Zeit, Fortschritt und Stillstand

Zeit lassen beim Absterben

Als die Zukunft offen schien, konnte den Menschen der Fortschritt nicht schnell genug gehen. Seit sie zur Drohung erstarrte, wollen sie ihn entschleunigen. Die Hoffnung, aus der verrinnenden Zeit heraus­zutreten, haben sie aber fast aufgegeben.

Seit jeher gilt es als Ausweis eines irgendwie kritischen Bewusstseins, dazu beitragen zu wollen, dass die Welt nicht bleibt, wie sie ist. Stillstand ist tödlich, alles ist im Fluss, wo immer Umbrüche, Machtverschiebungen und verwandte Lieblings­phänomene progressiver Betriebsnudeln sich abzeichnen, gilt es Unterstützungsarbeit zu leisten, denn ein Tag ohne Intervention ist ein verlorener. Dass sie in ihrem Kampf gegen verkrustete Strukturen, in ihrer Verherrlichung der Jugend, in ihrer blindwütigen Feier von Bewegung und Dynamik nicht nur den ihnen sonst verhassten Propagandisten von Flexibilität und Selbstoptimierung zum Verwechseln ähnlich sind, sondern nolens volens auch die Zukunftsfähigkeit des Nationalsozialismus unter Beweis stellen, jener genuin deutschen Modernisierungsbewegung, deren Wesen, wie Max Horkheimer früh bemerkte, der Umsturz in Permanenz ist – das fällt den ehrenamtlichen Öffentlichkeitsarbeitern für subversive Praxis längst nicht mehr auf. Indessen ist Fortschritt, als Vokabel schon veraltet, zu dem zusammengeschrumpft, was ohnehin geschieht: stur optimistischer Vollzug des fortwährenden Status quo. Nichts ist so sicher wie die Tatsache, dass die Welt nicht bleiben wird, wie sie ist; ob sie doch einmal frei sein wird, ist eine Frage für Spinner und Phantasten.
Weder ein Linker noch ein Spinner, sondern ein Realist und eben deshalb ein Phantast, war Franz Kafka, aus dessen Aufzeichnungen sich über den Begriff des Fortschritts mehr lernen lässt als von sogenannten engagierten Künstlern. In seinen Tagebüchern findet sich die Notiz: »Ich blieb mit meinem Denken bei den gegenwärtigen Dingen (…) aus Traurigkeit und Furcht, aus Traurigkeit, denn weil mir die Gegenwart so traurig war, glaubte ich sie nicht verlassen zu dürfen, ehe sie sich ins Glück auflöste, aus Furcht, denn wie ich mich vor dem kleinsten gegenwärtigen Schritt fürchtete, hielt ich mich auch für unwürdig, (…) ernstlich mit Verantwortung die große männliche Zukunft zu beurteilen, die mir auch meistens so unmöglich vorgekommen ist, dass mir jedes kleine Fortschreiten wie eine Fälschung erschien und das Nächste unerreichbar. Wunder gab ich leichter zu als wirklichen Fortschritt.« Darauf antwortet der Satz aus den Oktavheften: »Der Mes­sias wird erst kommen, wenn er nicht mehr nötig sein wird, er wird erst einen Tag nach seiner Ankunft kommen, er wird nicht am letzten Tag kommen, sondern am allerletzten.«
In der unversöhnten Welt ist auch der letzte Tag, eher apokalyptische Drohung als messianische Hoffnung, dem Fluch der qualitätslos verrinnenden Zeit unterworfen, aus der herauszutreten vielmehr Voraussetzung profaner Erlösung wäre – jenes »allerletzten«, der chronischen Zeit entsprungenen Tages nämlich, an dem die Traurigkeit der ihre eigene Leere verewigenden Gegenwart sich »ins Glück aufgelöst« hätte. Statt Geschichte zu theologisieren, nimmt Kafka die Theolugomena beim Wort, als Index einer diesseitigen Negativität, der schlechten Immanenz: »Dem Diesseits kann nicht ein Jenseits folgen, denn das Jenseits ist ewig, kann also mit dem Diesseits nicht in zeitlicher Berührung stehn.« Zwischen der Negativität des Bestehenden, dessen schlechte Unendlichkeit die Ewigkeit parodiert, und ihrem emphatischen Gegenbegriff kann keine Kontinuität der Entwicklung gedacht werden. Was wahrhaft zwischen beidem vermittelte, wäre der Sprung vom einen ins andere, jenes »Herausspringen aus der Totschlägerreihe«, das Kafka als Bewegungsgesetz seines Schreibens bestimmt hat: keine mit pausbäckigem Eifer betriebene Arbeit an der endlosen Veränderung des Bestehenden, sondern dessen Abschaffung durch das Glück, das in ihm nicht sein kann.

