Der Film »Der Schaum der Tage«

Die Welt als Puppenstube

Der französische Regisseur Michel Gondry verfilmt Boris Vians Kultroman »Der Schaum der Tage«. Passender hätte es nicht kommen können? Vielleicht liegt darin das Problem.

Es ist der reinste Müßiggang, ein sorgloses Leben voller Genuss, für alles ist in diesem wundersamen Haus gesorgt. Die Dinge des alltäglichen Gebrauchs führen ein Eigenleben, der französische Regisseur Michel Gondry führt uns spielerisch vor, wie sie den Wünschen der Bewohner zuvorkommen: Schuhe stellen sich zum Anziehen bereit, die Garderobe ist in Sekundenbruchteilen angelegt, der Koch arbeitet mit der Küchenmaus zusammen und die Musik von Duke Ellington beseelt Leben und Interieur gleichermaßen. Geld ist genug vorhanden, Colin muss keiner Lohnarbeit nachgehen und kann es sich leisten, den »Pianocktail« in seinem Keller zu bedienen. Er ist eine überaus praktische Erfindung: Halb Klavier, halb Bar, mischt die Maschine Cocktails nach auf den Tasten gespielten Melodien. Moll und Dur – alles eine Frage des Geschmacks.
Dass sich Boris Vian, der Autor von »Der Schaum der Tage«, in seiner Phantasie einen solchen Apparat ausmalte, folgt einer verblüffenden Logik. Das war vielleicht etwas sehr Seltenes in seinem Leben. Denn oftmals drückte er sich um die anerkannten Gesetzmäßigkei­ten der Welt, viel witziger war es schließlich, sie gleich ganz aus den Angeln zu heben. Als der Roman 1946 erschien, führte Vian ein Doppelleben. Zumindest würde man es heute so nennen. Tagsüber war er Ingenieur, nach Dienstschluss arbeitete er in den Pariser Kellerlokalen daran, mit seiner Trompete zu einer der schillerndsten Figuren des Nachtlebens zu werden. Der Pianocktail verband sozusagen das Beste aus beiden Welten miteinander. Obwohl die Ingenieurstätigkeit eher das Mittel war, um sich die Verausgabung des Lebens im Jazz leisten zu können.
Vian arbeitete wie ein Besessener. Zum einen, weil sein Geltungsdrang ihn dazu veranlasste. Zum anderen war ihm schon früh bewusst, dass eine Herzkrankheit seinem Leben ein jähes Ende bereiten würde. Es gab keine Zeit zu verlieren: Er übersetzte Literatur, produzierte in etwa so viele Romane wie Skandale, komponierte fast 500 Chansons, verfasste Satiren, Gedichte, Libretti und gab sich der Musik auf eine Weise hin, die seine Gesundheit gefährdete. In den vierziger Jahren spielte er Trompete, wann immer sich die Gelegenheit dazu ergab. Er organisierte Partys, kuratierte musikalische Programme und verfasste Plattenkritiken. »Ich habe ein bewegtes Leben geführt, doch ich fange gern nochmal von vorne an«, schrieb Boris Vian 1946 mit der ihm typischen Vorliebe für Paradoxien.
Dass die Tatsache, dass »Der Schaum der Tage« in weniger als drei Monaten niedergeschrieben wurde, seine Zeitgenossen verwunderte, darf bezweifelt werden. Vian legte in jedweder Hinsicht ein beachtliches Tempo an ­den Tag, an Schlaf war selten zu denken. Für eine Überraschung sorgte das Manuskript trotzdem, denn kaum jemand hatte damit gerechnet, dass Vian sich zu einem Roman mit tieftrauriger Stimmung hinreißen lassen würde. Schließlich stand er in dem Ruf, sein Umfeld gern zu amüsieren und sich vom Ernst der Welt keine gute Geschichte vermiesen zu lassen. Obwohl, humorlos ist auch »Der Schaum der Tage« nicht. Bleibt einem zwar angesichts der tragischen Erzählung bald das Lachen im Halse stecken, sind gerade Vians Kommentare des Zeitgeschehens von einzigartiger Komik. Colins Freund Chick ist besessen von einem Großmeister der Philosophie, dessen Name damals tagtäglich durch die Gazetten geisterte – und dessen Aura wahrscheinlich nicht weniger überwältigend war als die heutiger Popstars. Das zeigte sich auch am 29. Oktober 1945, als sein Auftritt in der »Salle des Centreaux« dazu führte, dass Fans die Kasse zerkloppten und, wenn sie nicht gerade in Ohnmacht fielen, damit beschäftigten waren, eine Saalschlacht anzuzetteln. Vian greift dieses Ereignis auf und nennt den Verursacher des Tumults beim Namen: Jean-Sol Partre. Niemand wollte sich die Show des Meisterdenkers entgehen lassen. Vian lässt die Schaulustigen durch die Kanalisation kriechen, aus dem Flugzeug abspringen und den Maestro wie einen König einreiten und in der Menge baden. Michel Gondrys Adaption hingegen wirkt, als habe er sein ganzes Leben darauf gewartet, endlich diesen Film machen zu können und setzt Partre in eine riesige pfeifenförmige Kanzel. Sie ist nur eines der zahlreichen Elemente, die Vians Spott die Zähne ziehen.
