Die britische Regierung verschärft die Immigrationspolitik

Unter Briten

In Großbritannien hat die Verschärfung der Politik zur Abwehr von »illegalen« ­Migranten lange vor dem Amtsantritt der konservativen Regierung begonnen. Mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen zeigen die Tories, dass sie die Hetze gegen Migranten nicht den Rechtspopulisten überlassen wollen.

Viele Pendler an der geschäftigen U-Bahnstation im Londoner Stadtteil Walthamstow trauten ­ihren Augen nicht, als sie in der ersten Augustwoche eine Einheit von Beamten der britischen Grenzpolizei (UKBA) dort sahen. Die Beamten hatten ­einen Checkpoint aufgebaut und hielten Passanten an, um sie über ihren Aufenthaltsstatus in Großbritannien zu befragen. Das Ziel der Aktion war undokumentierte Migranten aufzuspüren. Am Ende der Woche gab das Innenministerium über sein Twitter-Profil bekannt, dass die Festnahme von mehr als 100 Menschen in unterschiedlichen Städten Großbritanniens gelungen sei. Die Festgenommenen hätten gegen das Einwanderungsrecht verstoßen. Dazu gab es auch Fotos von ­den Festnahmen. Nicht nur auf Twitter, sondern auch in den Straßen und an den U-Bahnhöfen löste der Einsatz der Beamten viel Kritik aus. Denn wie viele der Augenzeugen berichteten, wurden sie fast ausschließlich nichtweiße Passanten kontrolliert. Der innenpolitische Sprecher der Labour Party, Chris Bryant, kritisierte diese Maßnahmen als illegales Profiling von ethnischen Minder­heiten. Er fügte allerdings hinzu, dass Operationen gegen »illegale Einwanderung« durchaus richtig und wichtig seien. Das Innenministerium zeigte sich ungerührt von der Kritik. »Wir entschuldigen uns nicht dafür, das Einwanderungsrecht durchzusetzen. Unsere Beamten führen derartige Aktionen Hunderte Male in Jahr durch.«
In der gleichen Woche hatten bereits die Fahrzeuge der UKBA für Schlagzeilen gesorgt, auf ­denen Menschen dazu aufgefordert wurden, sich selbst und andere als »illegal« zu denunzieren (siehe Seiten 4/5).
Man kann in den Aktionen der UKBA eine gewisse Kontinuität entdecken, denn die britische Politik bemüht sich seit einigen Jahren verstärkt, Immigration einzudämmen. Andererseits stellen die kombinierten und aggressiven Maßnahmen des Innenministeriums in diesem Sommer durchaus eine neue Qualität der Repression und Rhe­torik der Regierung gegen Migranten und Flüchtlinge dar.
Der Grund ist der Erfolg der rechtspopulistischen United Kingdom Independence Party (UKIP), an die die Tories im Mai bei Kommunalwahlen viele Mandate verloren haben. Obwohl das politische Hauptaugenmerk der UKIP sich auf die Europa-Politik richtet, fordert die Partei die Konservativen auch in der Immigrationspolitik heraus. In der Tat stehen beide Bereiche in unmittelbaren Zusammenhang, insofern die EU-Mitgliedschaft die rechtliche Gleichstellung von Unionsbürgern mit Briten erfordert und damit auch ein – in der Regel – unbeschränktes Niederlassungsrecht von Menschen aus allen Mitgliedstaaten. Die UKIP will nicht zuletzt deswegen, dass Großbritannien die EU verlässt, damit Migration aus EU-Mitgliedstaaten verhindert werden kann.
Die Regierung will mit den rabiaten Aktionen der UKBA zeigen, dass sie durchgreift, zumindest bei der Migration von außerhalb der EU und bei den papierlosen Migranten. Dass es hier um frühen Wahlkampf geht, versteht auch die UKIP selbst, deren Vorsitzender, Nigel Farage, sich sehr kritisch zu den Aktionen der Regierung gegen die Migranten äußerte. Er wetterte, dass diese nicht der britischen Art entspreche, und warf dem Innenministerium vor, die Arbeit der UKBA zu politisieren. Er sagte: »Nicht mehr lange, und wir zeigen die Festnahmen im Livestream. Ich mag das nicht. Es ist nicht die Art, wie wir Dinge hier machen. Wir haben keine Personalausweise, und wir sollten nicht von Bürokraten auf der Straße angehalten werden, um zu beweisen, wer wir sind.«
Farage ist vielleicht noch nicht aufgefallen, dass Nicht-EU-Ausländer in Großbritannien seit einigen Jahren sehr wohl Personalausweise tragen müssen. Er kritisierte vor allem die mangelnde Effizienz der Maßnahmen. Er wünsche sich bessere Kontrollen an den Außengrenzen, nur damit sei die Immigration wirksam einzuschränken.
Trotz der allgemeinen Aufregung über die »dummen und abstoßenden« Maßnahmen (so der ­liberale Wirtschaftsminister Vince Cable) gibt es wenige Politiker in Großbritannien, die die relativ liberale Migrationspolitik in den ersten Jahren von New Labour noch offen verteidigen. Darin spiegelt sich die durch eine lange Rezession weiterhin angespannte wirtschaftliche Lage im Land.