Kaum zufällig wird der »wirkliche Fortschritt« von Kafka nicht als Prozess, sondern in Anlehnung an die Geste des »Schritts« ins »Nächste«, das doch »unerreichbar« scheint, fast als dessen Gegenteil gefasst, als plötzlicher Akt, der die schlechte Wiederkehr des Gleichen unterbräche. Ist aber alles bloße »Fortschreiten« als »Fälschung«, als Weitergehen des Falschen erkannt, erscheint der »wirkliche Fortschritt«, auf den es ankäme, als »Wunder«. Als ein profanes freilich, das die Menschen selbst herbeizuführen hätten und für das es weder der zupackenden Hand des Revolutionsarbeiters noch der Oberaufsicht des Verantwortungsethikers bedürfte – Charaktere, in denen die Insassen sozialer Bewegungen unschwer ihre eigenen Blockwarte erkennen könnten, wenn sie wollten –, sondern der durch »Traurigkeit und Furcht« geschärften Erfahrung des Eingesperrtseins in eine »Gegenwart«, die ins Glück nicht führen, sondern sich in ihm nur »auflösen« kann. Kafka hat diesen negativen Akt im Blick auf sein Schreiben mit dem Bild des »stehenden Sturmlaufs« umschrieben, das seinerseits an Walter Benjamins »Engel der Geschichte« denken lässt, der der Zukunft den Rücken kehrt, in die er durch einen vom Paradies her wehenden Sturm, der sich in seinen Flügeln verfangen hat, getrieben wird: »Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.« Obwohl er die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen möchte, ist es ihm unmöglich, weil der Sturm, den »wir« den Fortschritt nennen, ihn nicht »verweilen« lässt.
Was dem nach vorn gerichteten Blick als »Kette«, als Folge von Aktion und Reaktion in der linearen Zeit erscheint, erkennt der Engel als eine einzige Katastrophe, in der nicht das Eine das Andere hervorbringt, sondern das Ganze sich selbst zerstört: An die Stelle der wie Perlen gereihten Begebenheiten tritt der in den Himmel wachsende Trümmerhaufen, höhnische Parodie des Turmbaus zu Babel. Benjamins Engel befindet sich in der Situation von Kafkas »stehendem Sturmlauf«. Der Ausweg in die Vergangenheit, die ihn gleichsam vor sich hertreibt, ist ihm ebenso versperrt wie der in die Zukunft, in die es ihn ohnehin blind und ohnmächtig zwingt. Das »Verweilen«, die Transzendenz linearer Zeit in der Erfahrung des erfüllten Augenblicks, wird von demselben Sturm verhindert, der den Wunsch danach erzeugt. Diese Konstellation, geschichtsphilosophische Allegorie und Absage an jede positive Geschichtsphilosophie zugleich, fasste Benjamin an anderer Stelle in der Formulierung, die Revolution sei eher die Notbremse als die Lokomotive der Geschichte. Auch das zielt nicht auf Umdeutung, sondern auf Einlösung des Begriffs der Revolution, der Rückwendung und Umsturz zugleich bedeutet und das Eingedenken an die sinnlos Gestorbenen – und es gibt nur sinnloses Sterben – voraussetzt: Die Auferstehung der Toten, die der Engel sich wünscht, Lebenselement allen kritischen Denkens, würde eingelöst vom »wirklichen Fortschritt«, der noch das Ephemerste, Anachronistische, zu seinem Recht brächte.
Kafka und Benjamin kannten den Begriff der Entschleunigung nicht, standen aber in Beziehung zu Zirkeln, die als Vorboten der Nachhaltigkeitsideologie gelten können, gegen die ihr Begriff der Revolution als Unterbrechung spröder ist aller Progressismus. Lebensreformer und Kommunitaristen, die Benjamin über seinen reformpädagogischen Lehrer Gustav Wyneken, Kafka durch seinen Vegetarismus und beiden durch ihre Verbindungen mit deutsch-jüdischen anarchistischen Gruppen vertraut waren, prak­tizierten seit der Jahrhundertwende in gegengesellschaftlichen Nischen, was sich spätestens in den achtziger Jahren als Avantgarde entpuppen sollte: Versuche eines langsameren, aufmerksameren, eigentlicheren und dadurch besseren Lebens, in dem der Verzicht auf die als faul erkannten Früchte des destruktiven Fortschritts wie aus sich selbst heraus Freude und Genuss hervorbringen sollte. Was schon damals, organisiert in vorstädtischen Enklaven und sektiererischen Gemeinschaften, Züge eines gruppentherapeutischen Laborversuchs hatte, ist heute vollends zur konformistischen Selbsttechnologie geworden: Eben weil das »Verweilen«, nach dem man sich sehnt, objektiv unmöglich wurde, wird es in Kontemplationsbiotopen eingeübt; eben weil kein Mensch, allein schon wegen des eklatanten Mangels an geeigneten Objekten, irgendetwas noch genießen kann, muss ihm »Genussfähigkeit« eingebleut werden; weil glücklicher Schlaf allenfalls als Kindheitserinnerung existiert, wird er durch ausgewogene Ernährung, Entspannungstraining und Schlaf-Applications induziert; weil alle ständig blöde plappernd und immer unter Strom durch die Gegend rödeln, braucht jeder seine Yoga-Stunde, seinen Früchtejoghurt, seine Bionade, seine totalentspannte Wochenendbeziehung, sein Minütchen quality time, oder, wie es treffend heißt, seine »Auszeit«, in der dann wirklich nichts mehr sich regt, schon gar nicht im Geiste.

