Aladár Horváth im Gespräch über die Lage der Roma 

»Das ist Segregation«

Die ungarische Bürgerrechtsbewegung der Roma entstand 1988 in Miskolc. Das sogenannte Anti-Ghetto-Komitee wehrte sich damals erfolgreich gegen die von den sozialistischen Machthabern geplante Errichtung eines Ghettos, in dem die Roma ohne Heizung und Abwasserleitungen in 20 Kilometern Entfernung von der Stadt hätten leben müssen. Auch Aladár Horváth beteiligte sich damals an den Protesten. Von 1990 bis 1994 saß er dann für den liberalen Bund Freier Demokraten als erster Roma-Abgeordneter Ungarns im Parlament. Von seinem Büro im 8. Budapester Bezirk aus leitet er mittlerweile die Roma-Bürgerrechtsbewegung.

Vor kurzem hat ein ungarisches Gericht die Neonazis, die in den Jahren 2008 und 2009 sechs Roma ermordeten, zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Ist der Fall nun erledigt?
Das ist eine sehr wichtige Frage. Die Mordserie war das größte Verbrechen in Ungarn seit dem Zweiten Weltkrieg. Schon 2010 analysierte das parlamentarische Komitee für nationale Sicherheit die Vorgänge und sprach von einer umfassenden Verantwortung des Geheimdienstes und der Polizei für das Geschehen.
In welcher Hinsicht?
Die Zusammenarbeit zwischen dem Inlandsgeheimdienst und der Polizei war miserabel, es gab keinen Informationsaustausch zwischen diesen Institutionen. Während der Ermittlungen waren für die Polizei und den Geheimdienst drei junge Roma, und nicht etwa Nazis, elf Monate lang die Hauptverdächtigen.
Das erinnert an die Ermittlungen im Fall des Nationalsozialistischen Untergrunds in Deutschland. Auch dort verdächtigte die Polizei lange Zeit nicht Nazis, sondern Türken der Morde an Türken.
Die Ähnlichkeit ist offensichtlich. Doch es gibt einen großen Unterschied: Die ungarische Regierung hat kein Bedauern über die Morde geäußert und sich auch nicht im Namen des Landes Ungarn entschuldigt. Entschädigungszahlungen an die Hinterbliebenen wurden erst vier oder fünf Jahre nach der Mordserie ausgezahlt.
Wie erklären Sie sich das Verhalten der Behörden und der Regierung im Fall der Mordserie?
All das konnte geschehen, weil viele Mitarbeiter in den Behörden und in der Regierung Rassisten sind.
Ist der Rassismus nur ein Problem der Regierungspartei?
Nein, Rechte und Linke sind sich in dieser Hinsicht sehr ähnlich. 2011 gab es eine Studie mit der Fragestellung: Denken Sie, Roma sind blutsmäßig verbrecherisch veranlagt? 61 Prozent der Wähler der Sozialisten sagten ja, 60 Prozent der Fidesz-Wähler ebenfalls. Das war im Jahr 2011. Die Mordserie ereignete sich 2008 und 2009.
Wie haben die ungarischen Medien den Prozess begleitet?
Gleichgültig. Die Zeitungen blieben stumm, nur ein paar Blogs waren sehr engagiert.
Gilt das auch für die Mehrheit der ungarischen Bevölkerung?
Auch sie ist gleichgültig geblieben. Das ist das größte Problem in Ungarn. Für die Menschen war es nichts, was sie betroffen hätte. Es war ein Zigeunerproblem für sie. Es gibt keine Solidarität in Ungarn. Die Menschen sind einfach frustriert.
Weshalb?
In den vergangenen 25 Jahren hat Ungarn fünf Krisen erlebt. Die Auswirkungen dieser Krisen haben sich gesellschaftlich summiert. Die Solidarität mit den Roma ist deshalb verschwunden.
Gibt es gar keine Bündnispartner in der ungarischen Gesellschaft?
Es gibt einige bürgerliche Organisationen, einige Facebook-Gruppen, mit denen wir zusammenarbeiten können. Aber die Szene sozial engagierter Aktivisten ist sehr schwach.
Was ist bedrohlicher für Roma in Ungarn, die dauerhafte Armut oder der grassierende Rassismus?
Es bestehen große soziale und wirtschaftliche Probleme wie etwa die Armut. Aber das politische Problem ist diese Frage: Unterstützt und verbreitet das politische Establishment die rassistische und faschistische Ideologie oder nicht? Man muss konstatieren, dass sowohl Rechte als auch Linke das tun. Die Roma gelten heutzutage nicht als Teil der ungarischen Gesellschaft, sie werden als Tiere und Parasiten betrachtet, die es zu beseitigen gilt.
Angesichts dessen wirkt es grotesk, dass Ungarn im europäischen Ausland vielfach für seine nationale Roma-Strategie gelobt wurde.
Hier ist Segregation Teil der Strategie, die insgesamt einfach heuchlerisch ist. Auf dem Papier ist die EU-Strategie akzeptabel. Das Ansinnen, die Roma in die europäischen Gesellschaften zu integrieren, ist in Ordnung. Aber die Europäische Union hat nicht die Macht, die Strategie in die Tat umzusetzen. Die Nationen und ihre Regierungen sind unabhängig, Ungarn ist ganz besonders unabhängig in dieser Hinsicht.
