»Lebensfreude statt Verzicht«
In Ihrem Film erzählen Sie die Geschichte von Slow Food als politischer Bewegung, der es um mehr geht, als um die Verteidigung des guten Essens gegen Fast Food. Wollten Sie Slow Food vom Image einer elitären Gruppe von Feinschmeckern mit antiamerikanischen Einstellungen befreien?
Ich wollte zunächst die Geschichte der Bewegung erzählen, wie ich sie kenne, wie sie mir von ihren Protagonisten erzählt wurde. Viele, insbesondere außerhalb Italiens, glauben, Slow Food sei erst 1986 mit dem Protest an der Piazza di Spagna entstanden. Das stimmt nur insofern, als damals der Name zum ersten Mal vorkam. Aber wie ich im Film zeige, gab es die Gruppe um Carlo Petrini und die Idee hinter dieser Bewegung schon lange, als der Begriff Fast Food – zumindest in Italien – noch nicht geläufig war. Die Eröffnung der ersten italienischen McDonald’s-Filiale war eine Gelegenheit, um als Slow Food erstmals an die Öffentlichkeit zu gehen. Die Idee, die es mit diesem Namen zu transportieren galt, war aber nicht: Die Amerikaner verderben unsere schöne nationale Esskultur mit ihrem hässlichen FastFood-Fraß, sondern, wie es im drei Jahre später verfassten Manifest heißt, »das Geruhsame, Sinnliche gegen die universelle Bedrohung durch das Fast Life« zu verteidigen. Die Betonung lag hier nicht auf Verzicht und Askese, sondern auf Genuss, Gemütlichkeit und Lebensfreude. Die Gruppe um Petrini gehörte zur außerparlamentarischen Linken, zu jenen »Häretikern«, die das kommunistische Arbeitsethos ablehnten. In diesem Zusammenhang hatten Langsamkeit und Gemütlichkeit eine politische Bedeutung.
Wie ist es heute, da Slow Food zu einer internationalen Organisation geworden ist?
Heute ist Langsamkeit sogar revolutionärer als damals. Die Entwicklung zu einer großen Organisation war eine Entwicklung hin zum politischen Pragmatismus. Verloren gegangen ist dabei die spielerische und ironische Zelebrierung von Genuss, die am Anfang auch bewusst gegen das strenge kommunistische Arbeitsethos eingesetzt wurde. Die politische Praxis, die Slow Food im Laufe der Jahre entwickelt hat, geht in die Richtung, den Markt zu beeinflussen. Man versteht sich dabei nicht als Weltverbesserer, sondern man setzt sich ein für den Erhalt der biologischen Vielfalt, für nachhaltige Anbau- und Verarbeitungsmethoden und dafür, konkrete Veränderungen in der Lebensmittelproduktion und -distribution zu fördern. Man möchte dazu beitragen, die Verhältnisse in der nichtindustriellen Lebensmittelwirtschaft zu verändern, zum Beispiel die Arbeitsbedingungen in der lokalen Landwirtschaft zu verbessern, so dass Menschen, die es wollen, von dieser Arbeit leben können. Niemand ist so naiv zu denken, dass es heute möglich wäre, aus der industriellen Lebensmittelproduktion auszusteigen. Aber wenn das Wissen darüber, was produziert, gekauft, gekocht und gegessen wird, erweitert wird, kann man all dies bewusster machen. Die Entscheidung für den Fast-Food-Burger oder das Discount-Gemüse wird dann auch bewusster gefällt. Die Verteidigung des Rechts auf Genuss für alle war vielleicht revolutionärer, subversiver als die politische Arbeit. Aber Petrini und seine Mitstreiter waren die Ersten, die verstanden haben, dass der Kampf auf dem Gebiet der Lebensmittelökonomie in unserer Zeit entscheidend werden würde.
In Deutschland gelten Bioläden als Symbol grüner Spießigkeit, gutes Essen gilt als elitär und gesunde Ernährung als konterrevolutionär. Wie reagierte man in Italien auf die kommunistischen Feinschmecker?