Bis vor nicht allzu langer Zeit kam der Name Michel Gondry nie ohne eine Erwähnung seiner Musikclips aus: Daft Punk, Chemical Brothers, White Stripes, Björk – die Liste seiner visionären Arbeiten ließe sich fortsetzen. Wie Mike Mills und Spike Jonze wurde Michel Gondry durch seine Musikvideos vom Geheimtipp zum Konsens-Regisseur einer Generation stilsicherer Indie-Fans, die in seinen Arbeiten den Versuch sahen, Clips nicht als Werbemaßnahme zu inszenieren, sondern als Kunst zu begreifen. Konnte Gondry seinen Ruf mit »Vergiss mein nicht« (2004) – einer psychoanalytischen Reise ins Innere einer Liebesbeziehung – noch festigen, beschlich so manchen mit dem folgenden Film »Science of Sleep« (2006) der Verdacht, bei Gondry handele es sich um einen Regisseur, der das ungefährlichste und wohl auch spießigste Künstlerbild zielgerichtet bediente: der Künstler als spielendes Kind mit Schalk im Nacken. Sein Kommentar zu »Der Schaum der Tage« verwundert deshalb nicht: »Die Vorstellung, dass die Dinge quasi lebendiger sind als Menschen, entspricht mir sehr. Als Kind hielt ich Sachen nämlich oft für Menschen und bildete mir ein, dass sie sich gegen mich verschworen hatten.«
Gondry blieb seiner Linie treu, weshalb es nur eine Frage der Zeit war, bis seine Handschrift abgenutzt sein würde. Tatsächlich ist der progressive Aspekt seiner Arbeit einer zur Routine gewordenen Schöpfung sich wiederholender surrealer Welten gewichen. Die Trickkiste ist immer die gleiche, Gondry steht dem Regisseur Tim Burton in puncto Gleichförmigkeit in nichts mehr nach: Von seinen Trips in phantastische Welten ist kaum Unerwartetes mehr zu erwarten. Deshalb hinterlässt die Einschätzung, Gondry sei selbstverständlich der richtige, wenn nicht sogar einzig vorstellbare Regisseur für »Der Schaum der Tage«, einen so faden Beigeschmack. Daran vermag auch »The Green Hornet« (2011) nichts zu ändern, Gondrys Ausflug ins Actionkino, der so richtig nicht zünden wollte.
