Die Volkskörperpolitik des Fidesz

Dein Körper gehört mir

Zentralisierung und Gleichschaltung kennzeichnen die Politik der ungarischen Regierung. Die Bevölkerung soll zum Volkskörper geformt werden. Aus diesem Grund hat die Regierung den Kampf gegen Schulschwänzer, die niedrige Geburtenrate und Übergewicht aufgenommen.

Als Männer der Tat scheinen sich Viktor Orbán und seine Getreuen beweisen zu wollen. Von Anfang an ließen sie keinen Zweifel daran, dass sich das Land auf einen neuen Regierungsstil einstellen kann. Hatte Orbán bereits im Wahlkampf versprochen, gründlich »aufzuräumen«, führte der Reformeifer seiner »Regierung der nationalen Kooperation« nach der Machtübernahme prompt auch zu einer Neustrukturierung des Kabinetts. Verschiedene Ministerien wurden zusammengelegt, um die politischen Kompetenzen zu bündeln und effektiver regieren zu können.

Das Resultat waren sogenannte Superministerien wie etwa das »Ministerium für Volkswirtschaft«, dem mit der Zusammenlegung der Arbeits-, Finanz- und Wirtschaftsressorts eine umfassende, ja volksgemeinschaftliche Steuerung der ungarischen Wirtschaft ermöglicht werden sollte (siehe Seite 20).
Als Pendant dazu kann das »Ministerium für Humanressourcen« angesehen werden, das zuständig ist für die Familien-, Gesundheits- und Bildungspolitik sowie Sport, Kultur und inzwischen auch die »ethnischen Angelegenheiten«. Der Name der Behörde ist Programm. Denn das Ministerium zeichnet sich bisher durch eine Volkskörperpolitik aus, die auf die zahlenmäßige, physische und emotionale Stärkung der nationalen Gemeinschaft abzielt.
Beide Ministerien praktizieren eine Art Gleichschaltungspolitik, die dazu führt, dass die Autonomie von Institutionen immer mehr durch zentralstaatliche Kontrolle ersetzt wird. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist die umstrittene Medienbehörde, die alle Medienbeiträge auf ihre »politische Ausgewogenheit« überprüft; ein anderes die Nationalbank, die der Staat trotz Kritik der EU unter Kontrolle gebracht hat und derzeit mit der Finanzaufsicht über die Privatbanken gleichschaltet. Außerdem wurden die staatlichen Theater und Museen in eine Zentralverwaltung überführt und sogar wichtige kommunale Aufgaben der zentralstaatlichen Hoheit unterstellt. Auch über das Erziehungs- und Bildungswesen legt sich der Schleier staatlicher Obrigkeit. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die Staatssekretärin für Bildung, Rósza Hoffmann, die unter anderem an der Errichtung eines »Systems für nationales Erziehungswesen« arbeitet.
Die damit einhergehenden Änderungen sind einschneidend – sowohl in struktureller als auch in konzeptioneller Hinsicht. So wurden die Autonomierechte der Hochschulen weitestgehend beschnitten und einer Zentralverwaltung untergeordnet, während die Fakultäten der Geisteswissenschaften ausgedünnt werden. Der Trend geht verstärkt zu technischen und naturwissenschaftlichen Studiengängen, die »nationalwirtschaftlich« sinnvoll sind. Dies geht einher mit verschärften Aufnahmekriterien, um »die Spreu vom Weizen zu trennen«, wie es Hoffmann ausdrückt, die indessen nicht mehr für die Hochschulen zuständig ist.
Analog dazu verlaufen die Veränderungen im Schulwesen, das weiterhin von Hoffmann betreut wird. Hier findet nicht nur eine Umstellung auf Ganztagsschulen statt, die Zeit der Schulpflicht wurde um zwei Jahre verkürzt, um junge Menschen schon früher dem Arbeitsmarkt zuzuführen. Zugleich werden die Fachschulausbildungen stärker an Unternehmen gebunden, um den Bedürfnissen der Arbeitgeber besser gerecht zu werden.
Da fügt es sich gut ins Bild ein, dass die Regierung die Befugnisse der Polizei erweitert hat. Beamte dürfen gegenüber Schulschwänzern nun auf körperliche Züchtigungen zurückgreifen. Neuerdings werden auch pensionierte Polizisten reaktiviert und an den Schulen eingesetzt, um für Ordnung zu sorgen.

