Die Wahlplakate der deutschen Parteien

Große Gefühle

Blondinen, die sich auf dem Rücksitz des Mopeds am Mann festhalten, bärtige Kerle in Karohemden und Mädels mit Mireille-­Mathieu-Gedächtnis-Frisur. Auf ihren Wahlkampfplakaten träumen sich die Parteien Deutschland in die Adenauer-Zeit zurück.

Deutschland träumt, so scheint’s. Es träumt sich im Wahlkampf zurück in eine Welt, in der Deutschland wieder wer war, durch Fußball und durch die D-Mark, in der die Familie etwas galt und alles seine Ordnung hatte. Es träumt sich in die fünfziger Jahre zurück, wo der Kapitalismus ein freundliches Gesicht zeigte und beinahe jeder und jede ein kleines oder nicht mehr ganz so kleines Stück vom Kuchen abbekam. Armut und Unordnung waren anderswo, damals. Und sind es auch heute wieder. Deswegen ist die Wahl keine Wahl, sondern ein Legitimationsritual. Die Deutschen wählen keine Parteien, die Deutschen wählen sich selbst in dieser Wahl. Sie wollen Ja sagen zu ihrer fröhlichen Brutalität und ihrem ignoranten Gewinnertum. Die Wahl ist nicht wegen ihres Ausgangs, sondern wegen ihrer Form interessant. Was das Wahlplakat (und seine multimedialen Ableitungen) für die Analyse so brauchbar macht, im Gegensatz zu anderen Fiktionen, gleich dem Werbeplakat für Sonnenmilch und Mittelklassewagen, und doch auch nicht vollkommen gleich, das ist, dass alles darin und daran intentional ist. Es soll etwas sagen. Es muss etwas sagen. Oder zumindest: Bei allem, was sich in einem dieser Bilder zeigt, hat sich irgendjemand irgendetwas gedacht, glaubte irgendwer einen Auftrag zu erfüllen, will jemand eine Wirkung erzielen. Dafür werden sie bezahlt. Und wir haben den Vorteil, nichts für Zufall, Abschweifung oder Mehrdeutigkeit zu halten. Darum gibt es kaum etwas, das den Zustand einer Gesellschaft, oder einer Nation, so treffend wiedergibt wie die Plakate einer Wahlkampagne.
Man sieht dem Wuchern der Bilder zu, Sandwich-Aufsteller, Stellwände, Hohlwandplakate, eines über dem anderen, am besten so angebracht, dass sie nicht von Kindern oder anderen Systemkritikern bemalt oder verunstaltet werden können. Es ist eine ungeheure Produktion von ikonischem Abfall. Kleine Parteimitglieder wissen nun, wozu sie da sind: Man sieht sie beim Plakatkleben, in der stillen, absurden Hoffnung, jemand werde einmal für sie Plakate kleben, oder das Plakatekleben werde sich sonstwie auszahlen, in der politischen Karriere oder wenigstens bei einem fröhlichen Fest nach dem Sieg. Das, zum Beispiel, ist einer der kulturellen Zusammenstöße im Wahlkampf, dass nämlich hochprofessionelle und überbezahlte Werbespezialisten, Fotografen und Agenturen eine mehr oder weniger nichts- und allessagende Bilderwelt erzeugen, die von unbezahlten und hochengagierten Leuten von der »Basis« verbreitet werden muss. Wer weiß, wie sonderbar sie sich dabei vorkommen.
Im Internet kursieren natürlich schon jede Menge satirischer und mehr oder weniger komischer Travestien, und diese Sprache der Travestie wirkt sich auch auf die realen Plakate und ihre Motive aus. Es scheint, als sei das Bashing des Gegners nun wesentlich leichter als die Anpreisung des eigenen Kandidaten, wie sich besonders in den Kampagnen der SPD zeigt. Peer Steinbrück gibt als Icon nicht viel her, aber seht mal, Angela Merkel kann auch sehr komisch sein, wenn sie in ihrer Tasche kramt und das Neuland Internet sucht.
Alles scheint einem Gesetz der Hermeneutik zu unterliegen, das semantische Gemetzel bildet Dutzende von Nebenkriegsschauplätzen aus. Die Stadt scheint den Deutschen nicht besonders schützenswert vor diesem barbarischen Bilderwucher des schlechten Geschmacks. Besonders absurd erscheint es dann, dass die Wahlplakate der SPD sich als nicht wetterfest erweisen. Eine Kanzlerin zu zeigen, die in ihre Handtasche blickt, und dazu den Slogan »Privatsphäre: Neuland für Merkel« zu stellen, kommt nicht wirklich gut, wenn man schon auf der materiellen Ebene von Tapetenkleister versagt.
