Die ungarische Rassentheologie

Anschwellender Schamanengesang

Die Anhänger einer obskurantistischen Rassentheologie bilden in Ungarn eine von der Regierung geförderte Massenbe­wegung.

Lauter und schneller geschlagene Trommeln, pathetisch dräuende Gesänge – zu dieser Musik könnte man mit Sitting Bull in den Krieg reiten. Die Zuhörerinnen und Zuhörer sitzen allerdings auf bunten Kissen im klassizistisch gestalteten Saal einer Bank im Zentrum Budapests, um der Jam Session der Schamanen zu lauschen. Nach der dramatischen Eröffnung wird die Musik entspannter, fast zu enspannt, wenn man schon ein wenig müde ist. Auch einige Sufi-Klänge sind zu hören, abschließend wird Folk dargeboten. Die Musiker witzeln untereinander und mit dem Publikum, man hat nicht das Gefühl, einem na­tionalen Erweckungserlebnis beizuwohnen. Esoteriker, Spät- und Neohippies haben sich hier ­eingefunden, doch nach der Kleidung zu urteilen, sind auch einige Bankangestellte nach Feierabend geblieben.
Die Globalisierung ist an der Schamanenszene nicht spurlos vorübergegangen. Da die Magyaren »als letzte aus Asien gekommen« seien, habe sich mehr von der schamanistischen Tradition erhalten, sagt Öskü Fehérholló, einer der Musiker und ein Táltos, ein ungarischer Schamane. Doch die »Seelenheilung« erfolge überall auf der Welt auf ähnliche Weise. Als politische Bewegung sieht er den Schamanismus nicht.
Sólyomfi-Nagy Zoltán, ein auch außerhalb Ungarns in esoterischen Kreisen bekannter Táltos, versteht den Schmamanismus als »spirituelle Bewegung«. Es gehe auch um eine »Erneuerung alter Traditionen«, die er als Anhänger des Tengrismus, der einen ursprünglich gemeinsamen Glauben türkisch-mongolischer Stammesgesellschaften annimmt, mit Mittelasien verbunden sieht. Eine ethnische Ausgrenzung gebe es jedoch nicht, jeder könne diesen Lehren folgen.
Lászlo-Attila Hubbes und Rozáliá Klára Bakó stellten in einer vergleichenden Untersuchung rumänischer und ungarischer »ethno-heidnischer Organisationen« fest, dass ungarische Gruppen, »sofern sie wirklich mit dem Schamanismus verbunden« sind, sich »deutlich als religiös erklären« und »ethno-politischer Aktivismus sekundär« sei. So erscheine die Gruppe Sólyomfi-Nagy Zoltáns als »politisch eher neutral«.
Der Schamanismus kann in seinen stärker religiös geprägten Formen als Ausdruck einer eso­terischen Sinnsuche gelten, die sich seit dem Zusammenbruch des Realsozialismus großer Beliebtheit erfreut. Der Bezug auf die Tradition der Táltos und die angenommene Verbindung zum mittelasiatischen Schamanismus nimmt aber auch oft eine explizit politische Form an. Ein gewisses Aufsehen erregte das Ritual, das der sibi­rische Schamane Oiun Adigszi See Oglu im März vorigen Jahres um die im Parlament aufbewahrte »heilige Krone« tanzend aufführte.
Historisch betrachtet ist die Krone ein Symbol der christlichen Monarchie Ungarns. Sie kann aber auch als ein mit magischen Kräften versehenes Heiligtum eines mytholigisierten Magyarismus gedeutet werden, dessen religiöser Ursprung bei einem persischen Propheten zu suchen ist, der die Skythen beeinflusste. Als Beleg für diese These wird unter anderem ein etruskisches Wandgemälde herangezogen.

