Das Flüchtlingscamp auf dem Kreuzberger Oranienplatz

Flucht ins Ungewisse

Die Zukunft des Flüchtlingscamps am Berliner Oranienplatz bleibt ungewiss. Bis zur Bundestagswahl wird nicht viel passieren. Doch geduldet werden die rund 100 mitten in der Innenstadt campierenden Flüchtlinge wohl nicht mehr lange.

Tenemon Kamara will keine Fotos mehr. Schon die Frage macht ihn wütend. »Immer kommen die Reporter. Sie schreiben, dass wir Frauen vergewaltigen und dass es hier dreckig ist«, beschwert er sich. »Sie sagen, die Leute müssten erfahren, was hier los ist. Aber das wissen sie längst und es ändert sich gar nichts.«
Seit 72 Tagen lebt der Malier Kamara, 36 Jahre alt, in dem Protestcamp, das Flüchtlinge auf dem Kreuzberger Oranienplatz aufgeschlagen haben. An diesem Nachmittag im August hockt er auf einer Holzbank unter einem Vorzelt und schimpft in weichem Französisch, während er in der Hand Paprika zerschneidet. Es ist warm, unter einen Baum hält eine Unterstützerin einen Deutschkurs. Die Flüchtlinge sitzen in einer Reihe vor ihr; ein Schulbuchverlag hat einen Klassensatz Bücher gespendet, doch der Unterricht ist mühselig. Viele können ihre eigene Sprache kaum schreiben. Auf einer Bank neben Kamara hocken zwei Afrikaner, die mit einem selbstgebauten Dame-Brett spielen. Eine schöne Szene für den Fotografen, aber Ka­mara und die anderen haben die Nase voll.
»Die Regierung mag uns nicht, die Nachbarn mögen uns nicht«, sagt er lapidar. »Es gibt Leute, die kommen und sagen, dass wir gehen sollen.« Er zeigt mit dem Messer über die Büsche auf die Straße. Das Leben sei nicht einfach im Camp. Manchmal gebe es drei Tage nichts zu essen, das Zelt teilt er sich mit 17 anderen. »Keiner hier hat Arbeit. Aber ein Mann ohne Arbeit, was soll der tun? Sterben? Stehlen?«

Ohne Arbeit war Kamara auch in Mali. Seine Frau ließ sich scheiden und heiratete einen anderen. 2009 verließ er Bamako und ging nach Libyen. Es verschlug ihn in die Küstenstadt Zuwara, wo er Arbeit als Gärtner fand. »Dort war es gut für afrikanische Verhältnisse.« Bis 2011, dann begann der Krieg. »Die Nato hat gebombt, die Rebellen haben alles zugemacht. Sie hielten uns für Gaddafis Helfer.« Kamara floh. 900 Dollar zahlte er für die Passage nach Lampedusa, 300 Menschen waren auf dem Boot, es war die Zeit, in der Tausende, die dasselbe taten, ertranken. »Alle hatten Angst, dass das Boot zerbricht«, sagt er. Es zerbrach nicht. Im Mai 2011 kam Kamara auf Lampe­dusa an und hatte noch 1 000 Dollar Erspartes in der Tasche. »Ich habe nicht an die Zukunft gedacht und nicht an die Vergangenheit«, sagt er. Er hatte keine Vorstellung, was ihn erwartet.
Die Italiener steckten ihn in Notunterkünfte, die sie wegen der Libyen-Krise errichtet hatten. Dort gab es Essen und einen Schlafplatz. Doch irgendwann war der Krieg vorbei, Kamara gilt seither als »normaler« Flüchtling. Sie brachten ihn nach Rom und dort bekam er, was normale Flüchtlinge in Italien bekommen: nichts. »In Rom war es sehr schwer, wir waren sehr viele, mussten auf der Straße leben.« Das Ersparte war bald aufgebraucht. Nach einer Zeit erbarmte sich die Kirche, nahm ihn auf. Der Asylantrag hingegen war einfach. Eine Kommission, drei Männer, 30 Minuten. Es gab eine Dolmetscherin für Bambara, Kamaras Sprache. Mittlerweile war es die Zeit des Bürgerkriegs in Mali; sein Dialekt reichte als Herkunftsnachweis. Nach kurzer Zeit bekam er einen Flüchtlingspass, darin ein Stempel, der ihm ein drei­jähriges Aufenthaltsrecht in Italien garantiert. Und 500 Euro als Starthilfe.
»Die Italiener haben es nicht direkt gesagt, aber alle wussten, dass wir mit dem Stempel und dem Geld woanders hingehen sollten«, sagt Kamara. Und wohin? »Deutschland ist ein wichtiges Land, es kann etwas für uns tun.« Woher er das wusste? Er zuckt mit den Schultern. Gekannt hat er hier niemand, gehört von Deutschland schon viel. Er kaufte ein Ticket Rom-München, am 5. Juni erreichte er den Bahnhof.
Die Polizei nahm ihn mit, trotz gültigen Schengen-Visums. »Ich habe die Polizisten gefragt, wo die Einwanderungsbehörde ist, wo ich hin kann.« Ein Beamter erzählte ihm von dem Camp in Berlin, ein Schaffner half ihm mit dem Automaten, sein Geld aus Italien reichte noch. Am 7. Juni­ ­erreichte er Kreuzberg.
Im Kreuzberger Camp kristallisieren sich die Kämpfe der größten Flüchtlingsbewegung in der Bundesrepublik. Nach einem 600 Kilometer langen Marsch im vorigen Jahr errichtet, als Mahnmal gegen die deutsche Asylpolitik, als Ausgangspunkt für Aktionen und als neuer Wohnort für Flüchtlinge, die sich nicht länger vom Staat disziplinieren lassen, die der zermürbenden Ödnis der Heime entrinnen und nicht länger die Residenzpflicht befolgen wollen. Doch während das Camp in den ersten Monaten von einer Welle der Solidarität getragen, mit Spenden überhäuft und Gegenstand ausführlicher Berichterstattung der großen Medien wurde, hat sich die Stimmung in der Stadt langsam geändert: Die Gegner der Flüchtlinge sind seit Wochen in der Offensive.

