Die Folgen von Pinochets Diktatur

Ein schweres Erbe

Auch nach dem Ende der von 1973 bis 1990 währenden Diktatur in Chile blieben die in dieser Zeit geschaffenen politischen und ökonomischen Strukturen weitgehend bestehen. Die Demokratisierung ist noch nicht abgeschlossen.

40 Jahre nach dem Putsch vom 11. September 1973 ist das einstige Chile Salvador Allendes nur noch eine blasse Erinnerung, das Erbe der Diktatur Augusto Pinochets dagegen ist geblieben. Im September 1973 hatte Chile um die 9,5 Millionen Einwohner, der jüngsten Zählung dieses Jahres zufolge sind es inzwischen mehr als 16 Millionen. Chile hat sich nicht nur verändert, weil die Welt sich verändert hat, sondern auch weil die Militärdiktatur auf Repression gegenüber allen fußte, die anders dachten als die rechten Putschisten und die militärischen Verräter. So konnte sie die Bedingungen für die Einführung des Neoliberalismus schaffen, im ideologischen, politischen wie ökonomischen Sinne.

Aber wie sah Chile vor der Diktatur aus? In einer Rede vor den Vereinten Nationen im Jahr 1972 beschrieb der damalige sozialistische Präsident Salvador Allende sein Land und dessen Bevölkerung so: »Ich komme aus Chile, einem kleinen Land, in dem heute aber jeder Bürger sich frei nach seinen Vorlieben äußern kann, in dem unbegrenzte kulturelle, religiöse und ideologische Toleranz herrscht, in dem Rassendiskriminierung keinen Platz hat.«
Ganz so dürfte es zwar nicht gewesen sein. Doch auch wenn die Wirtschafts- und Sozialpolitik seit Allendes Amtsantritt, die die Verstaatlichung von Unternehmen und eine Landreform beinhaltete, einige Fehler aufwies – so stieg die Inflation bald enorm an und es kam zu Versorgungsengpässen –, verbesserte sich für große Teile der armen Bevölkerung die Situation unter Allende. Im ersten Jahrzehnt nach dem Militärputsch verarmte Chile hingegen, der Anteil der Bevölkerung, der unter extremer Armut litt, stieg schließlich auf über 40 Prozent. Die Arbeitslosigkeit wuchs, die Löhne sanken. Doch die Importe füllten die Schaufenster der neuen Geschäfte und Einkaufszentren, die sich im ganzen Land auszubreiten begannen, und die Inflation nahm ab. Im Alltag bildete sich die Konsumkultur als ideologische Stütze des Regimes.
Seit den neunziger Jahren, inmitten der Übergangszeit zur Demokratie, bewirkte dieses auf Krediten basierende System einen kulturellen und politischen Wandel. Wettbewerbsorientierung hatte Solidarität als herrschendes Prinzip abgelöst. Ein großer Teil des Landes wurde modernisiert. Ein Beispiel dafür ist seine Verkehrsinfrastruktur, inklusive Flughäfen und von Privatunternehmen betriebener Fernstraßen. Die Banken stellten immer mehr öffentliche Geldautomaten auf. Die Unternehmer transnationalisierten sich und machten gute Geschäfte.
Pinochet und die wirtschaftsliberale konservative Rechte waren aber auch für andere Rekordzahlen verantwortlich: Man weiß, dass es allein bis 1983 bereits mehr als 3 000 »verschwundene« Verhaftete gab und eine Million Chileninnen und Chilenen ins Exil gingen. In den Gefängnissen wurden Bereiche für politische Häftlinge eingerichtet.
Für Chileninnen und Chilenen, die sich an den Verrat gut erinnern, ist das heutige Chile ein Land voller Paradoxien. Obwohl die Armut Statistiken zufolge inzwischen unter 14 Prozent liegt, während der Anteil der in extremer Armut Lebenden auf drei Prozent gesunken ist und die Erwerbslosenquote bei 6,2 Prozent liegt, berichten das Fernsehen und die Presse ständig von innerfamiliärer Gewalt, von Femiziden, Delinquenz und Unsicherheit in den Städten sowie von Betrug und Korruption.