Der Eindruck, dass da einiges durcheinandergewürfelt wird, täuscht nicht. Jede Nationalmythologie bedient sich dubioser Quellen und gewagter Interpretationen, doch bemüht man sich andernorts um eine gewisse Stringenz und versucht, offenkundige Widersprüche zu vermeiden. Die ungarischen Rassentheologen sind da sorgloser.
So ist etwa die Frage, welche Verbindungen die Táltos-Kultur zum mittelasiatischen Schamanismus hat, auch Gegenstand einer ernstzunehmenden wissenschaftlichen Debatte. Eindeutige Erkenntnisse sind jedoch schwer zu gewinnen, denn tatsächlich hat der Schamanismus überall auf der Welt ähnliche Rituale und Glaubensinhalte hervorgebracht. Mit der Staatsbildung lässt er sich kaum verknüpfen. »Keine bekannte Gesellschaft war zu einem bestimmten Zeitpunkt rein schamanistisch«, schreibt László Kürti (»The Way of the Táltos«). So ist es sehr unwahrscheinlich, dass der magyarische Stammesverband, der im frühen Mittelalter Zentralasien verließ, einer ­allein schamanistischen Religion folgte. Zumindest stammesübergreifende Mythen und Rituale dürfte es gegeben haben, und wie letztlich alle nomadischen Eroberer erkannten auch die magyarischen Herrscher die Vorteile des Monotheismus, der eine straffere religiöse Bindung schafft und eine zentrale ideologische Kontrolle ermöglicht. Eigentlich müsste man sich also zwischen schamanistischer und christlich-monarchistischer Tradition entscheiden.
Die Suche nach ethnischen Vorfahren ist ohnehin ein politisch und wissenschaftlich äußerst fragwürdiges Unterfangen. Rassenkundler begnügen sich aber meist mit dem Bezug auf eine Sprachfamilie, die magyarischen Mythologen hingegen wollen nicht allein das altaische (türkisch-mongolische) Erbe in Anspruch nehmen. So ist in der Rassentheologie der Panturanismus vorherrschend, doch ist auch der Sumerianismus recht beliebt, der vor allem von dem Orientalisten Ferenc Badiny-Jós popularisiert wurde. Er erklärte Jesus zu einem parthischen Prinzen.