Konservative Medien griffen einen Artikel auf Indymedia auf, der sich so interpretieren ließ, als habe eine Frau dort ihre Erfahrungen mit einer Vergewaltigung im Camp geschildert – obwohl der beschriebene Vorfall weder mit dem Camp noch mit seinen Bewohnern zu tun hatte. Rechte Politiker sammeln Unterschriften, auch bei migrantischen Anwohnern. Innensenator Frank Henkel (CDU) erneuerte vergangene Woche seine Ankündigung, den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg zu zwingen, den »rechtswidrigen Zustand« zu beenden, der die Besiedlung der kleinen Parkfläche durch die Flüchtlinge geschaffen habe. »Das kann ich als Innen- und Verfassungssenator nicht über Monate dulden«, sagte Henkel. Er will offenbar vom Bezirk verlangen, eine »Genehmigung zur Sondernutzung öffentlichen Straßenlandes« zu erteilen. Dann wären Berichten zufolge Gebühren von mindestens 12,50 Euro pro Quadratmeter fällig – ­unbezahlbar für die Flüchtlinge. Eine Räumung des Lagers, von der Henkel seit langem spricht, würde so näherrücken. Die Flüchtlinge, denen es im vergangenen Jahr gelungen war, ihre Forderungen voller Durchschlagskraft auf die politische Tagesordnung zu setzen, befinden sich nun in der Defensive. Und auch der Elan vieler Unterstützer hat sich etwas abgeschliffen. Niemand weiß so recht, mit welcher Strategie die Flüchtlinge ihre Forderungen in der Diskussion halten können.
Kamara wusste das alles nicht. Seine Enttäuschung war groß, als er ankam. »Ich dachte, es gibt hier Häuser, aber wir wohnen in Zelten.« Er versteht nicht, warum er so lebt. »In Afrika dürfen die Deutschen doch auch arbeiten. Und hier, die ganzen Spanier, die Italiener, die Türken. Alle arbeiten, alle haben Wohnungen.« Er hat nicht mal mehr Geld. Manchmal spenden Passanten etwas am Eingang des Camps. Das muss reichen. Denn er und die anderen Lampedusas, wie sich die subsaharischen Flüchtlinge im Camp untereinander nennen, »kriegen keine 328 Euro im Monat vom Staat wie die anderen«, sagt Kamara.

