Die Renaissance von R&B

Universelle Sehnsucht

R&B erlebt eine Renaissance und bewegt sich zwischen Afrofuturismus und einer Musik, die vielleicht wirklich »postracial« ist.

Angeblich war der 25. August 2001 ein schöner Sommertag. Und trotzdem reiht er sich ein in die großen Unglücke der Popgeschichte: den Flugzeugabsturz von Buddy Holly und den Selbstmord von Kurt Cobain. Genau wie damals, am 3. Februar 1959 und am 5. April 1994, starb an jenem Augusttag, als die Künstlerin Aaliyah bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, wieder einmal eine Musik: R&B.
Wobei das natürlich so nicht stimmt. Aber es ist eine Erzählung, die die Wahrnehmung von R&B in Deutschland dominiert. Letztlich besteht sie aus zwei Teilen: der Phase der verklärten Unschuld (»Sonic Youth als lärmende Jugend«) und dem Sündenfall (»Sonic Youth unterzeichnen bei Geffen«). Der frühe Tod in der Unschuldsphase verlängert diese bis in die Ewigkeit. Besonders dann, wenn die Protagonisten des Sündenfalls sich als perfekte Selbst­vermarkter und erfolgreiche Geschäftsleute erweisen.
Die Rede ist natürlich von Beyoncé, die wie keine zweite das Crossmarketing der eigenen Persönlichkeit perfektioniert hat. Ihre Musik muss nur noch die Aufmerksamkeit erzeugen, die einem die Türen für wirklich wichtige Geschäfte öffnet – zum Beispiel die mit ihrem Ehemann Jay-Z. Das wahre first couple Amerikas erzielt den Großteil seines Einkommens mit Immobilien, Werbung und Kleidung. Nicht nur deshalb streiten sich feministische Medien wie das Bust Magazine seit langem über die Rolle der selbsternannten »modernen Feministin«. Schließlich klingt ein »Girls who run the world« nur dann besonders glaubhaft, wenn »girls« die Photoshop-Variationen von Beyoncé für H&M meint und »world« die Wände der U-Bahn-Stationen, an denen diese Werbung plakatiert ist. Kein Wunder also, dass R&B in der eher idealistischen deutschen Popkritik die Negativfolie schlechthin darstellt. »Totproduzierter Schmuse-Soulsound und versatzstückhafte Intimlyrik« unterstellte die Süddeutsche Zeitung neulich pauschal und lobte im Gegenzug die matschig produzierten Retro-R&B-Beats von AlunaGeorge und ihre Jugendzimmer-Authentizität. Und mit den Gegenüberstellungen des sensiblen Frank Ocean und seinen unsensiblen, auf Reichtum und Karriere abonnierten R&B-Kollegen könnte man eine Anthologie füllen.
Dabei durchzieht gerade der Spagat zwischen kulturindustriellem Vereinnahmt-Werden beziehungsweise -Werdenwollen und der Anbindung an eine reale Community von zum Teil mehrfachdiskriminierten Afroamerikanern alle Formen afro-amerikanischer Popmusik. Robert Johnson hat seine Seele schließlich nicht dem Teufel verkauft, damit deutsche Journalistenschüler ein gutes Jahrhundert später darüber richten, welche Formen afroamerikanischer Männlichkeit nach Indie-Standards in Ordnung gehen und welche nicht. Wobei die Menschwerdung von Frank Ocean nur deshalb möglich war, weil er ein westliches Coming-Out-Narrativ mit einem Album verband, das die Hochzeit von Soul relativ ungebrochen wieder aufleben ließ.