Das System Pinochets hat in den 23 Jahren seit der Rückkehr zur Demokratie keine großen Reformen durchgemacht. In den achtziger Jahren hatten sich viele Chileninnen und Chilenen, vor allem junge, die heute die »Generation der Achtziger« genannt werden, organisiert, um die studentischen Körperschaften zurückzuerobern und Zentren für Populärkultur zu gründen. Vor allem kämpften sie dagegen, dass weiterhin Menschenrechte missachtet werden, und für eine schnelle Rückkehr zur Demokratie. Einige Führungspersonen dieser Generation stellten fest, dass das Chile, das sie aus ihrer Kindheit kannten, sich verändert hatte, und dass das heutige das Erbe der Diktatur ist.
Trotz der stetigen Proteste gegen die Diktatur zwischen 1983 und 1986 garantierte das »Nationale Abkommen für den Übergang zur Demokratie«, das zwischen der Regierung des Diktators und einer Koalition aus christdemokratischen und linken Parteien geschlossen wurde, dass Pinochet bis 1990 Präsident und sogar bis 1998 Oberbefehlshaber der Armee bleiben konnte. Die institutionellen Strukturen des Regimes, die er begründet hatte, wurden nur oberflächlich reformiert. Der Diktator wurde sogar Senator auf Lebenszeit, eine der Notmaßnahmen, die man erfand, um ihn bis zu dem Tag im Oktober 1998 an der Macht zu halten, an dem er in London wegen Verbrechen gegen die Menschheit verhaftet wurde. Er wurde jedoch bis zu seinem Tod 2006 nicht verurteilt.
Die Regeln für das demokratische Spiel waren durch die noch unter Pinochet verabschiedete Verfassung von 1980 festgelegt. Das binomiale Wahlsystem verurteilte die Bürger dazu, zwischen zwei großen Blöcken zu entscheiden, den Rechten und der Mitte-Links-Koalition. Ausgeschlossen wurden dadurch wichtige gesellschaftliche Gruppen, vor allem soziale Bewegungen und die sozial engagierte Stadtbevölkerung. Die Politik und die Politiker sind eher Teil eines me­dialen Spektakels.
So wurde in Chile das neoliberale System politisch konsolidiert. Dem Staat kommt eine Hilfsrolle zu, die Unternehmer werden als wichtigste Garanten für die Entwicklung des Landes verteidigt, zusammen mit der »nationalen Sicherheit«. Die Gesellschaft, die für ihre Rechte gekämpft hatte, trat in einen unerbittlichen Niedergang ein. In den neunziger Jahren konsolidierte sich die Privatisierung der Gesundheitsversorgung, die Verantwortung für die öffentliche Bildung wurde den Gemeinden übertragen und öffentliche Dienstleistungen sollten über Kredite selbst erworben werden. Die bestehenden Arbeitsge­setze atomisierten die gewerkschaftliche Organisation und unterwarfen sie einem undemokra­tischen Regime der Verhandlungsführung. Der christdemokratische Präsident Eduardo Frei Ruiz-Tagle (1994 bis 2000) der Mitte-Links-Koalition »Concertación de Partidos por la Democracia« schloss Ende der neunziger Jahre die Privatisierung der Kranken- und der Elektrizitätsversorgung ab.

Vier Jahrzehnte nach dem Tod von Präsident ­Allende ist Chile noch immer nur rudimentär demokratisiert. Das autoritäre Erbe Pinochets bleibt bestehen.
Angesichts der bevorstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in diesem Frühling in Chile, am 17. November, bilden neun Prä­sidentschaftskandidatinnen und -kandidaten die Fragmentierung der nationalen Politik ab. Ein Teil der Linken will aus einer unabhängigen Position die Concertación kritisch unterstützen, die von 1990 bis 2010 regierte und in ein neues Mitte-Links-Bündnis mit dem Namen »La Nueva Mayoría« (»Die neue Mehrheit«) mündete, an der auch die Kommunistische Partei Chiles teilhat. Repräsentiert wird die unabhängige Linke von einigen Führungspersonen der Studierendenproteste von 2011 und der sozialen Bewegungen. Auf der anderen Seite steht eine radikalere Linke, die sich Antikapitalismus und Globalisierungskritik auf die Fahnen geschrieben hat. Die chile­nische Linke, die zusammen fünf der neun Präsidentschaftskandidatinnen und -kandidaten stellt und so auf über 50 Prozent der Stimmen kommen könnte, eint das, was die Geschichte von 40 Jahren hinterließ: der Kampf für Menschenrechte, Wahrheit und Gerechtigkeit.
Bei der Bombardierung des Präsidentenpalastes »La Moneda« durch das putschende Militär geriet das Gebäude in Flammen. Die ganze Welt sah entsetzt die schrecklichen Bilder. Das Chile Allendes wurde ersetzt durch eine rechte Revolution, deren Erbe die Institutionalisierung der Diktatur ist. Vor 40 Jahren sagte Allende über die verstummenden Wellen des sabotierten Radio Magallanes: »Eher früher als später werden sich die großen Alleen öffnen, über die der freie Mensch gehen wird.« Ein Wandel zu einer neuen Demokratie, die das institutionelle Erbe Pinochets abschafft, ist bitter nötig.

Der Autor ist Journalist und Kommunikationswissenschaftler.

Aus dem Spanischen von Nicole Tomasek