Die anderen. Das Camp ist eine Zweiklassengesellschaft. Nur ist unklar, welche von beiden besser dran ist. Die Flüchtlinge, die das Camp 2012 errichtet haben, waren entweder noch nicht als asylberechtigt anerkannt oder wurden abgelehnt und geduldet. Sie müssen ihre Abschiebung fürchten und unterliegen der Residenzpflicht, aber sie bekommen, im Unterschied zu den Lampedusas Sozialleistungen und dürfen ­arbeiten – sofern es ihnen gelingt, mit dem »nachrangigen Arbeitsmarktzugang« einen Job zu ­finden.
Einer dieser anderen ist Turgay Ulu. Als »undogmatischer Kommunist« aus der Türkei stellt er sich vor, dichtes braunes Haar, Brille mit Drahtgestell in Perlmutt-Optik, Autor von fünf Büchern. Er war voriges Jahr am Marsch beteiligt, wohnt seit fast einem Jahr im Camp. In der Hand trägt er einen kleinen grünen Rucksack. »Das ist mein Haus«, sagt er und hebt ihn hoch. 15 Jahre hat er in der Türkei im Gefängnis gesessen. Wegen angeblicher Beihilfe zur Gefangenenbefreiung wurde er erst zum Tode verurteilt, die Strafe wurde dann umgewandelt. Ulu saß überwiegend isoliert in den sogenannten F-Typ-Zellen für politische Gefangene, immer wieder hat er sich an langen Hungerstreiks beteiligt. Amnesty International hat sich für seine Freilassung eingesetzt, schrieb von Rechtsbrüchen in seinem Verfahren und Folter, äußerte erhebliche Zweifel an seiner Schuld. 2011 kam Ulu vorübergehend auf freien Fuß, kurz bevor die Richter das Urteil gegen ihn erneuerten. Er floh. In Griechenland wurde er, wie alle Asyl­suchenden, monatelang interniert, organisierte Hungerstreiks in zwei der von der EU finanzierten Internierungslagern. Als die Griechen ihn frei­ließen, kam er nach Deutschland. Sein Asylantrag ist anhängig, niemand weiß, wie lange er hier bleiben darf. Er muss in einem Heim in Hannover leben, in Berlin dürfte er sich gar nicht aufhalten. »Die EU redet von Freizügigkeit, aber für Flüchtlinge ist sie ein Gefängnis«, sagt er. »Aber wir sind jetzt frei, denn wir haben die Residenzpflicht gebrochen.« Das Leben in den Asylheimen mache die Menschen kaputt. »Man braucht nicht nur ein Bett und Essen, man braucht auch Kultur und Sex und Politik.« Das hält ihn aufrecht. Solange man sich wehren kann, kann man dem Leben Sinn verleihen. »Ich schreibe weiter für mein politisches Kollektiv in der Türkei«, sagt er. Und wie an einem neuen Buch, drei Stunden jeden Tag. Sein Leben besteht aus Schreiben, Plena, Workshops, Reisen zu anderen Protestaktionen.
Als die Nachbarn über das Camp gestänkert, sich über Mäuse und Dreck beklagt haben, ist er zu ihnen gegangen. »Ich habe ihnen gesagt, dass sie recht haben und dass wir gern eine Dusche und Wasser hätten. Dann wäre es hier auch sauberer.« Das Ganze sei nur ein »Klassenproblem«, erklärt er: »Wieso müssen wir so leben? Wieso haben die einen guten Schlafplatz und wir nicht?« Das hätten die Nachbarn verstanden und »Solidarität gemacht«, sagt Ulu: Zum Fastenbrechen im Ramadan seien sie gekommen, um den Flücht­lingen vom Oranienplatz das Iftar-Mahl zu spenden.
Seine Vergangenheit helfe ihm, Strategien für den Kampf zu entwickeln. Eine davon: »Nicht sofort Hungerstreik machen. Das ist die finale Aktion, das macht man ganz am Ende. Ich weiß, wovon ich rede. Hier haben wir noch andere Möglichkeiten.« Dass andere Flüchtlinge es anders sehen, etwa eine Abspaltung der Marschierer am Brandenburger Tor vergangenes Jahr, Asyl­suchende in München und in Eisenhüttenstadt im Juli und jetzt in Bitterfeld, respektiert er. »Als sie ihre Entscheidung getroffen haben, habe ich ihnen geholfen, ihre Zelte am Brandenburger Tor aufzubauen. Wir haben bis heute Kontakt.«
Probleme im Camp gebe es durchaus. »Nicht alle sind Linke«, sagt er. Verschiedene Kulturen, Sprachen, Religionen. Und verschiedener Status: »Eine Gruppe will nur Arbeit und Wohnungen. Andere wollen kämpfen um Aufenthalt.« Mit dieser Fraktionierung müsse man umgehen. »Die Lampedusa-Leute haben einen Pass und keine Residenzpflicht. Das ist nicht das Gleiche wie bei uns.« Gibt es deshalb Streit? »Nein. Aber andere Forderungen. Im Grunde ist das aber kein Problem: Wir leiden unter demselben rassistischen Gesetz.« Ulus Lösung: »Viele Aktionen machen.«