Ein mannshohes Aufstellerplakat der CDU wirbt mit dem Slogan »Gemeinsam erfolgreich«, im Unterschied zum »Das Wir entscheidet« des Gegners. Da sehen wir einen bärtigen jungen Mann mit breitem Grinsen, der offensichtlich ein Motorrad lenkt, und hinter ihm eine deutlich kleinere, blonde junge Frau, ebenfalls sehr gut gelaunt, wie es scheint. Sie schauen nach vorn, nach rechts, in die Zukunft, und der Text erklärt uns das: »Wachstum braucht Weitblick. Und einen stabilen Euro.«
Es ist interessant, dass die Männer auf deutschen Wahlplakaten meistens bärtig und die Frauen meistens blond sind. Die Männer sind immer deutlich größer als die Frauen und stehen immer irgendwie vor ihnen oder über ihnen. Sie lenken die Motorräder, sie haben die Gesamtsituation im Blick, sie stehen, etwa auf einem Plakat der SPD (»Das Wir entscheidet: WIR für bezahlbare Mieten«) wie der Fels in der Brandung, natürlich mit Bart und Holzfällerhemd, während sich die Frau vertrauensvoll an sie schmiegt.
Wir haben einen teuflischen Verdacht. Diese ganze Plakatiererei und Bilderproduktion hat gar nichts damit zu tun, ob man nun diese oder jene Partei wählen möchte (wie gesagt, der Ausgang der Wahl steht ohnehin irgendwie fest), sie dienen vielmehr nahezu allesamt einer großen Kampagne: Deutschland möchte zurück in die fünfziger Jahre, mit einem traditionellen Familienmodell, einem Eigenheim, wo schon die Formen und Farben der Motorradschutzhelme zeigen, was ein Mann ist und was eine Frau.
Von den Bildern wird man nicht nur verfolgt, man soll sie sich auch noch holen; die Bilderschleuder funktioniert nun noch stärker multimedial, und dies hier ist ein unmoralisches Angebot aus dem Internet: »Sie suchen Fotos von Angela Merkel oder Hermann Gröhe, CDU-Logo-Varianten oder Bilder des Konrad-Adenauer-Hauses? Dann sind Sie hier genau richtig! Mit der Multimedia-Datenbank der CDU Deutschlands bieten wir Ihnen ein kostenloses Download-Center für die verschiedensten Angebote rund um Bild- und Graphik-Elemente der CDU. Dieses Angebot wird außerdem in Kürze um die offiziellen Fotos der CDU-Bundestagskandidaten sowie weitere wahlkampfrelevante Materialien ergänzt.« Welcher zurechnungsfähige Mensch sucht Bilder von Angela Merkel oder Hermann Gröhe, der übrigens Generalsekretär seiner Partei ist und genau so aussieht? Aber selbst das »kostenlos« ist nicht so vollkommen ernst gemeint; man bekommt diese herrlichen Bilder nämlich nur, wenn man seine eigenen Daten an die CDU abtritt. Was werden die damit machen? Darin eben unterscheiden sich die Bilderschleudern im öffentlichen Raum (dem sie den ästhetischen Rest geben: erst in Wahlkampfzeiten weiß man, dass deutsche Fußgängerzonen noch hässlicher werden können, als sie gewöhnlich schon sind) und im Internet. Dort sind sie nichts anderes als ästhetische Umweltverschmutzung, hier aber sind Bilderschleudern immer zugleich auch Datensaugmaschinen.
Jedes Land, könnte man sagen, bekommt die Wahlkampfbilder, die es verdient. Doch das System der Leadagenturen, die den eigentlichen Wahlkampf führen und die statt einer Partei das »Wir« und das »Gemeinsam« verkaufen wollen, als Abbild eines gesicherten familiären Innenraums, entwickelt sich nach und nach auch zu einem geschlossenen semantischen Kreislauf. Die Bilder dieser Kampagne, die so vor lauter Glück und Zuversicht und Zukunft und Gemeinschaft zu strotzen scheinen, können gar nicht anders, als auch zu verraten, wohin die Reise gehen soll. Denn nicht nur die Intimisierung der Glücksversprechen, sondern auch das reaktionäre Familienbild ist nicht nur Köder für den konservativen Mainstream, beide sind auch politisches Programm. Dass die Frauen wieder auf den Beifahrersitz und zur Kinderbetreuung geschickt werden, nimmt, wie es die Werbebilder und die Soap Operas ebenfalls tun, das Verschwinden von Staat und Gesellschaft und das Wuchern des familiären Raums vorweg. In den Bildern herrscht nicht nur der Geist der Adenauer-Zeit, es kündigt sich auch ein neuer Pakt zwischen Staat und Familie an. Das Wahlplakat wirbt nicht nur unpolitisch für Politik, es wirbt für Entpolitisierung. Und nun dürfen wir uns kaum noch wundern darüber, wie Angela Merkel, die gute, die treuherzige, in ihrer Kampagne inszeniert wird: Diese Frau regiert Deutschland nicht, sie betreut vielmehr die Deutschen. Sie ist das mythische Zentrum dieser Gleichung von Staat und Gesellschaft, auch sie arbeitet gar nicht, sie kümmert sich vielmehr. Der Ausgang der Wahl, wie gesagt, steht ohnehin fest.
