Abschied von Orbán

Der Legende zufolge hat der Turul, ein mythischer Falke, die Magyaren im Frühmittelalter nach Europa geführt. Viele scheinen mit der Ortswahl nicht mehr zufrieden zu sein. Nach offiziellen Angaben leben bereits 230 000 Ungarinnen und Ungarn in einem an­deren EU-Staat, Schätzungen zufolge sollen in den vergangenen drei Jahren bis zu 500 000 Menschen, etwa fünf Prozent der Bevölkerung, ausgewandert sein. Wie viele gingen, weil sie der Ansicht sind, dass ihre Landsleute einen Vogel haben und sich gegen die völkische Mehrheit derzeit nichts ausrichten lässt, wird nicht statistisch erfasst. Die Abwanderung ist derzeit das deutlichste Zeichen der Unzufriedenheit, doch weiterhin dürften Armut und Arbeitslosigkeit das wichtigste Motiv sein, das Land zu verlassen. Die Hälfte der Ungarinnen und Ungarn zwischen 18 und 29 Jahren gab in einer Umfrage an, die Migration zu erwägen. Doch dem unga­rischen Volkskörper kann man nicht so leicht entwischen. Wirtschaftsminister Mihály Varga lobte Ende September die Arbeitsmigranten, da sie im vorigen Jahr 1,7 Milliarden Euro nach Ungarn überwiesen und so zur »ökonomischen Konsolidierung« beigetragen haben. Tatsächlich hat sich die Wirtschaftslage stabilisiert, und trotz einiger Eingriffe in die Geschäftstätigkeit wie einer Sondersteuer hält sich die Kritik transnationaler Unternehmen in Grenzen. Mit Platz 63 liegt Ungarn auf dem Index der globalen Wettbewerbsfähigkeit des Weltwirtschaftsforums im Mittelfeld der 148 untersuchten Staaten. Man kann bei transnationalen Firmen also durchaus ein wenig Profit abschöpfen, ohne eine Abwanderungswelle befürchten zu müssen. Dass die Fidesz-Regierung gezielt einen staatskapitalistischen Sektor aufbaut, der ihrer Klientelpolitik und der Etablierung ihres Machtmonopols dienen soll, stört die Investoren offenbar nicht.
Möglicherweise sorgt die sprunghafte und widersprüchliche Wirtschaftspolitik für Verwirrung, ohnehin kann man darüber streiten, ob »der Markt« nach ratio­nalen Kriterien reagiert. Sollte das der Fall sein, muss man davon ausgehen, dass auch die Geschäftswelt das ungarische Experiment der Krisenbewältigung mit Interesse beobachtet. Manch ein Investor mag sich daran erinnern, dass sich in der Asien-Krise 1997/98 staatskapitalistische Maßnahmen bewährt haben. Tatsächlich erinnert Viktor Orbán an Mahathir Mohamad, den früheren antisemitischen Ministerpräsidenten Malaysias, der es verstand, mit Hilfe einer völkischen Politik in einem formal parlamentarischen System eine Autokratie zu errichten. Mittlerweile gibt es allerdings auch in Malaysia eine Demokratiebewegung. Sollte der ungarische Frühling weiter auf sich warten lassen, haben die Unzufriedenen dank der EU-Mitgliedschaft immerhin relativ gute Auswanderungsmöglichkeiten. Dann sind Orbán und die Völkischen irgendwann mit ihrem Turul allein zu Haus.