Selbstredend blieben auch die Schulen nicht von der Zentralisierung verschont. So hat die Regierung Anfang des Jahres über 1 000 kommunale Schulen einer staatlichen Zentralverwaltung unterstellt. Diese wacht nun über einen neuen Rahmenlehrplan, der nicht nur Geschichtsrevisionismus vermittelt, sondern auch Literatur von Nationalsozialisten beinhaltet (siehe Dschungel-Seiten 6/7).
Neben täglichem Sportunterricht kommen noch »die Wiedereinführung von Fahnenappellen zu nationalen Anlässen (Trianon-Gedenktag), das verpflichtende Absingen einer ›Zusammenhalts‹-Hymne für die Ungarn ›im Karpatenbecken‹, staatlich finanzierte ›Wallfahrten‹ an ›heilige Orte des Ungarntums‹ (Széklerland) etc.« hinzu, wie die Online-Zeitung Pester Lloyd zusammenfasst. Um ihre Werte wirksam vermitteln zu können, scheint sich die Regierung der unbedingten Loyalität ihrer Lehrer versichern zu wollen. So sieht das neue »Karrieremodell« einen »ethischen Kodex« für Lehrer vor, wonach diese sich auf den nationalen Lehrplan verpflichten müssen. Tun sie es nicht, stehen ihnen Lohnanhebungen wie die zuletzt beschlossenen nicht zu. Außerdem müssen sie Mitglied einer neugegründeten staatlichen Einheitsgewerkschaft für Lehrer sein, die vom Ministerium für Humanressourcen kontrolliert wird – ein weiterer Baustein der Gleichschaltungspolitik.
Als sei es nicht schon genug, dass die einzelnen Institutionen den Geist einer Kaserne atmen, zeigen sich Ansätze, das ganze Land in ein Heerlager zu verwandeln. Dafür spricht etwa ein aufsehenerregender Verfassungszusatz, der Anfang des Jahres im Parlament verabschiedet wurde. Demnach dürfen Studierende, die während ihrer Studienzeit staatliche Förderung in Anspruch nehmen, nach ihrem Abschluss das Land nicht verlassen, solange sie nicht eine bestimmte Zeit im Inland gearbeitet haben. Auf diese Weise will die Regierung vermeiden, dass gut ausgebildete junge Ungarn im Ausland arbeiten und so aus dem Volkskörper desertieren.
Der Erfolg dieser Strategie scheint allerdings fraglich, denn seit Bekanntwerden der Pläne sind die Studierendenzahlen um mehrere Zehntausend zurückgegangen. Viele junge Ungarn nehmen offenbar gleich ein Studium im Ausland auf.

Generell ist es der Regierung ein großes Anliegen, den Volkskörper zusammenzuhalten. So nahm sie etwa 2012 Lohnerhöhungen im Gesundheitswesen vor, um der Abwanderung von Ärzten und Pflegepersonal entgegenzuwirken. Insbesondere aber versucht sie, Einfluss auf die Geburtenrate und die Volksgesundheit zu nehmen. Das ist zunächst nichts Ungewöhnliches, finden sich entsprechende Initiativen doch in allen Ländern, die mit einem Geburtenrückgang zu kämpfen haben. Im völkischen Kontext Ungarns nimmt dieser Aspekt von Bevölkerungspolitik jedoch besondere Züge an.
Immerhin ist die Zahl ungarischer Staatsbürger 2010 erstmals unter die Marke von zehn Millionen gefallen – ein Stich ins Herz eines jeden völkischen Ungarn, der den Verlust der einstigen Größe seiner Nation betrauert. »Kinder sollen wieder Mode werden«, verkündete daher die Regierung zu Beginn ihrer Amtszeit.
Zu diesem Zweck führte sie Steuererleichterungen für Familien ein, während sich die Idee eines Familienwahlrechts (Mütter können Stimmen gemäß ihrer Kinderanzahl abgeben) nicht durchsetzte. Auch ein Verbot von Abtreibungen war im Gespräch, allerdings hielt man die Gesellschaft für noch nicht »reif« – anders als etwa die konservativ gefestigten Polen – und begnügte sich mit Kampagnen gegen Abtreibung, in denen dafür geworben wurde, Kinder doch zumindest zur Adoption freizugeben. Aber auch unter Orbán wollen die Ungarn nicht so recht zeugen.
Und dann ernähren sich die Ungarn auch noch ganz besonders ungesund. Der OECD zufolge hatten sie 2010 das im Durchschnitt höchste Übergewicht im europäischen Vergleich. Außerdem werden die Ungarn von einer überdurchschnittlich hohen Quote an Verdauungstrakterkrankungen und Herzinfarkten geplagt, was zweifellos eine Folge der überaus deftigen und fettigen Esskultur ist.
Gegen den Fettkonsum möchte die Regierung nun vorgehen, sie hat eine »Volksgesundheitsabgabe« eingeführt, eine Steuer auf Lebensmittel, die als ungesund eingestuft wurden. Allerdings wird diese im Wesentlichen auf Knabberzeug erhoben und nicht auf die fettigen Gerichte, an die man sich aufgrund ihres traditionellen Charakters wohl nicht so recht herangetraut hat. Denn das wäre ja unmagyarisch.