Langsam ist das neue Schnell

Don’t slow me down!

Downshiften, entschleunigen, »slow« ­leben. Das ist angesagt, aber das kann nicht jeder.

Langsam ist das neue Schnell. »Chi va piano va sano e va lontano«, hätte meine Großmutter ­gesagt. Das Sprichwort, das mit »wer langsam geht« beginnt, gibt es in vielen Sprachen und es hat in den vergangenen zehn bis 15 Jahren eine Renaissance erlebt. Als es alles anfing mit der Wiederentdeckung der Langsamkeit, war ich schon kein Kind mehr. In meiner Generation wurde uns schon im Grundschulalter beigebracht, den Spruch anders als meine Oma zu vervollständigen, nämlich: Wer langsam geht, wird Letzter. Anders formuliert: Zeit haben ist etwas für Loser.
Ich liege damit überhaupt nicht im Trend, aber ich gehöre zu jener armseligen Kategorie von Menschen, die noch nie das Bedürfnis hatten, »einen Gang runterzuschalten« oder »die Bremse zu ziehen«. Nicht, dass mich das beruflich besonders weit gebracht hätte, aber »entschleunigen«? »Ausspannen«? Wie so etwas geht ohne die Einnahme von Opiaten, Benzos und Cannabis, war mir immer ein Rätsel. Ich habe es trotzdem versucht, aus reiner Neugier – ob am Langsammachen vielleicht doch etwas dran ist? – mit dem Klassiker für Einsteiger, mit Yoga. Und tatsächlich, das mit den Atemübungen könnte sogar funktionieren, wären da nicht diese fünf bis zehn Minuten zum Schluss. Shavasana, die ­Tiefentspannung, auch dead body pose genannt. Die kann einen in der Tat umbringen. Vor Lan­geweile. Den Raum verlassen, bevor es damit losgeht, gehört sich jedenfalls nicht. Es sei denn, man ignoriert die entrüsteten Blicke der anderen Teilnehmer, die sich nach der totalen Entspannung sehnen, sowie die strenge Stimme, die dir hinterherruft: »Halt! Die Praxis ist doch nicht zu Ende, jetzt kommt das Schönste, die Tiefentspannung!« Die muss nämlich sein.
Diese Probleme haben natürlich nur Anfänger. Die Profis des downshifting, wie man das entschleunigte Leben heute nennt, sind keine Totalaussteiger, sondern Leute, die den Jakobsweg laufen, für Schweigeaufenthalte ins Kloster gehen oder am Wochenende Kühe melken oder Gemüse ernten gehen. Unzählige Coaching-Angebote versprechen, aus jedem Workaholic, der kurz vor dem Burn-out steht, einen downshifter zu machen. Vorausgesetzt, man bringt viel Geld mit und ist danach bereit, auf »unnötigen Luxus« zu verzichten. Ob das Ausschalten des Smartphone dann leichter fällt, hängt vermutlich von der Höhe der Seminargebühr ab. Die Idee vom »einfacheren Leben«, wie sie der Wirtschaftsphilosoph Charles B. Handy in den neunziger Jahren mit dem Begriff downshifting populär machte (»Die Fortschrittsfalle. Der Zukunft einen neuen Sinn geben«), besteht in nichts anderem als darin, ein bisschen Verzicht zu üben, nach der Devise »weniger ist mehr«.
Symphatischer wirkt das »Slow«-Konzept, zumindest in seiner ursprünglichen Fassung: »Gegen diejenigen – sie sind noch die schweigende Mehrheit – die die Effizienz mit Hektik verwechseln, setzen wir den Bazillus des Genusses und der Gemütlichkeit, was sich in einer geruhsamen und ausgedehnten Lebensfreude manifestiert«, heißt es im Slow-Food-Manifest von 1989 (siehe Interview). Die mit Genuss statt mit Askese und Verzicht verbundene Rehabilitierung der Langsamkeit war sehr erfolgreich. Weil diese Lebensphilosophie nicht von weltfremden Spinnern und fortschrittsfeindlichen Aussteigern propagiert wurde, sondern sich in den kleinbürgerlichen Alltag gut integrieren ließ, wurde sie populär. Mittlerweile hat sich das »Slow«-Konzept auf viele andere Bereiche ausgeweitet. In Europa, Australien, Kanada und sogar Südkorea sind Dutzende Städte Teil des Netzwerks Cittaslow der »lebenswerten Städte«, das im italienischen Orvieto gegründet wurde. Unter dem Motto »Slow is besser« haben sich diese Städte verpflichtet, bestimmte Kriterien in der Umwelt-, Infrastruktur- und Sozialpolitik zu erfüllen. Entschleunigung und Nachhaltigkeit stehen ­dabei im Mittlepunkt.
2010 wurde in Deutschland das Slow-Media-Institut gegründet, dem es laut Selbstbeschreibung in Anlehnung an Slow Food nicht um »schnelle Konsumierbarkeit« von Medien und Medien­inhalten geht, »sondern um Aufmerksamkeit bei der Wahl der Zutaten und um Konzentration in der Zubereitung«. Essen, Wohnen, Zeitunglesen, ziemlich alles kann man mittlerweile »slow« angehen: Es gibt Slow Travelling, Slow Schooling, Slow Money, Slow Sex . Klingt alles sehr entspannt. Nur die Zeit müsste man haben.