Gegen ehemalige Auschwitz-Aufseher sollen Verfahren eröffnet werden

Opa war ein Verbrecher

Auf Betreiben der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen sollen Verfahren gegen 30 ehemalige Aufseher im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau eröffnet werden. Die Jahrzehnte der Straffreiheit für NS-Täter lassen sich jedoch nicht ungeschehen machen.

»Unser größter Feind ist die Zeit.« Mit diesen Worten fasste Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm, der Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg, auf einer Pressekonferenz in der vergangenen Woche die Schwierigkeiten zusammen, mit denen er und seine Mitarbeiter bei den Bemühungen konfrontiert sind, einige der letzten noch lebenden Täter der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik vor Gericht zu bringen. Im April hatte Schrimm die Einleitung sogenannter Vorermittlungsverfahren gegen 50 ehemalige Aufseher des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau angekündigt, die man nach der Überprüfung einer Liste aller Mitglieder der »Lagermannschaft« ausfindig gemacht hatte und denen Beihilfe zum Mord vorgeworfen wurde.

In der Zwischenzeit sind neun Beschuldigte verstorben, andere leben im Ausland und können daher nicht juristisch zur Verantwortung gezogen werden. Nach Recherchen der Welt war der aus Litauen stammende Hans Lipschis ebenfalls im April ausfindig gemacht worden. Er steht im Verdacht, Aufseher in Auschwitz gewesen zu sein, nach eigenen Angaben war er jedoch nur »der Koch von Auschwitz«. Er sitzt nun ebenfalls in Untersuchungshaft.
Anlass der jüngsten Pressekonferenz der Zentralen Stelle war der Abschluss der Vorermittlungen gegen 30 mutmaßliche ehemalige Aufseher in Auschwitz, die sich in Deutschland aufhalten. Die entsprechenden Akten wurden nun den Staatsanwaltschaften der Bundesländer überreicht, in denen die Tatverdächtigen ihren Wohnsitz haben. Eine Anklage gegen alle 30 Verdächtigen ist unwahrscheinlich, da das von den Ludwigsburger Beamten gesammelte Belastungsmaterial nach Schrimms Einschätzung unterschiedlich aussagekräftig und die Verhandlungsfähigkeit der allesamt über 90 Jahre alten mutmaßlichen Täter zweifelhaft ist. Dennoch dürfte eine Reihe staatsanwaltlicher Ermittlungsverfahren eröffnet werden. Ein zentrales Verfahren gegen alle Verdächtigen, über das als eine Art Fortsetzung der sogenannten Auschwitz-Prozesse der sechziger Jahre spekuliert wurde, wird es jedoch nicht geben. Zu groß wäre Schrimm zufolge das Revisionsrisiko, zudem sei den hochbetagten Beschuldigten eine wöchentliche Anreise zu einem zentralen Verhandlungsort nicht zuzumuten. Die Zentrale Stelle empfiehlt nun die Bündelung der Verfahren in den jeweiligen Bundesländern.
Dass nach Jahrzehnten der Passivität und der äußerst täterfreundlichen Rechtsauslegung der bundesrepublikanischen Justiz im Fall der NS-Verbrechen nun verspätet Bewegung in die juristische Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit zu kommen scheint, ist das Ergebnis einer neuen Rechtsauffassung, die sich mit der Ver­ur­teilung des ukrainischen SS-Helfers John Demjanjuk im Jahr 2011 etabliert hat. Demjanjuk war auf Betreiben der Ludwigsburger Ermittler von den USA an Deutschland ausgeliefert worden. Wegen seiner Tätigkeit als Aufseher im Ver­nichtungs­lager Sobibór wurde er vom Münchner Landge­richt wegen Beihilfe zum Mord an 28 060 Juden zu fünf Jahren Haft verurteilt, ohne dass ihm die Straftaten individuell nachgewiesen worden wären.

