Talmi

Brille 24

Nur in Deutschland trägt man gerne lustige Brillen. Während anderswo die Sehhilfe möglichst unsichtbar oder aber Teil eines elaborierten modischen Statements sein soll, möchte man sich hierzulande immer auch verkleiden. Schon Kindern setzt man quietschbunte, bizarr geformte Drahtverhaue auf die Nase, auf dass sie auf dem Schulhof möglichst gründlich verprügelt werden. Studenten und Kreativwichte »entdecken« auf Flohmärkten »superschräge« Gestelle aus vergangenen Jahrtausenden und juxen dann mit Vokabeln wie »Opa«, »Kassengestell« und »Nerd«. Und über die Zahnärzte, Autoverkäufer und Versicherungsmakler wollen wir lieber schweigen, dem Blutdruck zuliebe. Ein neuer Spot des Online-Händlers Brille 24 behauptet sogar, dass doofe Brillen sexy seien, und lässt in der ansonsten aseptischen Welt der Brillenwerbung plötzlich nackte Miezen auftreten. Nirgendwo sonst wird das medizinisch Notwendige mit so viel Aufwand in eine Travestie verwandelt; nirgendwo sonst glaubt man, dass man dem Schicksal der Fehlsichtigkeit mit Unernst und Heiterkeit begegnen müsse. Man braucht gar nicht lange darüber nachzudenken, warum. Stets war die Brille auf dem Kopf Symbol für Gehirn und Geist in seinem Innern, und stets war den Deutschen beides zutiefst suspekt. Wer eine Brille aufsetzt, ähnelt sich dem verhassten Intellektuellen an und muss diesem Anspruch aufs Geistige sogleich entsagen, will er nicht Strafe riskieren: Ich meine es gar nicht so, ich habe nur einen Witz gemacht. Im Grunde möchte man den Intellektuellen verhöhnen, ihn durch Nachäffen verächtlich und zum Clown machen. Gott sei Dank lassen sich alle bald lasern. Dann hat wenigstens dieser Spuk ein Ende, und ein neuer kann beginnen.

Leo Fischer ist Chefredakteur des Satiremagazins Titanic.