Zweimal in der Woche gibt es dazu im Camp ein Plenum. Eines davon sollte um fünf Uhr an diesem Nachmittag anfangen. Jetzt ist es sechs und noch niemand sitzt auf den kreisförmig angeordneten Festzeltbänken in der Mitte des Platzes. »Afrikanische Zeit«, sagt einer der Umstehenden. Er ist kein Afrikaner. Als sich gut zehn Männer und zwei Unterstützerinnen eingefunden haben, stellt Ulu die Termine der nächsten Tage vor: zwei Antikriegsdemonstrationen am Sonntag, Besuch des umstrittenen Flüchtlingsheimes Hellersdorf mit anschließender Podiumsdiskussion am Donnerstag, Mahnwache zum Tod des türkischen Asylbewebers Cemal Altun vor 30 Jahren am Freitag, Infotisch auf einem nahegelegenen Straßenfest am Samstag. Überall sind die Flüchtlinge eingeladen. Ulu verteilt Flugblätter auf Deutsch und Arabisch. Die Männer schauen sie interessiert an, aber die meisten können die beiden Sprachen nicht lesen.
Ein Streit bricht los. »Sie laden uns ein und dann dürfen wir nicht reden«, sagt Kamara, »letzte Woche war das auch schon so.« An jenem Wochenende gab es ein Antirassismus-Festival. »Sie hängen Lampedusa-Transparente auf und die Leute spenden Geld und wir sehen nichts davon«, ruft er. Andere widersprechen, das Geld sei in die Kasse geflossen und sehr wohl habe ein Vertreter des Camps bei dem Fest gesprochen. »Aber keiner von Lampedusa«, sagt Kamara. Alle reden durcheinander, bis zwei Frauen mit Caritas-Buttons am Revers auftauchen und erklären, dass auch sie ein Fest veranstaltet haben, bei dem viel Essen übrig geblieben sei. Das wollen sie nun den Flüchtlingen schenken. »Es müssten nur zwei von euch mitkommen und es abholen.« In diesem Punkt gibt es keinen Streit. Nach kurzer Zeit kommen die beiden mit Platten voller Bulgursalat und gefüllten Weinblättern zurück. Das Plenum ist erstmal unterbrochen. Später einigt sich man, wer welche Termine wahrnimmt.
»Viele haben psychische Probleme, viele haben Selbstmordgedanken«, sagt Ulu. Nicht alle, will ­­er damit wohl auch sagen, haben ein in Jahrzehnten entwickeltes politisches Bewusstsein wie er. In gewisser Weise gelte das auch für die deutschen Unterstützer. Die Zeit der Aufstände rund um den Istanbuler Gezi-Park habe ihm dies eindrücklich gezeigt. »Hier gab es darauf überhaupt keine Reaktion«, sagt er. »Es gibt in Europa keine revolutionäre Bewegung.« Die Wirtschaft sei stark genug um »noch« einen Sozialstaat aufrechtzuerhalten. »Die Leute leben damit irgendwie und wenn sie etwas tun, sind sie nur Hobbyaktivisten. Sie kommen her und machen das als Freizeit­aktivität. Sie fahren in den Urlaub nach Mexiko oder auf ein politisches Camp und machen dann ein bisschen Widerstand«, sagt er. »Aber so geht das nicht. Denk’ an Rosa Luxemburg oder Ernst Thälmann: Die Revolution ist kein Hobby.« Viele Deutsche würden sich zurückhalten und sagen »Wir sind nur Unterstützer, wir sind ja keine Flüchtlinge, ihr habt das Problem.« Aber das sei falsch: »Flüchtlinge leiden unter einem Demo­kratiedefizit. Das ist auch ein Problem der Deutschen.«
Noch gut drei Wochen sind es bis zur Wahl. So lange ist das Camp sicher. »Der Staat will uns räumen, sie machen dafür viel Demagogie«, sagt Ulu. Er hofft, bis zur Wahl mit neuen Aktionen Unterstützer zu mobilisieren und neue zu gewinnen. »Räumung ist keine Lösung«, sagt die neue Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, Monika Herrmann (Grüne). Bis Ende September will die Verwaltung ihr Vorgehen prüfen. Die linke Szene in der Stadt, das ist sicher, würde wohl alles aufbieten, was sie hat, um eine Räumung des Camps zu verhindern. Doch niemand weiß, was Henkel tun wird. Haben die Flüchtlinge ­einen Plan, wenn eines Morgens die Polizeihundertschaften Anrücken, um sie aus ihrem Lager zu vertreiben? »Dann müssen wir demonstrieren«, sagt Kamara »Das ist unsere einzige Chance. ­Alle zusammen.«