Im Italien der Nachkriegszeit hatten wir die stärkste kommunistische Partei Westeuropas und gleichzeitig Jahrzehnte christdemokratischer Regierungen. Es waren die Jahre des sogenannten cattocomunismo (wörtlich: Katho-Kommunismus, Anm. d. Red.), der die Gesellschaft politisch und kulturell prägte. Da trafen sich die katholische Ethik des Verzichts und das Dogma der politischen Militanz als Selbstopfer für die Revolution. Dagegen kämpften die kommunistischen Häretiker. Die italienische Linke der sechziger und siebziger Jahre konzentrierte sich auf die Arbeiterklasse. Der Gruppe um Petrini ist unter anderem zu verdanken, dass sie die Genossen daran erinnerte, dass es in Italien auch auf dem Land noch massenhaft Arbeiter gab. Der Bruch mit dem Mythos des Fabrikarbeiters ging einher mit der Politisierung des Begriffs der Langsamkeit. Aber das war nicht alles. Petrini und seine Freunde haben den Genuss am Essen und Trinken vom Stigma einer hedonistischen, also konterrevolutionären Flucht ins Unpolitische befreit.
Die Esskultur wurde also als politisches Feld deklariert. Sie sagten bereits, dass die subversive Zelebrierung von Genuss und Langsamkeit heute in den Hintergrund gerückt ist. Liegt die Betonung jetzt auf ökologischer Umerziehung? Nein, auf keinen Fall. Slow Food missioniert nicht. Umweltschutz und Nachhaltigkeit sind keine moralischen Prinzipien, nach denen Individuen moralisch verurteilt werden, sondern Schlüsselthemen der globalen Ökonomie. Tugendterror ist nicht der Ansatz von Slow Food. Man hat einfach gesagt: Diese Lebensmittel, die auf eine bestimmte Art, nach bestimmten Kriterien produziert, verarbeitet und vermarktet werden, schmecken einfach besser. Man hat in Zeitungsbeilagen und anderen Publikationen gesagt, in welchen kleinen, namenlosen Osterien auf dem Land gutes Essen zu finden war, und keine Anleitungen geschrieben, wie die Welt gerettet werden kann. Das Konsumverhalten der Italiener hat sich bereits verändert. Der letzte Bericht der Coop (der größten italienischen Einzelhandelskette, Anm. d. Red.) stellt unter anderem fest, dass zwölf Prozent der Haushalte sich kaum eine proteinhaltige Mahlzeit alle zwei Tage leisten können und dass immer mehr Leute anfangen, Gemüse auf dem eigenen Balkon anzubauen. Außerdem fahren 25 Prozent weniger Auto und der Verkauf von Zigaretten ist um 14 Prozent zurückgegangen. Gleichzeitig ist der Verkauf biologischer Lebensmittel um 17 Prozent gestiegen.
Gegen die Wand fahren, statt freiwillig die Bremse zu ziehen, und am Ende kommt dasselbe raus, möchte man sagen. Begrüßen Sie diese Entwicklung?
Ich würde nicht so weit gehen, aufgrund solcher Angaben die Krise zu bejubeln, das wäre zynisch. Aber dass die Wirtschaftskrise uns alle dazu zwingt, ein auf »schneller, höher, weiter« basierendes Entwicklungsmodell zumindest in Frage zu stellen, finde ich tatsächlich positiv. Vor zehn bis 15 Jahren hat man schöne Theorien über die Globalisierung und den Neoliberalismus und deren Folgen entwickelt. Für immer mehr Leute im ehemals wohlhabenden Westeuropa werden diese Theorien heute Realität. Von den Globalisierungstheorien bis zum Gemüse auf dem Balkon, vielleicht wäre dieser Schritt ohne die Krise nicht vollzogen worden. Er wird aber aus Not gemacht und nicht aufgrund einer bewussten Entscheidung … Ja und nein. Dass die Leute mehr Bio-Lebensmitteln kaufen zeigt eher, dass ein bewussterer Umgang mit Ernährung und Lebensmitteln für viele Menschen zum Teil des Alltags geworden ist. Das heißt doch, dass immer mehr Menschen einsehen: Für gutes, sauberes und faires Essen kann man – muss man nicht, aber man kann – mehr bezahlen. Und wenn man ein Problem mit Bioläden hat, warum auch immer, kann man auch direkt beim Bauer und Züchter kaufen. Kaufgruppen, die direkt beim Hersteller kaufen, haben sich in Italien mit der Wirtschaftskrise immer mehr etabliert. Das unterstützt die lokale Landwirtschaft und man bekommt Bio-Essen, Siegel hin oder her, günstiger als im Bioladen. Wenn das aus Not passiert, umso besser. Das zeigt uns wenigstens einen konkreten Weg, um aus dieser Krise halbwegs heil herauszukommen. Es sind kleine Schritte, mir ist das bewusst. Um die großen Theorien zur Abschaffung des Kapitalismus können sich diejenigen kümmern, die weniger materielle Probleme haben, die Deutschen zum Beispiel! (lacht)
»Slow Food Story« Dokumentarfilm, Italien 2013, 73 Minuten. Kinostart: 10. Oktober 2013