György Dalos im Gespräch über Literatur, Politik und sich selbst

»Diese Demokratie ist die Demokratie der Armut«

György Dalos wurde am 23. September 1943 als Kind jüdischer Eltern in Ungarn unter der Herrschaft von Miklós Horthy geboren. Als Literat und Intellektueller war er Teil der ungarischen Oppositionsbewegung der sechziger, siebziger und achtziger Jahre und wurde mit Publikationsverbot belegt. Er schrieb zahlreiche Romane und historische Abhandlungen, zuletzt erschien »Der Fall des Ökonomen«. Neben anderen Auszeichnungen erhielt er 2010 den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung. Er lebt als freier Autor in Berlin.

Zuallererst herzlichen Glückwunsch zu Ihrem 70. Geburtstag. In Deutschland gab es aus diesem Anlass viele Artikel und Beiträge, die sich Ihrem literarischen Werk und Ihrer Person gewidmet haben. War es in Ungarn ähnlich?
In Ungarn ist das weniger gewesen und eher beschränkt auf literarische Kreise. Mit der Regierung bin ich ja nicht besonders befreundet und deshalb vergisst sie auch die Geburtstage.
Gab es früher mehr Gratulationen?
Bis zu meinem Fünfzigsten konnte davon keine Rede sein, weil ich in der Opposition war. Mit 60 war es ein bisschen mehr. Diese Windstille ist relativ neu.
Welche Rolle spielt Ihre Biographie in Ihren Romanen?
Als Schriftsteller beobachtet man auch das eigene Leben, wobei nur eines meiner Bücher nahezu autobiographisch ist. Alle anderen sind eher kollektive Biographie meiner Generation. Und es gibt einen gewaltigen Fundus, auf den ich blicke: Formal gesehen bin ich im Königreich Ungarn geboren, dann lebte ich in einer kurzlebigen Demokratie bis 1948, dann in der Volksrepublik, dann wieder in der ungarischen Demokratie – also der Republik – und jetzt in einem Land, das sich offiziell nicht mehr Republik nennt, sondern schlicht Ungarn, obwohl das Wort Republik versteckt in einem Nebensatz der Verfassung noch vorkommt. Diese Vielfalt von Staatsformen, an ihr freut sich ein Schriftsteller, er hat immer Themen.
Gibt es mit 70 Jahren etwas, was Sie bisher bewusst oder unbewusst völlig ausgeklammert haben?
Nein.
Welche Ereignisse in Ihrem Leben waren besonders einprägsam?
Es sind diese enormen Veränderungen in Ungarn. Und ich bin ja noch aus der Kriegsgeneration. Auch wenn ich das alles nur als Säugling erlebt habe.
Ihr Vater war Zwangsarbeiter.
Als Jude war er Zwangsarbeiter bei der ungarischen Armee. Aber auch Linke und sogar Royalisten, die mit dem Horthy-Regime nicht einverstanden waren, mussten sogenannten Arbeitsdienst leisten, unbewaffnet. Mein Vater war zu seinem großen Glück nicht in der Ukraine auf den Minenfeldern, sondern in Ungarn selbst. Trotzdem wurde er lungenkrank und ist 1945 gestorben, anderthalb Jahre nach meiner Geburt.
Sie haben keine Erinnerungen an Ihren Vater?
Nein. Zu meinen ersten Erinnerungen gehört die Zeit in mehreren jüdischen Kinderheimen. Nach dem Holocaust gab es in Ungarn noch 200 000 Juden, die meisten am Leben gebliebenen Juden in einem von der deutschen Wehrmacht besetzten Land. Dementsprechend gab es jüdisches Leben in Budapest, unter anderem in diesen Kinderheimen.
Ihr Vater litt unter dem Horthy-Regime. Wie geht es Ihnen mit dem derzeitigen Revival dieser Epoche, etwa in Gestalt der vielen neuen Denkmäler?
Die Horthy-Zeit war äußerst spezifisch: geprägt vom Zerfall der Monarchie, der Niederlage im Ersten Weltkrieg und dem daraus resultierenden territorialen Verlust, der im ungarischen Nationalbewusstsein bis heute lebendig ist. Und natürlich ging es um Schicksale, auch in Bezug auf meine Familie, von der ein Zweig aus der Nordslowakei und einer aus Rumänien stammte.
