Die Geschichte der Colonia Dignidad

Hundert Prozent deutsch

Das Gelände der deutschen Sekte Private Soziale Mission in Südchile, die »Colonia Dignidad«, war während der Diktatur ein Folterzentrum des Geheimdienstes. Heute wird dort Erlebnistourismus mit deutscher Tradition betrieben.

»Seit Januar 2013 ist das Urteil wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauch gegen Hartmut Hopp in Chile rechtskräftig«, erläutert die Anwältin Petra Schlagenhauf, die die Opfer der Colonia Dignidad vertritt. »Das Urteil wäre in Deutschland vollstreckbar, wenn ein Antrag hierzu gestellt würde und nicht auf Auslieferung.«
Hartmut Hopp, ehemals Leiter des Krankenhauses der Colonia Dignidad und rechte Hand von Sektengründer Paul Schäfer, hat sich noch vor dem letztinstanzlichen Urteilsspruch im Mai 2011 klandestin nach Deutschland abgesetzt. Zahlreiche verschleppte Verfahren wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen, Mord und Bildung ­einer kriminellen Vereinigung sind gegen ihn in Chile noch anhängig. Schlagenhauf bedauert, dass Hopp sich als deutscher Staatsbürger sicher sein kann, von Deutschland nicht an Chile ausgeliefert zu werden. »Aber das Oberste Gericht Chiles beschloss im Juli einen neuen Auslieferungsantrag, ohne Antrag auf Vollstreckung des Urteils in der BRD«, sagt die Anwältin. »Der zweite Antrag auf Auslieferung läuft noch, dass kann ein Jahr dauern, dadurch geht Zeit verloren. Deutschland liefert wegen Artikel 16 des Grundgesetzes keine Staatsbürger ins nichteuropäische Ausland aus, ein Auslieferungsgesuch der chilenischen Justiz im Jahr 2011 wurde deswegen bereits abgelehnt.«
Mit 20 weiteren Verantwortlichen wurde Hopp letztinstanzlich vom Obersten Gericht Chiles schuldig gesprochen, Schäfer ermöglicht zu haben, in der hermetisch abgeriegelten Siedlung täglich Kinder sexuell zu missbrauchen. Schäfer war 1961 mit knapp 300 Sektenangehörigen aus der BRD nach Chile ausgewandert, als hierzulande Staatsanwaltschaften wegen Kindesmissbrauchs gegen ihn ermittelten. Die streng antikommunistisch ausgerichtete, abgeschottete Sekte fürchtete nach dem Wahlsieg von Salvador Allende 1970 eine mögliche Enteignung ihres 16 000 Hektar großen ländlichen Areals sowie ihrer Unternehmen. Sie nahmen Kontakt zur militanten faschistischen Bewegung Patria y Libertad auf und stellten ihr die Infrastruktur der Colonia Dignidad zur Verfügung. Kontakte zu deutschen Nazis, die nach Chile geflohenen waren, gab es ebenfalls.

Mit dem Militärputsch vom 11. September 1973 begann die Zusammenarbeit der Colonia Dignidad mit dem Geheimdienst Dina. Zur Terrorisierung der chilenischen Linken durch willkürliche Verhaftungen und Ermordungen, deren Opfer zumeist zu »Verschwundenen« wurden, um alle Erinnerung an sie auszulöschen, war ein inoffizielles Folterzentrum nützlich. Zeugen sagten in Chile vor Gerichten aus, Hopp habe in engem Kontakt zu Augusto Pinochet und dem chilenischen Geheimdienstchef Manuel Contreras gestanden, dessen Geheimpolizei in der Colonia Dignidad Büros unterhielt und Räume als Folterzentrum genutzt hat. Mehrere hundert Menschen wurden auf das Siedlungsgelände gebracht und dort in Kooperation mit Colonia-Bewohnern gefoltert, viele ermordet. Ob es 100 oder mehr waren, ist bis heute unklar. Dass noch Massengräber gefunden werden, ist unwahrscheinlich. Denn dies sollte die »Operación Retiro de Televisores« verhindern: »Ich habe mit einem Baggerführer gesprochen, der auf dem Gelände der Colonia Dignidad Leichen ausgegraben hat, die später vollständig verbrannt wurden«, berichtet Schlagenhauf.