Obwohl die Verurteilung nicht rechtskräftig ist, da Demjanjuk beim Bundesgerichtshof in Revision gegangen und gestorben war, bevor es zu einem Urteilsspruch kommen konnte, gilt die Entscheidung des Münchner Gerichts als richtungsweisend. Die Richter hatten sich der Ansicht der Mitarbeiter der Zentralen Stelle angeschlossen, wonach sich alle 6 000 Männer und Frauen, die in den Wachbataillonen der SS in den Lagern Auschwitz, Sobibór, Treblinka, Belzec und Majdanek tätig gewesen waren, der Beihilfe zum Massenmord schuldig gemacht haben. Unabhängig von ihrer Stellung in der Befehlshierarchie habe ihre Tätigkeit in den Lagern den reibungslosen Ablauf der Vernichtung der europäischen Juden erst möglich gemacht, ein Nachweis einzelner konkreter Straftaten und individueller Verantwortung sei daher für eine Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord nicht vonnöten, so die Argumentation.
Damit brach das Münchner Gericht mit einem Urteil des Bundesgerichtshofs von 1969, das vielen NS-Tätern den Weg zur Straffreiheit geebnet hatte. Da Auschwitz kein »reines« Vernichtungs­lager gewesen sei, müsse man den Aufsehern den konkreten Tötungsbeitrag nachweisen, hatte der Bundesgerichtshof damals argumentiert. Da die Überlebenden aus den Vernichtungslagern als einzige Zeugen zumeist nicht in der Lage waren, ihre Aufseher mit Namen zu identifizieren und ihnen einzelne Taten zuzuordnen, wurden damals viele Verfahren eingestellt. Des Weiteren wurde damals auch die Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord dadurch erschwert, dass den Beschuldigten niedere Beweggründe nachzuweisen waren. Dies führte unter anderem zum Scheitern eines großen Prozesses gegen 300 Schreibtisch­täter aus dem Reichssicherheits­hauptamt.
Diese Entscheidungen waren beispielhaft für die juristische Vergangenheitsbewältigung »im Schatten der Volksgemeinschaft«, wie sie der Historiker Marc von Miquel in seinem Buch »Ahnden oder amnestieren? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitsbewältigung in den sechziger Jahren« beschreibt. Sofort nach Gründung der Bundesrepublik hatte sich bei der Verfolgung von nationalsozialistischen Verbrechen eine Praxis der Amnestie und Strafverhinderung etabliert, die von ehemaligen NS-Funktionären in den Ermittlungsbehörden und Gerichten sowie von ei­ner Opferhaltung stark befördert wurde, die die Mehrheit der Deutschen teilte.
Angesichts der haarsträubend geringen Anzahl rechtskräftig verurteilter NS-Täter in Westdeutschland wird die Arbeit der 1958 in Ludwigsburg gegründeten Zentralen Stelle häufig als »Nachweis einer zwar anfangs mit Schwierigkeiten behafteten, aber auf lange Sicht doch respektablen Vergangenheitsbewältigung« herangezogen, wie das Antifa-Infoblatt in einer kritischen Betrachtung 2006 schrieb. Und tatsächlich: Ohne die Arbeit der Behörde sähe die Bilanz noch katastrophaler aus. Ein Großteil der 106 496 seit Kriegsende eingeleiteten Ermittlungsverfahren gegen NS-Täter geht auf die Arbeit der Zentralen Stelle zurück. Allerdings endeten 102 223 Verfahren mit der Einstellung oder einem Frei­spruch. Es gab nur 6 495 Verurteilungen. Da die Behörde nicht die Befugnis hat, selbst Ermittlungsverfahren zu führen, sondern mit ihren Vorermittlungen nur den Staatsanwaltschaften zuarbeiten darf, blieben die Bemühungen einiger engagierter Mitarbeiter regelmäßig erfolg­los. Den Beschuldigten oft wohlgesonnene Staatsanwälte hatten immer die Möglichkeit, sich gegen eine Anklage zu entscheiden oder ein Verfahren zu verzögern und auszusitzen.

Diese bestens erprobte deutsche Vorgehensweise ist nun offenbar aus der Mode. Darauf deutet auch die Prozesseröffnung im Fall von Siert Bruins in der vergangenen Woche hin, einem in den Niederlanden geborenen und nach dem Krieg in Deutschland lebenden ehemaligen SS-Mann, der 1944 einen niederländischen Widerstandskämpfer hinterrücks erschossen haben soll. Bruins wurde über Jahrzehnte von deutschen Behörden gedeckt und vor einer Auslieferung in die Niederlande bewahrt.
Trotz positiver Reaktionen jüdischer und antifaschistischer Organisationen auf die jüngsten Anstrengungen der Ludwigsburger Ermittler zur Ergreifung der letzten lebenden Nazigreise bleibt die Verbitterung über die Jahrzehnte währende Strafvereitelung durch die Bundesbehörden bestehen. Thomas Walter, Anwalt der möglichen Nebenkläger in den anhängigen Verfahren, kritisierte im Tagesspiegel auch die Zentrale Stelle für ihre langsame Reaktion auf die neue Situation: »Damit hätte man einige Jahre früher beginnen können, nachdem gegen Demjanjuk Anklage ­erhoben worden war.«
Nicht die Zeit war der größte Feind der Auf­ar­beitung der Verbrechen des Nationalsozialismus, sondern die Komplizenschaft der deutschen Justiz. In diesem Sinne äußerte sich Efraim Zuroff, Direktor des Jerusalemer Büros des Simon-Wiesenthal-Zentrums und seit 2002 Koordinator der »Operation Last Chance«, zur Ergreifung der letzten lebenden NS-Verbrecher in der vergangenen Woche in der Presse. Die Untätigkeit der deutschen Justiz habe es Tausenden »der schlimmsten Direkttäter« erlaubt, »der Gerechtigkeit zu entkommen«.