Wenn wir uns die Entwicklung der Werbung in Deutschland in den vergangenen Jahren ansehen, dann sehen wir zuerst eine ästhetische, und dann eine moralische Verfallserscheinung. Die ästhetische liegt auf der Hand: Man ist mehrheitlich dahintergekommen, dass gute Werbung eher schlechte Werbung ist und der Geschmack der Kunden gar nicht banal genug eingeschätzt werden kann. Was für Streichkäse und Bergdoktoren gut ist, kann für Wahlwerbung nicht schlecht sein. Auf der diskursiven Ebene dagegen gibt es einen nicht viel komplizierteren Trick: Man muss nur aus politischen Fragen moralische machen, und aus moralischen mehr oder weniger ideologische.
In dieser Hinsicht war der am 28. Juli in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung veröffentlichte Artikel von Norbert Blüm mit dem Titel »Falsches Glück« über die Familienpolitik, der allgemein als Testimonial-Auftakt zur medialen Kampagne gilt, ein kleines, ausgesprochen hinterlistiges Meisterwerk, weil er die ökonomischen Probleme junger Familien als vermeintliche Abkehr vom als böse erkannten »Neoliberalismus« deutete. Und so endet der Text, wie er begann (nämlich mit dem tollen Satz: »Die Wahlfreiheit zwischen Familie und Beruf ist das Ende der Freiheit«), mit einer verkleideten Absage an die Freiheit: »Doch diese Logik des Egoismus begründet nicht wirklich Freiheit, sondern bloß deren Illusion. Tatsächlich ist die von Familie befreite Gesellschaft widerstandslos der Macht und dem Markt ausgeliefert. In ihr kann ›durchregiert‹ werden.« Der Rückzug zur Familie wird sozusagen zum paradoxen politischen Programm, und in der jesuitischen Logik dieses Politikers (oder seiner Autoren von den Leadagenturen) kann Wahlfreiheit nur zur Abschaffung der »inneren« Freiheit führen.
Damit war das postdemokratische, überparteiliche Programm dieser Kampagne bereits formuliert, wenn auch mehr oder weniger verklausuliert, man war ja noch in der feinen Gesellschaft einer »bürgerlichen« Zeitung, es musste nur noch allseits mit Bildern gefüllt werden: Der Nachtwächterstaat wird gut zu den Familien sein, wenn die Familien gut zu ihrem Nachtwächterstaat sind, und in einer guten Familie herrscht eine klare Ordnung. (Auf dem besagten Plakat der SPD zum Thema »bezahlbare Mieten« sieht man den Jungen in der Zweikindfamilie, wie er sich schon wie der Vater als domimanter Patron inszeniert, während das jüngere Mädchen der Mutter bis auf den Mireille-Mathieu-Gedächtnis-Haarschnitt gleicht.)
Der als Wahlkampfauftakt lancierte Text von Norbert Blüm signalisiert das Fortschreiten des Verfalls der politischen Sitten. Wohl nie zuvor wurden den Politikern im Wahlkampf von der Unterhaltungsindustrie so bereitwillig die Foren geöffnet. In ihrer Krise akzeptieren die Printmedien nicht nur dankbar jeden PR- und Werbeauftrag, sondern versuchen auch, den potentiellen Kunden entgegenzukommen. Und dazu gehört umgekehrt auch, dass die Springer-Presse Anzeigen der Partei »Die Linke« ablehnt, weil das Wahlprogramm »im Widerspruch zu den Unternehmensgrundsätzen« steht. Das Metaprodukt der Traumschiff-Deutschland-Regression fördert mithin nicht nur ästhetisch und semantisch die Komplizenschaft der Politik und der Unterhaltungsindustrie.
Die reaktionäre Umstrukturierung der Familie ist die innere Seite des Merkelismus, der Deutschland in den Krisen zum Gewinner zu machen schien (die dicken Enden kommen nach der Wahl); man profitiert von den Krisen in den Nachbarländern am meisten, wenn man im eigenen Land den Druck aus dem Arbeitsmarkt nimmt. Die Plakate lügen also gar nicht. Sie sagen vielmehr die ungeschminkte Wahrheit über das Traumschiff Deutschland. Sie ist furchtbar genug.