Die Nahrungsmittelindustrie in Szeged

Dem Ungarn seine Salami

Salami und Paprika sind die bekanntesten Exportgüter Ungarns. Sie sind längst nicht so »original magyarisch«, wie es die Regierung gerne hätte. Ein Besuch in Szeged, Ungarns kulinarischem Zentrum.
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Ausgerechnet ein Jude soll die größte Schweineverarbeitung Ungarns erfunden haben. Zumindest wird im Salami-Museum der Stadt Szeged angegeben, Mark Pick, der 1883 die Serienproduktion der weltberühmten ungarischen Salami begann, sei »jiddischer Herkunft« gewesen, noch dazu stammte er aus Mähren. Das Anliegen der Regierung, die magyarische Reinheit der nationalen Warenproduktion zu erhöhen, leidet also schon beim renommiertesten Exportgut.

Nicht nur die Salami, auch die Paprika hat ihr wirtschaftliches Zentrum in Szeged, und nicht zuletzt kennt man in der Welt das Szegediner Gulasch, das übrigens mit Sauerkraut zubereitet wird. Die örtliche Paprika-Fischsuppe, Halászlé, ist zwar nicht ganz so bekannt, gilt aber als die lokale Spezialität. Szeged wirkt jedoch ganz und gar nicht wie ein Industriestandort. Das beschauliche, vom Jugendstil geprägte Städtchen liegt im Südosten des Landes am Fluss Theiß, nicht weit hinter dem Flüsschen befindet sich die Staatsgrenze zu Serbien und Rumänien. In Szeged scheint über 2 000 Stunden im Jahr die Sonne, man ist mit dem Zug in zweieinhalb Stunden von Budapest aus dort, im »IC Paprika« gibt es sogar freies W-Lan.
Szeged hat nur 170 000 Einwohner, und man kann es bequem in einer Stunde besichtigen, dabei ist es Ungarns drittgrößte Stadt. Auch eine Universität mit Studenten aus unterschiedlichen Ländern befindet sich hier, ein Dom, eine große, prachtvolle Synagoge (angeblich die viertgrößte aktive Synagoge der Welt), eine Sissi-Statue und eben das Salami- und Paprika-Museum, das eher ein Privatmuseum der Firma Pick ist, die am selben Ort ihren Sitz hat. Die Pick-Fabrik wurde 1869 gegründet. Aus Italien kannte Mark Pick die dortige Salami. Er erfand eine spezielle Würzmischung, schaffte ein paar italienische Arbeiter heran und begann, statt wie zuvor Eselfleisch, nunmehr Schweinefleisch für die Herstellung der Wurst zu verwenden. Die besonders fettreichen ungarischen Mangalica-Schweine waren dafür bestens geeignet. Das Mangalica-Schwein ist ein kleines, robustes Wollschwein, das mit seinem gekräuselten, oft weißen Fell ein bisschen aussieht wie ein Schaf in Schweinsform. Die Ferkel sind gestreift wie die von Wildschweinen. Das Fleisch ist dunkel und besonders delikat, und der dicke, auf der Zunge zergehende Speck sogar cholesterinfrei.
Allerdings verwendete die Firma Pick nur bis 1960 das Mangalica-Schwein für die Salami-Produktion. Es braucht dreimal solange wie ein normales Hausschwein, bis es schlachtreif ist, und gilt inzwischen sogar als »gefährdete Nutztierrasse«. Heute wird der Bestand aufwendig wieder hochgezüchtet, vor allem nachdem Anfang der neunziger Jahre in Spanien die besondere Güte des Magalica-Rohschinkens entdeckt wurde und die Nachfrage rasant stieg. Es gibt nach wie vor, beziehungsweise wieder vermehrt, gerade in Szeged vorzügliche Mangalica-Produkte zu kaufen, aber die in aller Welt bekannte Pick-Wintersalami, hat damit nichts mehr zu tun.
Genaugenommen kommen die Schweine für die Salamiproduktion zu einem Großteil gar nicht mehr aus Ungarn selbst. Die Tiere werden aus Rumänien, der Slowakei, Polen und anderen Ländern importiert. Umso mehr ist die nationalistische Regierung des Landes in Alarmstimmung. Die Nahrungsmittelproduktion sei ein »Problem der nationalen Sicherheit, genauso wichtig wie die militärische Frage«, äußerte sich József Ángyán, ehemaliger Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium, und forderte den Pick-Konzern auf, auf einheimische Rohstoffe zurückzugreifen. Dass dies nicht im gewünschten Maß getan wird, hat jedoch keine ideologischen Gründe. Der Konzern gehört längst, wie auch das zweite große Salami-Unternehmen Herz, das zuvor von Pick übernommen worden war, einem Vertrauten des Ministerpräsidenten Viktor Orbán: Sándor Csányi. Der erwarb den kriselnden Konzern zu einem Schnäppchenpreis und ist eine der einflussreichsten Persönlichkeiten Ungarns. Er ist Vorstandsvorsitzender der größten unga­rischen Bank, besitzt diverse riesige Unternehmen, darunter mit der Bonafarm-Gruppe ein wahres Lebensmittelimperium, zudem ist er auch noch Präsident des Ungarischen Fußballverbandes, kurzum: ein echter Oligarch.
Er konterte dem Staatssekretär, man habe keine andere Wahl, als Fleisch aus dem Ausland einzukaufen, weil der Bestand an Schlachtschweinen in Ungarn viel zu gering sei, auch die Qualität der ungarischen Schweine sei mangelhaft. Auf dem einheimischen Markt seien jährlich nur rund 20 000 bis 25 000 geeignete Schlachttiere verfügbar, erklärte der Lebensmittelmagnat, Pick brauche jedoch allein für die Salami 50 000.

