Die EU und Ungarn

Die Norm in Europa

Die Regierungen und Institutionen der EU tolerieren den Abbau der Bürgerrechte in Ungarn. Handelt es sich um schlichte Ignoranz oder steht eine Absicht dahinter?

Es vergeht kaum eine Woche, in der die Regierung Viktor Orbáns nicht eine dubiose Maßnahme zur Sicherung ihrer Herrschaft beschließt. In der vergangenen Woche war es die parlamentarische Genehmigung der Erhebung von Steuern für »Zahlungsverpflichtungen außerhalb des Budgets«. Dass der Fidesz sich damit ungeachtet der gesicherten Mehrheit die Schaffung von Geheimfonds legalisieren ließ, die keiner parla­mentarischen und öffentlichen Kontrolle unterliegen, ist noch eine vergleichsweise harmlose Neuerung. Schritt für Schritt wird das Wahlrecht so gestaltet, dass die Opposition kaum noch eine Chance hat. Mit der Einführung eigener Listen für Minderheiten jenseits des Parteien­systems hält zudem die Apartheid Einzug in das Wahlrecht.
Die Grundstruktur der parlamentarischen Demokratie wird gerade noch so gewahrt, doch will sich die völkische Rechte ein Machtmonopol sichern. Ungarn nähert sich russischen Verhältnissen. Über juristische Details kann man streiten, doch sind die Verstöße gegen die offiziellen Normen der EU so offensichtlich, dass selbst die stumpfsinnigsten Bürokraten und Politiker sie nicht übersehen können.
Die Solidarität unter den Mitgliedsorganisationen der Europäischen Volkspartei, zu denen die CDU ebenso wie der Fidesz gehört, erkärt diese Duldsamkeit nicht. Wer dem konservativen griechischen Ministerpräsidenten Antonis Samaras akribisch vorrechnet, dass er nicht genug Staatsangestellte entlassen hat, müsste auch die Zeit finden, Orbán auf die Finger zu schauen. Daher hat der ungarische Innenminister Sándor Pintér vielleicht recht, der vorige Woche prophezeite, dass die »Beschäftigungsprogramme« – Zwangsarbeit für Sozialhilfeempfänger mit verschärften Bedingungen für Roma – »bald die Norm in ganz Europa« sein werden. Das gesamte Konzept der autoritär-völkischen Neuordnung wird zwar sicherlich nicht zu einem Modell für alle Staaten der EU. Es scheint aber als eine akzeptable Herrschaftsform zu gelten, und einzelne Maßnahmen wie die Zwangsarbeit zur Disziplinierung der Armen könnten zur europäischen Norm werden.
Auf den ersten Blick scheint der offene Rassismus der ungarischen Rechten den Erfordernissen der kapitalistischen Globalisierung zu widersprechen. Doch es fügt sich trefflich, dass ökonomisch relevante Ausländer wie die Asiaten nach den Kriterien der magyarischen Nationalmythologie den »Brudervölkern« zugerechnet werden. Man schikaniert jene, die als nutzlose und gefährliche Arme eingestuft werden, und Obdachlose und Roma gehören auch in anderen EU-Staaten zu den marginalisiertesten Gruppen.
Es fügt sich zudem trefflich für die völkische Rechte Ungarns, dass der Trend derzeit in Richtung »Europa der Vaterländer« geht. Angebliche nationale Unterschiede werden wieder stärker betont, und von der Schaffung annähernd gleicher materieller Lebensbedingungen ist längst keine Rede mehr. Es gilt als akzeptabel, dass die Gesundheitsversorgung in Griechenland zusammenbricht. Könnten da nicht auch einige europäische Länder mit ein bisschen weniger Demokratie und Menschenrechten auskommen?
Nicht nur Fidesz-Politikern gilt die Demokratie als lästige, eine effektive Regierungsarbeit behindernde Angelegenheit. Zahlreiche deutsche Politiker und Ökonomen haben in jüngerer Vergangenheit ihre Abneigung gegen die griechische Unsitte zum Ausdruck gebracht, über deutsche Sparvorgaben im Parlament abzustimmen. Theoretisch ist die parlamentarische Demokratie die dem entwickelten Kapitalismus angemessene Herrschaftsform, da sie einen Interessenausgleich ermöglicht und die Produktivität erhöht. Angesichts einer als bedrohlich empfundenen Linken können sich die Prioritäten bekanntlich ändern. Von einer Gefahr für die kapitalistischen Verhältnisse aber kann derzeit auch in den südeuropäischen Staaten nicht die Rede sein.
Eine dringende Notwendigkeit, autoritäre Herrschaftsformen zu erproben, gibt es also nicht. Umso beunruhigender ist die Duldung der völkischen Neuordnung Ungarns. Orbáns Stärke ist, dass er seine Politik nicht einer widerständigen Bevölkerung aufzwingen muss, sondern von ­einer völkischen Stimmung getragen, oft sogar getrieben wird. Wenn sich ein Interessenausgleich und eine Erhöhung der Produktivität ohne Behinderung der effektiven Regierungsarbeit bewerkstelligen lassen, könnte das ein interessantes Modell auch für andere Staaten sein. Wenn Orbán scheitert, ist der ökonomische und politische Schaden für die EU überschaubar.