Damit kann praktischerweise die Verbindung zu einem von seiner jüdischen Herkunft »gereinigten« Christentum wieder geknüpft werden, und es ist nicht schwer zu erraten, wer dafür verantwortlich gemacht wird, dass die bahnbrechenden Erkenntnisse der ungarischen Rassentheologie so wenig Anerkennung finden. Jesus wird zu einem Propheten des Lichts erklärt, der in skythisch-hunnischer oder auch parthisch-persischer Tradition steht und somit eigentlich ein Ungar war.
Ersparen wir uns die Bezüge, die zum pharaonischen Ägypten, zur Maya-Zivilisation und zu Atlantis hergestellt werden, sowie die Teilnahme an der Suche nach dem magyarischen Gen. Es geht schließlich ums Prinzip. Die Ungarn sollen als Begründer der Zivilisation und Urheber aller bedeutenden Erfindungen wie der Schrift, aber auch als »Lichtbringer«, als Urväter jeglicher religiös-spirituellen Kultur gelten.
Rassentheologische Theorien dieser Art wurden bereits im 19. Jahrhundert propagiert, bezeichnend und wohl nicht unwichtig ist jedoch, dass der moderne Protochronismus – ursprünglich ein programmatischer Begriff, der frei übersetzt »Wir waren die Ersten!« bedeutet – auf Nikolai Ceauşescu, den stalinistischen Diktator Rumäniens, zurückgeht. Ceauşescu, der Gaddafi des Realsozialismus, wollte damals rechte Nationalisten integrieren und gab vor, eine einzigartige und überlegene Variante des Sozialismus zu vertreten. Sein globales Leitvolk waren selbstverständlich die Rumänen, als deren Vorfahren die Dakier ausgemacht wurden. Ceausescu entschied Mitte der siebziger Jahre, dass die Weltgeschichte umgeschrieben werden müsse. So legte er Wert darauf, dass die Rumänen mit dem Horea-Aufstand in Siebenbürgen im Jahr 1784 der Französischen Revolution zuvorgekommen seien.
In Ungarn ist der Protochronismus jedoch keine staatlich verordnete Wende in der Geschichtsauffassung. Diverse Politiker des Fidesz haben zwar ihre Sympathie für ethno-heidnische Ideen bekundet und Jobbik kann als parlamentarische Ver­tetung der Rassentheologie gelten, überdies werden panturanistische Veranstaltungen von der Regierung subventioniert. Dennoch ist der Protochronismus eher eine gesellschaftliche Bewegung als eine vom Establishment erdachte Ideologie zur Herrschaftssicherung.
Ihr Einfluss ist schwer abzuschätzen. Bemerkenswert ist, dass sich dem Zensus des Jahres 2011 zufolge nur noch knapp 53 Prozent der Bevölkerung zum Christentum bekennen, rund 21 Prozentpunkte weniger als zehn Jahre zuvor. Auf­geklärter aber ist die ungarische Gesellschaft in dieser Zeit nicht geworden. Etwas mehr als 27 Prozent machten keine Angaben zur Religionszu­gehörigkeit, knapp 15 Prozent gehören keiner Konfession an, wollen aber nicht den Atheisten zugerechnet werden.
Veranstaltungen mit rassentheologischem Bezug wie das Kurultaj-Festival und die Landesversammlung der Magyaren werden von 150 000 Menschen besucht, die von den Turanisten verbreitete, als eine Art Urschrift verstandene Runenschrift findet sich auf vielen Ortsschildern. Für die Verbreitung der Theorien wurde ein Institut für Ungarische Studien gegründet, das sich vornehmlich der rechten Nationalmythologie widmet, in die Populärkultur dringen rassentheologische Mythen durch diverse rechte Rockbands ein. Ein Smartphone-Spiel, bei dem man als Fee auf den Lebensbaum steigen kann, gehört dann wieder zu den harmlosen Ausdrucksformen. Dass die Verbreitung rechten Gedankenguts in Ungarn oft beiläufig daherkommt und in ihrer bunten Kostümierung von vielen gar nicht als solche wahrgenommen wird, macht sie jedoch eher noch gefährlicher.

Der realpolitische Nutzen der Rassentheologie dürfte für die ungarische Rechte gering sein. Von einer Ostorientierung der Außenpolitik ist zwar immer wieder die Rede, aber bereits 1992 hat der damalige türkische Ministerpräsident Süleyman Demirel die »Verantwortung akzeptiert, die türkische Welt zu repräsentieren«. Sonderlich erfolgreich war diese Politik nicht, und Ungarn hat zwar originellere folkloristische Einlagen, geschäftlich und machtpolitisch hingegen weniger zu bieten als die Türkei. Überdies umwirbt Ministerpräsident Viktor Orbán auch das eigentlich dem feindlichen Lager zugerechnete Russland und Saudi-Arabien, das der magyarischen Eingemeindung bislang entgangen ist.
Dass der ungarische Protochronismus die immer stärkere Ausgrenzung als nichtmagyarisch eingestufter Minderheiten legitimiert und fördert, ist offensichtlich. Die Rassentheologie ist, ebenso wie die Großungarn-Politik, Ausdruck eines ­nationalistischen Minderwertigkeitskomplexes, dessen Ursachen schwer zu ergründen sind. Die Atomisierung der Gesellschaft unter der stalinistischen Herrschaft förderte bei vielen Ungarinnen und Ungarn das Bedürfnis, einer gefühlten Gemeinschaft anzugehören, doch gibt es ein weiter als in anderen ehemals realsozialistischen Staaten verbreitetes Bedürfnis, etwas Besseres zu sein als der Rest der Welt. Der Protochronismus gedeiht in einem Milieu, das von der Vorstellung geprägt ist, Ungarn sei eine unterdrückte Nation, könne aber mit einer völkischen Seelenheilung Erlösung finden. Wohl niemand kann derzeit sagen, wo­rauf das hinausläuft. Doch man muss kein Schamane sein, um zu prophezeien, dass es kein gutes Ende nehmen wird.