Im politischen Diskurs hat die Regierung die komplexe Problematik auf eine zentrale Zahl reduziert: die net migration (Netto-Migration), also die Differenz zwischen die Ein- und Auswanderung. In den vergangenen Jahren lag sie in Großbritannien immer in einer Größenordnung von gut 200 000. Dies ist ein wichtiger Faktor in der Bevölkerungsentwicklung. Großbritannien ist das einzige der großen EU-Länder mit einer deutlich wachsenden Bevölkerung und wird in der Mitte des 21. Jahrhunderts voraussichtlich mehr Einwohner haben als Deutschland. Die Immigration trägt neben hohen Geburtenraten maßgeblich zu diesem Trend bei.
Die Tories hatten im Wahlkampf 2010 versprochen, die Netto-Migration in Großbritannien auf »einige Zehntausend« zu reduzieren, und dies dann auch im Koalitionsvertrag mit den Liberaldemokraten festgeschrieben. Doch in den ersten Jahren nach der Wahl wuchs die Netto-Migration erst einmal. Denn durch die Rezession kamen zwar weniger Migranten ins Land, aber zugleich konnten es sich weniger Briten leisten, nach Spanien, Portugal oder Griechenland auszuwandern. Vor allem Rentner hatten seit den achtziger J­ahren Großbritannien den Rücken gekehrt, um ihren Ruhestand in sonnigen EU-Ländern zu ­verleben.
Ohne die Möglichkeit, die Einwanderung aus EU-Ländern zu begrenzen, hat die Regierung in den vergangenen zwei Jahren insbesondere internationale Studierende von außerhalb der EU ins Visier genommen, um die Netto-Migration zu reduzieren.

Bereits unter New Labour mussten die Universitäten kontrollieren, ob die Studenten auch wirklich an den Kursen teilnehmen, und dies an die Immigrationsbehörden melden. Dieses Outsourcing der staatlichen Immigrationskontrolle kam bei wenigen Universitäten gut an, und viele Professoren und Dozenten weigern sich rundheraus, diese Listen auszufüllen. Die konservative Regierung hat nun im vergangenen Jahr den Druck auf die Universitäten deutlich erhöht. Der London Metropolitan University wurde wegen Verstößen gehen die Migrationskontrollen die Lizenz entzogen, ­internationale Studierende aufzunehmen. Die Visa von etwa 2 000 internationalen Studenten wurden von einem Tag auf den anderen ungültig. Die Studierenden hatten 60 Tage, das Land zu verlassen oder eine neue Universität zu finden. Die Maßnahme löste Kritik aus, doch die Regierung blieb kompromisslos, denn, so argumentiert sie, Studentenvisa würden oft zur illegalen Einwanderung missbraucht.
Ende 2012 wurde dann beschlossen, alle rund 100 000 Studenten aus dem außereuropäischen Ausland, die 2013 in Großbritannien studieren wollten, individuell zu interviewen. Bis dahin hatte es bloß Stichproben der UKBA gegeben. Ins­besondere in den Ländern des Commonwealth, allen voran Indien, lösten die Maßnahmen Irri­tation aus. In vielen Zeitungen wurde berichtet, dass indische Studierende in Großbritannien nicht mehr willkommen seien, worin auch postkoloniale Sensibilitäten zum Ausdruck kommen. Die britische Regierung betonte, dass dies nicht der Fall sei, es gehe lediglich um die Einschränkung des Visa-Missbrauchs. Im Ergebnis verstehen die Inder die Maßnahmen allerdings schon richtig, denn das Ziel der Regierung bleibt die Reduktion der Netto-Migration.
Dabei sind Studierende aus Nicht-EU-Ländern in Großbritannien in den vergangenen 20 Jahren ­zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor geworden. Hohe Studiengebühren für Master- und Bachelor-Programme tragen inzwischen maßgeblich zur Finanzierung der britischen Universitäten bei, ­deren staatliche Mittel immer weiter gekürzt worden sind. Für die gesamte britische Wirtschaft, wusste Wirtschaftminister Cable zu berichten, ist die britische Hochschulindustrie ein Export­schlager geworden, der viel Geld ins Land holt.
Das wird nun aber durch die Immigrations­politik behindert. Im ersten Jahr nach der Einführung der neuen Visabestimmungen ist das erste Mal seit Jahrzehnten die Zahl Visanträge von ausländischen Studierenden zurückgegangen. Die Lobbyorganisation der Universitäten, Univeristies UK, hat der Regierung deswegen schwere Vorwürfe gemacht, weil einige Hochschulen sogar in ihrer Existenz bedroht sind.
Cable hat kürzlich angedeutet, dass er internationale Studenten lieber nicht mehr in der Migra­tionsstatistik gezählt sähe. Cable will auch prüfen, ob die Verschärfungen der Visa-Politik zurück­genommen werden könnten. Doch für die Konservativen um Innenministerin Theresa May sind die ökonomischen Argumente für die studentische und sonstige Einwanderung und inzwischen selbst für den Tourismus in den Hintergrund getreten.
Ein weiteres Beispiel für die restriktive Politik betrifft die sogenannten Landarbeiter-Visa. Diese existieren seit dem Zweiten Weltkrieg und erlauben die saisonale Beschäftigung von Landarbeitern in der britischen Landwirtschaft. Die Regierung will diese abschaffen, trotz der Proteste ­der Bauernverbände, die zu bedenken geben, dass dies lediglich der irregulären Immigration Vorschub leiste.
Trotz aller Radikalität von Rhetorik und Maßnahmen ist die Regierung weit von ihrem Ziel entfernt, die Netto-Einwanderung auf »einige zehntausend« zu reduzieren. Auch im Sommer 2013 lag diese bei rund 160 000.