Der derzeitige Ministerpräsident hat nur eine einzige Verbindung zu den Roma: Florian Farkas, Mitglied des Fidesz und Präsident der Nationalen Selbstverwaltung der Roma. Bei den Roma heißt er einfach nur Kapo. Und ich denke, das ist die korrekte Terminologie. Er hat im Parlament für jedes unsoziale und gegen Roma gerichtete Gesetz gestimmt. Er hat das öffentliche Arbeitsprogramm befürwortet, das von Mussolini sein könnte und mit dem hauptsächlich Roma schikaniert werden. Gemeinsam mit dem Fidesz hat er alle unabhängigen Roma-Institutionen zugrunde­gerichtet.
Hier im achten Bezirk, wo auch Ihr Büro zu finden ist, befand sich eine dieser Institutionen, das Roma-Parlament, ein Zentrum für Selbstverwaltung, Selbsthilfe und Kultur. Wie steht es um den Ort?
Faktisch existiert das Parlament nicht mehr, es besteht nur noch aus zwei Leuten. Die Zeitung Amaro Drom ist am Ende, die Roma-Radiostation ebenfalls. Die Regierung hat die Unterstützung eingestellt.
Welche weiteren Folgen hat die ungarische Roma-Strategie?
100 ausgewählte junge Roma besuchen seit diesem Jahr dank der Hilfe des Fidesz religiöse Elitehochschulen, aus ihnen soll so etwas wie eine neue Roma-Elite werden. Ich habe mit diesen Studenten gesprochen. Einer hat mich gefragt: Warum haben alle Roma so viele Kinder? Ein anderer wollte wissen, warum die Roma nicht arbeiteten, sein Vater gehe doch auch zur Arbeit. Diese jungen Roma sprechen schon die Sprache von Fidesz und Jobbik. Sie werden zu neuen Kapos ausgebildet.
Sehen Sie in den Wahlen, die im nächsten Jahr stattfinden sollen, eine Möglichkeit, die Verhältnisse zugunsten der Roma zu verändern?
Es gibt Pläne, eine neue politische Partei der Roma zu gründen. In der Vergangenheit habe ich eine solche Ethnopolitik nicht unterstützt. Aber eine Neugründung ist dringend geboten. Keine Partei unterstützt die Roma. Um unsere Ziele zu erreichen und unsere Probleme anzugehen, brauchen wir eine Partei. Und sie soll keine Ethnopartei sein, sondern sich an alle Leute richten, die unter Armut und großem wirtschaftlichen Druck leiden, an die Unterschicht hier in Ungarn.
Es gibt aber auch einen großen Skandal, was die Wahlen betrifft: Es wird Listen für nationale Minderheiten geben, also eine Liste für Deutsche, eine für Roma, und so weiter. Roma müssen sich für die Wahlen registrieren lassen, um dann einen Roma-Delegierten ins Parlament wählen zu können. Wer eine Minderheitenliste wählt, darf aber keine Parteien mehr wählen, man erhält nur eine Liste, entweder die Parteienliste oder die Minderheitenliste. Das ist Segregation.
Gehört dies auch zur viel gerühmten Minderheitenpolitik der ungarischen Regierung?
Ja, das ist Bestandteil der Minderheitengesetze. Die Regierung kann dann darauf verweisen, dass Minderheiten im Parlament vertreten sind. Zugleich kann sie aber auch sicherstellen, dass die Roma mit ihren Stimmen nicht dazu beitragen, die Regierung abzuwählen. Denn wenn die meisten Roma sich für die Minderheitenwahl registrieren lassen, können sie nicht mehr die Parteikonkurrenz des Fidesz wählen. Und wer hat die Roma-Kandidaten für das Parlament vorgeschlagen? Florian Farkas und sonst niemand. Er selbst wird als Roma-Vertreter ins Parlament einziehen. Vielleicht wird er sich der Fidesz-Fraktion anschließen, wer weiß. Aber ich will hier keine Spekulationen betreiben.
Wie würden Sie angesichts all dessen die derzeitige Lage der Roma in Ungarn charakterisieren?
Die Situation erinnert an die zwanziger und dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, nur dass die derzeitige Krise länger dauert und tiefgreifender ist. Für Roma ist es wie eine Kombination aus dem System des Faschisten Horthy und des Stalinisten Rákosi. Das sind düstere Zeiten. Horthy, Rákosi – kommt als nächstes wieder ein Pfeilkreuzler wie Szálasi? Die Möglichkeit ist gegeben. Die Lage ist höchst gefährlich für die Roma. Sie haben kein Geld, keine Macht, keine Institutionen, keine politischen Organisationen und es steht niemand bereit, um sie zu verteidigen.
Die Lage der Roma in Rumänien und Bulgarien ist ebenfalls verheerend. Gibt es Versuche, sich international zu organisieren?
Es gibt keine wirklichen Verbindungen. Einige Intellektuelle unterhalten freundschaftliche Beziehungen. Aber eine starke internationale Organisation existiert nicht. Alle sind damit beschäftigt, ihre eigene Situation zu bewältigen. Es gab ein internationales Roma-, Sinti- und Traveller-Forum, es blieb jedoch sehr schwach und war politisch gesehen eine Nullnummer.