Vians Roman besitzt in Frankreich Kultstatus, er ist ein Bestseller, einem Millionenpublikum vertraut. Gondry ist bewusst, dass die Verfilmung ein gewisses Risiko birgt, und setzt vielleicht deshalb die ebenso schrägen wie klaren Bilder Vians streckenweise unvermittelt um. Er folgt der Handlung des Romans: Colin verliebt sich in Chloé, sie heiraten, ein Unheil dräut am Horizont – wir kennen diese Geschichten, sie haben Tradition. Weil die Harmonie brüchig wird, zerreißt auch die Welt: Bei Gondry springt der Boden auf, das schöne Leben wird zerstört, das magische Haus verfällt, wie ein Fluch ziehen die Zumutungen des Alltags ein. Colin muss arbeiten gehen, Chloés Krankheit – eine Seerose, die in ihrer Lunge heranwächst – zwingt ihn dazu. Gondry zeigt die Arbeit auf eine Weise, von der man annehmen könnte, dass sie Vian gefallen hätte. Denn entmenschlichender, trister und absurder als diese Waffenschmiede, die Colin noch dazu nötigt, einen Beitrag zur Zerstörung der Welt zu leisten, kann ein Arbeitsplatz nicht sein. Im letzten Viertel des Films weicht schließlich die Farbe aus den Bildern, die Atmosphäre wird drückend. So drückend, dass Gondry heftig kritisiert wurde und sich beugte. Die internationale Fassung des Films ist gut 30 Minuten kürzer als die französische.Welches Unglück dadurch abgewandt wurde, lässt sich in Deutschland nur vermuten. Auch in der Kurzfassung will und will der Film kein Ende finden. Gondry, der es sich übrigens bar schauspielerischen Talents nicht hat nehmen lassen, selbst in nicht gerade kleiner Rolle mitzuspielen, scheint sich gezwungen gesehen zu haben, sein Kuriositäten-Arsenal vollends auszuschöpfen. Hier noch eine Idee, dort noch etwas mit Uhu und Schere drollig Geflickschustertes – die überspitzten Kommentare der Vorlage werden durch halbgaren Aberwitz in eine verkitschte Puppenstubenhaftigkeit überführt. Der Film ächzt unter der Fülle mäßiger Einfälle, Gondry fasst Vians Bilder als willkommenen Anreiz auf, seine eigene Originalität unter Beweis zu stellen. Naturgemäß in altmodisch anmutender Stop-Motion-Technik, einem mechanischen Verfahren, das Gondrys Bildästhetik den Charme des Vergangenen verleiht – woanders würde man es retro nennen und vielleicht sogar ein bisschen knuffig finden. Dass es zu Gondrys Spezialitäten zählt, das Geschehen und die Psychologie der Figuren eher durch Bilder als durch den Plot darzustellen, wird in »Der Schaum der Tage« zum Verhängnis: Die Erzählung wird von der üppigen Kulisse erdrückt, die Schauspieler gehen im Gestöber der surrealen Schnapsideen unter, oder können sich nicht durchsetzen. Fragt sich, was tragischer ist.
Verglichen mit Vians früher verfasstem Roman »Drehwurm, Swing und das Plankton« und dem nachfolgenden »Ich werde auf eure Gräber spucken«, löste »Der Schaum der Tage« keinen Skandal aus. Dass sein heiterer Quatsch für Kopfschütteln sorgte, steht jedoch außer Frage. Denn wie konnte ein Schriftsteller angesichts der drängenden politischen Fragen dieser Jahre derartige Albernheiten von sich geben? Anders als Gondry liebte es Vian, den Zeitgeist herauszufordern. Mag er auch von manchen als Hofnarr der Existenzialistenszene betrachtet worden sein, seine Provokationen trafen und die Strategie, die allzu klugen Expertisen seiner Zeitgenossen offensiv abzulehnen, politische Argumente als politische Zugeständnisse zu betrachten, machte ihn zu einem mittlerweile sagenumwobenen Kritiker. »Stärker denn je teilt sich heute das Unbändige, Anarchische, Überlebenswütige seines Werks mit. Sein Leben war mit diesem Werk nahezu identisch. Es ist nicht gealtert: Boris Vian ist vielmehr ein lebendiger Mythos. Je weiter die Zeit fortschreitet, desto jünger scheint er zu werden. Vian ist ein Klassiker geworden, aber ein entschieden respekt­loser, einer ohne Bart und nicht in Ziegenleder gebunden«. Der Theaterhistoriker und Dramaturg Klaus Völker schrieb diese Zeilen, bevor Michel Gondry seinen Film gedreht hatte. Der Regisseur macht aus dem Bürgerschreck einen zahmen Clown. Vielleicht hätte aber genau das dem Störenfried Vian gefallen. Er starb 1959 im Alter von 39 Jahren in Paris, es geschah im Kinosaal, während er sich die Verfilmung seines Romans »Ich werde auf eure Gräber spucken« ansah.

»Der Schaum der Tage«. F/B 2013. Regie: Michel Gondry, Darsteller: Romain Duris, Audrey Tautou, Omar Sy.
Kinostart: 3. Oktober 2013