Mit jener Unterbrechung, auf die Benjamins und Kafkas Notate zielen, hat die »Auszeit«, die sich die Menschen heute verordnen, damit jeder den eigenen Kollaps überlebt, um sich auf den nächsten freuen zu können, freilich nichts zu tun: Wenn es geboten ist, die Notbremse zu ziehen, empfiehlt es sich nicht, stier kontemplierend durch den Gang zu tranen. Vielmehr stehen alle Versuche der Rehabilitation von »Langsamkeit« (die in den Achtzigern Sten Nadolny ein Buch lang lobte), von »Aufmerksamkeit« (deren nachhaltige »Ökonomie« in den neunziger Jahren der Städteplaner Georg Franck entdeckte) und von »Wahrnehmung« (die der vom antideutschen Stichwortgeber zum Heimatschützer mutierte Christoph Türcke zur Jahrtausendwende als Gegengift zur »erregten Gesellschaft« empfahl) unter dem Bann der Todesdrohung, die nach wie vor und bedrängender als je von der Gesellschaft ausgeht. Borniertes Festhalten an der leeren ­Zukunftshoffnung, Aufschub der Drohung durch Reorganisation der Zeitökonomie, euphorisch-panische Beschleunigung des Endes: Diese drei Strategien sind übrig geblieben nach dem Zerfall der revolutionären Hoffnung, die bei Kafka und Benjamin noch einmal aufleuchtete. Die erste wird verkörpert vom zivilgesellschaftlichen Gesamtsouverän, dessen Vertreter in jedem Gre­mium und jedem Plenum sitzen; die zweite von Sozialökologen, Therapeuten und Mediatoren, die ihnen sekundieren; die letzte und gefährlichste von den postmodernen Propagandisten des »Ereignisses«, den selbsternannten Exponenten des Gegensouveräns, die Benjamins und Kafkas Sehnsucht nach dem Herausspringen der Menschheit aus der perennierenden Katastrophe zur Legitimation der kollektiven Sehnsucht nach dem Ende zurechtlügen. Nicht mehr der Griff zur Notbremse soll die Menschen vor ihrem Ende bewahren, sondern das »Ereignis« soll eben jenes hier und jetzt herbeiführen: Das ist der nicht mehr nur heimliche Wunsch auch der bornierten Fortschrittsoptimisten und nachhaltigen Entschleuniger, die sich deshalb mit ihrer Badiou und Rancière lesenden Entourage immer besser verstehen. Angesichts dieser Allianz ist ein Wunder tatsächlich wahrscheinlicher als ein »wirklicher Fortschritt«.