Völkische Wunschvorstellung und ökonomische Realität lassen sich in Sachen Paprika nicht vereinbaren. »Made in Hungary« bedeutet mitunter nur, dass zum Beispiel türkische Paprika in Ungarn verarbeitet oder auch nur verpackt wurde. Das Ziel, original magyarische Waren für original Magyaren anzubieten, versucht das Agrarministerium mit diversen Mitteln umzusetzen, unter anderem mit der Einführung eines Labels, das ausweist, ob ein Produkt zu 100, zu mehr als 50 oder zu weniger als 50 Prozent in Ungarn hergestellt wurde. Firmen, die ihre Produkte fälschlicherweise als echt ungarisch ausweisen, drohen Strafen. Zudem führt die Regierung eine Kampagne gegen ausländisches »Drecksessen« (Orbán) und zum Schutz nationaler Produkte, dem sich insbesondere Ángyáns Nachfolger, Gyula Budai, als Staatssekretär nun auch zuständig für »Nationales Wohlergehen«, angenommen hat.
Ob das der in der Krise steckenden Lebensmittelindustrie langfristig helfen wird, darf jedoch bezweifelt werden. Seit Jahren schon greift die Regierung der Branche regelmäßig mit Subventionen in Millionenhöhe unter die Arme. Zwar geht es bei der Fleisch- und Geflügelverarbeitung seit zwei Jahren mit dem Absatz langsam wieder aufwärts, und auch am schwächelnden Inlandsmarkt, auf dem zwei Drittel der Produkte gehandelt werden, konnte wieder mehr abgesetzt werden. Trotzdem machen auch große Konzerne Verluste, ausländisches Kapital wird abgezogen und die Zahl der Insolvenzen ist hoch.
In Szeged ist davon beim Stadtbummel natürlich nichts zu bemerken. Auch der morbide Charme, den die Häuser in vielen Budapester Vierteln ausstrahlen, fehlt hier. 1879 wurden bei einer drei Monate währenden Hochwasserkatastrophe 95 Prozent der damals 70 000 Einwohner zählenden Stadt zerstört. Mit Spenden aus Ungarn und dem Ausland wurde sie wieder vollständig neu aufgebaut, so dass sie insgesamt wesentlich moderner als viele andere Städte Ungarns ist. Die große Königsburg aus dem Mittelalter wurde geschleift und als Steinbruch für die Bauarbeiten benutzt. Da die Szegediner nach dem Hochwasser überzeugt waren, den Himmel gnädig stimmen zu müssen, damit sich solch ein Desaster nicht wiederhole, wurde auch der Bau eines großen Doms beschlossen. 1913 begannen die Arbeiten, 1930 war das imposante Bauwerk fertig. Es ist eine der wenigen im 20. Jahrhundert errichteten Kathedralen dieser Größenordnung. 5 000 Menschen haben in der Basilika der Votiv-Kirche Platz. Und tatsächlich: Beim großen Hochwasser im Juni diesen Jahres wurde Szeged verschont, obwohl auch die Theiß über die Ufer trat. Aber das kann natürlich auch an dem zehn Kilometer langen Betondamm liegen, der die Stadt heute vom Fluss trennt.