Das ist bei Abel Tesfaye, dem in Toronto ­lebenden Produzenten hinter The Weekend, anders. Trotz dreier Mixtapes, einer Zusammenarbeit mit Drake und einem Major-Vertrag gab er vor zwei Monaten zum ersten Mal ein Interview. »Ich bin die langweiligste Person der Welt«, bekennt er dort und erweist sich trotzdem als detailversessener Pop-Perfektionist, der sein Privatleben in metaphernreiche Texte auslagert. Die Perfektion treibt er auf seinem neuen Album »Kiss Land« auf die Spitze. Sein Falsett-Gesang ist übersteigert wie eh und je, in manchen Momenten erreicht er sogar die Tonhöhe seines großen Vorbilds Michael Jackson. Aber darunter liegt eine in Hall getränkte Slow-R&B-Blaupause, deren Soundsignatur eher an Ultravox oder Phil Collins erinnert. Im Song »Belong to the World« schlägt ein analoger Drumloop in eine hinter Echowänden verborgene Gitarre um, in »Wanderlust« überlagern sich die Synthesizersequenzen, bis die Achtziger-Disco nicht mehr fern ist. »Wenn ich an ›Kiss Land‹ denke, stelle ich mir einen furchterregenden Ort vor«, erzählt Tesfaye, und wie alle furchterregenden Orte hat der 23jährige Produzent ihn durch Gothic Rock, John-Carpenter-Filme und den Körperhorror von David Cronenberg schon ein paar Mal besucht, bevor er seine Heimatstadt im Alter von 21 Jahren erstmals verlassen hat. Tesfaye beschäftigt sich mit diesem fiktiven Horror, um die eigenen Ängste vor dem Tourleben und dem Erwachsenwerden durchzuarbeiten. Nur der Rassismus scheint für den Kanadier keine Rolle zu spielen – selbst die im kanadischen Multikulturalismus omnipräsente Frage nach der Herkunft lässt Tesfaye offen. Vielleicht produziert The Weeknd wirklich eine »postracial« Musik und zwar ohne dass man sich damit der naiven Vorstellung von einem Ende des Rassismus hingibt, nur weil die politische Klasse ethnisch heterogener geworden ist.
Auch Janelle Monáe weiß das. Sie gehört mittlerweile schon ein wenig dazu – im vergangenen Jahr trat sie auf einer Fundraising-Veranstaltung für Barack Obama auf. Aber bis dahin war es ein langer Weg von der Kindheit in der Arbeiterklasse von Kansas City, wo sie sich mit Nebenjobs das Geld für das Konservatorium in New York sparte, um schließlich in Atlanta, der Heimat von Crunk und Trap, zu landen. »Ich hatte niemals zuvor schwarze Menschen getroffen, die zugleich kreativ und ernst waren – Menschen, die Musik neu definieren wollten«, beschrieb sie gegenüber Pitchfork ihre Zeit in der College-Rap-Szene Atlantas. Und so begann sie, sich selbst neu zu definieren: als Androide. Monáe formuliert eine eigene Version des Afrofuturismus, der langen künstlerischen Tradi­tion, die die Verschleppung während der Skla­verei in eine Selbstbeschreibung als »Alien« münden lässt. Das Sklavenschiff wird zum Raumschiff und Monáe zum Mensch-Maschinen-Wesen namens Cindi Mayweather.
»Der Androide ist einfach eine andere Form über das neue ›Andere‹ zu sprechen«, erklärt sie im Interview mit Elle. »Und ich bin Teil dieses ›Anderen‹, weil ich schwarz und eine Frau bin.« Aber Monáes Selbstbeschreibungen als Alien oder Cyborg finden über einer Musik statt, die durchtränkt ist von historischen Referenzen. »Das ›Futuristische‹ in der Musik bezieht sich schon lange nicht mehr auf eine Zukunft, von der wir erwarten, dass sie anders sein könnte. Wie eine bestimmte Schrifttype verweist es nur noch auf einen Stil«, schreibt Mark Fisher in seinem neuen Buch »Ghosts of My Life«.
So ähnlich ist es auch mit Monáes neuem Album »The Electric Lady« – Janelle Monáes Afrofuturismus funktioniert in erster Linie als Zitat. Teils sind es Anleihen bei Funkadelic, aber am häufigsten bricht Prince in seiner »Purple Rain«-Phase durch, angefangen von der Farbgebung auf dem Cover bis hin zu den Ratschlägen, die sich die Musikerin per Direktverbindung in die Paisley-Park-Studios holte. Über all dem liegt Monáes Stimme: kräftig, exaltiert, aber durch und durch organisch. Obwohl man sicher sein kann, dass hier die gesamte Palette moderner Studiotechnik zum Einsatz kommt, naturalisiert Monáe diese, indem sie sie unhörbar macht.
