteiligungen versehenen Betriebe privatisiert, wobei zumeist Gefolgsleute des Regimes großzügig bedacht wurden. Weiterhin wurden die öffentlichen Ausgaben stark gekürzt; 1976 gleich um 27 Prozent, bis sie 1980 weniger als die Hälfte des Niveaus unter Allende hatten. Das Schulsystem, die Kranken- und die Rentenversicherung wurden ebenfalls weitgehend privatisiert.
Befeuert durch das Verbot von Gewerkschaften und Streiks sowie die permanente Repression gegen die Reste der Arbeiterbewegung in den Betrieben, sanken die Durchschnittslöhne der Arbeiter von 1973 bis 1980 um 17 Prozent. Hinzu kam noch, dass die unteren Lohngruppen deutlich schlechter gestellt waren und durch die Privatisierungen zusätzliche Gelder für das Schulgeld und die diversen Sozialversicherungen aufgebracht werden mussten. Während selbst 1975 noch etwa 50 Prozent der staatlichen Haushaltsmittel für Soziales ausgegeben worden waren, betrug diese Quote 1980 nur noch 32 Prozent – und dies bei einem insgesamt fast halbierten Etat. Die durch die zeitweise eingeführte Dollarbindung des Peso auf etwa 20 Prozent pro Jahr beschränkte Inflation tat ihr Übriges. Selbst der Economist sprach 1982 in Hinblick auf die Lebensumstände der chilenischen Bevölkerung von einer »Orgie der Selbstverstümmelung«. Als Pinochets Regentschaft 1990 endete, lebten 45 Prozent der Chilenen unter der Armutsgrenze, während die reichsten zehn Prozent ihr Vermögen fast hatten verdoppeln können. »Ohne militärische Gewalt und politischen Terror«, schrieb der aus der Univer­sität von Santiago gejagte Ökonom André Gunder Frank, hätten diese Maßnahmen nicht durchgesetzt werden können.
1982 aber half alles nichts mehr. Das System erodierte, weil durch Dollarbindung und fehlende Importzölle die Handelsbilanz immer negativer geworden war, steigende Ölpreise die Kosten in die Höhe trieben und die Banken auf haufenweise faulen Krediten saßen. Anfang der achtziger Jahre sah es in Chile nicht besser aus als derzeit in Griechenland. Ironischerweise waren es gerade die Einnahmen aus der staatlichen Kupfergewinnung – bis heute ist Chile das Land mit der weltweit höchsten Förderung –, die das Land vor dem Staatsbankrott retteten. Nachdem man die »Chicago Boys« vom Hof gejagt hatte, ging der neue Finanzminister Hernán Büchi zu einem »pragmatischen Neoliberalismus« über. Die sieben bedeutendsten Banken und einige ehemalige Staatsbetriebe wurden bei voller Entschädigung der Gläubiger erneut verstaatlicht, Agrarsubventionen und Importzölle wiedereingeführt und eine flexi­ble Währungspolitik betrieben. Die Staatsquote in der zweiten Phase der Wirtschaftspolitik unter Pinochet stieg auf 34 Prozent – ein Wert, den die Allende-Regierung nie erreicht hatte –, doch all das brachte nicht das »Wunder von Chile«. Der Anteil des Landes am Welt-Bruttosozialprodukt war allem Terror zum Trotz zwischen 1973 und 1990 von 3,54 Prozent auf 1,53 Prozent gefallen. Für ­Pinochets Günstlinge, in Chile »Piranhas« genannt, haben sich die 17 Jahre freilich gelohnt.