Einiges spricht dafür, dass der BND von diesen Aktivitäten wusste. Der Colonia-Funktionär Kurt »Schnellenkamp gestand vor Gericht, politische Gefangene in die Kolonie gebracht und im engen Kontakt zu dem deutschen Waffenhändler Gerhard Mertins gestanden zu haben«, schrieb Daniela Schildmann in den Lateinamerika-Nachrichten. Mertins leitete das Tarnunternehmen »Merex« des BND, wie der Historiker Peter Hammerschmidt 2011 enthüllte. Früher war Mertins in einem Spezialkommando der SS, hatte vielfältige Kontakte zu Altnazis in Südamerika. 1978 versuchte er, einen »Freundeskreis Colonia Dignidad« zu gründen. Über Merex wurden Informationen gesammelt und überschüssige Bundeswehrwaffen und -geräte in alle Welt verkauft. Auch über die Colonia Dignidad? Etliche Gerichtsverfahren gab und gibt es weiterhin gegen Mitglieder der Sektenführung in Chile. Vielleicht kommt ja noch ans Licht, was der BND mit diesem Geflecht zu tun hatte.
Gegen Hartmut Hopp wird auch in Deutschland ermittelt. Etliche Zeugenaussagen stehen noch aus, aber die Staatsanwaltschaft Krefeld strebt eine Anklage an. Die Vorwürfe wegen falscher Medikamentierung, die als vorsätzliche Körperverletzung gilt, ebenso wie der sexuelle Missbrauch von Kindern sind erst teilweise verjährt, und Mord verjährt nicht. Deshalb könnte Hartmut Hopp wegen aller drei Vorwürfe angeklagt werden. »Nach dem Internationalen Rechtshilfegesetz, IRG, könnte das Oberste Gericht Chiles mit großer Aussicht auf Erfolg bereits jetzt die Vollstreckung des chilenischen Urteils wegen sexuellen Missbrauchs in Deutschland beantragen«, sagt Schlagenhauf. Damit rechnet Hopp vermutlich nicht: Ein halbes Jahr bevor er nach Deutschland einreiste und sich ungeniert unter seinem richtigen Namen in Krefeld niederließ, hatte die bis dahin ermittelnde Staatsanwaltschaft Bonn im September 2010 die Untersuchung eingestellt. 22 Jahre lang war dort gegen Hopp wegen »Freiheitsberaubung, Körperverletzung usw.« ergebnislos ermittelt worden.

Folgenreicher war ein Beschluss des Bundestags von 2002, der ursprünglich Hilfe für die Sektenmitglieder vorsah, die ebenfalls in der der Colonia Dignidad misshandelt und gefoltert wurden. Geld floss aber erst ab 2008, im Bundeshaushalt wurden pro Jahr 250 000 Euro bereitgestellt. Dieses Geld wird von der deutschen Botschaft in Santiago verwaltet. »Das meiste davon wird ausgegeben für die Beratung der Wirtschaftsunternehmen der Villa Baviera, wie die Colonia jetzt heißt«, berichtet Jan Stehle, Mitarbeiter des Forschungs- und Dokumentationszentrums Chile-Lateinamerika. »Sie betreiben vor Ort eine Vielzahl von Unternehmen, auch ein Tourismusprojekt, mit Hotel und Restaurant. Dafür wird als Ort deutscher Tradition geworben.« Wer auf der Panamericana in Südchile unterwegs sei, erzählt Schlagenhauf, kommt an einem großen Werbeschild vorbei: »Villa Baviera – un lugar diferente« (Bayerisches Dorf – ein anderer Ort). Die Siedlung will unter ihrem neuen Namen die Geschichte ausblenden. »100 Prozent Deutsch« lautet ein Werbespruch. Jedes Jahr wird dort ein Oktoberfest veranstaltet. »Für die Angehörigen der chilenischen Opfer ist es ein Hohn, dass dort, wo ihre Angehörigen gefoltert und ermordet wurden, Feste gefeiert werden«, sagt Stehle. »Sie fordern seit Jahren vergeblich die Einrichtung einer Gedenkstätte dort. Die Vergangenheit muss thematisiert werden!«