Und genau hier liegt der Unterschied zwischen »The Electric Lady« und der Art, wie der Afro­futurismus im Cyber-R&B der späten Neunziger verkörpert wurde. Missy Elliott morphte über den hyperpräzise gecutteten Synkopen-Beats von Timbaland und der Computer Generated Imagery ihres Regisseurs Hype Williams zur technisch verstärkten Videospielfigur, die alle Angriffe auf ihren nicht-normierten Körper abwehrte. Janelle Monáes Video zu »Q.U.E.E.N.« versetzt sie dagegen zur Ausstellung des angehäuften kulturellen Kapitals in den White Cube, wo sie sich als eloquente Kunstarbeiterin erweist und die Zukunft als Futurismus zum Teil des eigenen Lebenslaufs wird. Nicht umsonst erwähnt sie in jedem Interview, wie »The Electric Lady« von ihrer Malerei beeinflusst ist. Da bereitet jemand die Karriere als Allround-Künstlerin vor. Aber wer würde es ihr verdenken?
Denn R&B ist in erster Linie ein Spiel mit Glam, ein Herausstellen des Kontrasts zwischen Alltag und Kunstprodukt. Wobei damit immer die Hoffnung verbunden ist, den ersteren mehr in Richtung des letzteren verschieben zu können. Dass sich diese Verschiebung immer sel­tener in kollektiven künstlerischen Formen äußert, ist dabei vermutlich weniger der Musik als ihren Produktionsbedingungen geschuldet. Oder sind vom in der Regel als »politisch« beschriebenen Free Jazz in den letzten Jahren etwa stärkere Impulse zur Selbstorganisation ausgegangen?
Vielleicht ist das Wichtigste am zeitgenös­sischen R&B, dass er ähnlich wie Rock ’n’ Roll in den fünfziger Jahren die Körper ein wenig von den Einschreibungen dessen, was Paul Gilroy als Raciology bezeichnet, gelöst hat, um eine universelle Sehnsuchtsform zu werden. Schließlich beziehen sich so unterschiedliche Künstler wie der Dubstep-Musiker Joker oder das dänische Synth-Duo Quadron auf die gleichen R&B-Produzenten als Vorbild: auf Timbaland beziehungsweise The Neptunes. Teils kippt diese Sehnsucht ins Melancholische wie in den ätherischen Digi-R&B-Collagen von 18+. Und teilweise ist sie einfach ein Ausdruck einer Bewunderung, die so nur in der Provinz entstehen kann.
So wie im Fall von Jessy Lanza aus dem kanadischen Hamilton. »Der kanadische Musik­sender hat niemals R&B gespielt«, erzählt sie im Interview mit Electronic Beats. Stattdessen hat sie ihre Jugend mit Black Entertainment Television verbracht, dem in der afroamerikanischen Community nicht unumstrittenen Pendant zu MTV. Nach einem Musikstudium produzierte sie schließlich selbst R&B, ihr Debütalbum trägt den Titel »Pull My Hair Back« und ist entstanden im Studio der kanadischen Synth-Popper Junior Boys. Den Glam, der sich im R&B durch die Beherrschung von kultu­rellen Codes und dem Maschinenpark herstellt, überträgt Jessy Lanza in eine Vagheit. Anstatt ihre Stimme immer präsent zu halten und noch die letzte Sechzehntel-Note digital nachzujustieren, vergräbt Lanza ihre Stimme unter einer breiten Schicht aus Hall, Delay und breiten Analogsynth-Wänden. Aber der Effekt ist derselbe wie beim großen Vorbild: »Pull My Hair Back« klingt überirdisch und vollkommen künstlich. Und schafft es gerade deshalb, ein Begehren zu wecken, das sich nicht mit dem alltäglichen Gefangensein in der Geschichte zufrieden gibt.