Aber diesem Denken jetzt eine Art Renaissance bereiten zu wollen, das ist nicht nur dumm, das ist auch gefährlich. Es verstärkt in den Ungarn die negativsten Züge, im Sinne einer totalen Rückbesinnung auf die eigene heroische, respektive tragische Vergangenheit. Zudem ist es lächerlich, heute Horthy-Denkmäler aufzustellen. Es gibt ja auch keine neuen Denkmäler für die Kommunisten. Warum stellt man Denkmäler überhaupt auf? Diese ganze historische Beerdigungskultur riecht nach Mittelalter, riecht nach Krypten, nach Familiengruft. Das und anderes ist Quatsch. Wollen Sie eine Anekdote hören?
Nur zu.
Eine auch sonntags geöffnete Filiale der Tesco-Discounter-Gruppe steht auf kirchlichem Grund und nun wurde ihr verboten, dort sonntags Verhütungsmittel zu verkaufen. Das ist keine Politik mehr, sondern totale Verdummung. Hätten wir den schönen Kapitalismus, würde der Staat nicht überall seine Nase reinstecken. Aber die ist überall. Dieser Staat ist ein Gespenst samt des ganzen quasireligiösen und scheinnationalen Pomp, doch zugleich nichts weiter als ein Machtkonglomerat ausgestattet mit Kapital.
Woran arbeiten Sie momentan?
Ich schreibe eine Geschichte der Russlanddeutschen. Sie ist als ganze noch nicht geschrieben und ich bin so mutig, die Geschichte von Katharina der Großen bis zu Putin und Merkel aufzuarbeiten.
In Ungarn sind »liberal« und »intellektuell« Schimpfwörter, die zudem antisemitisch verwendet werden.
In Ungarn ist der Antisemitismus eine Wunderwaffe, die immer verwendet wird, wenn jemand stört. Das ist anders als der Hass auf Roma, denn der bezieht sich auf eine Minderheit, die wegen ihres sozialen Elends ziemlich sichtbar ist. Die Juden sind »Gespenster«, weil es in Ungarn kaum noch konfessionelle Juden gibt. Das Judentum, das den Holocaust überlebte, ist nicht mehr einheitlich und eindeutig. Die Antisemiten wählen ihre Juden nun aus. Während der Frankfurter Buchmesse 1999 gefiel der rechten Regierung der ungarische Literaturkanon nicht. Rechtsextreme Blätter bezeichneten etwa Péter Esterházy als Juden – er nahm es mit einer gewissen Freude auf.
Diesen Länderschwerpunkt haben Sie damals selbst kuratiert. Wie war es für Sie, als diese abschätzigen Ansichten zutage traten?
Ich wusste, in welchem Land ich lebe. So war ich nicht überrascht über den nicht besonders guten Willen der damaligen Regierung Orbán. Dass ich nicht abkömmlich war, sahen aber die damals noch Nüchternen in der Regierung ein. Auch wenn sie diesen liberalen Literaturkanon nicht mochten, hatten sie zumindest die Weisheit, den Erfolg zu genießen. Heute ist das anders.
Die derzeitige Regierung greift in erheblichem Maß in die Arbeit kultureller Institutionen ein. Was geht da vor sich?
Eine Regierung ist legitimiert, ihre kulturpolitischen Vorstellungen umzusetzen. Aber das, was in Ungarn seit 2010 in der Kultur passiert, dient nicht der Kultur, sondern dient allein der Machtstellung der Regierung und ihrer Klientel. Es hat nichts mit Kultur gemein, auch nicht mit offizieller. Zum Beispiel das Nationaltheater, ganz unabhängig von der Direktorenbesetzung: Wenn es ausschließlich nationalen Idealen dienen soll, ist das eine Idee des 19. Jahrhunderts, die nicht klappen wird. Wenn doch, wird es kein Theater mehr sein. Auch die Kommunisten haben sich von ihrem sowjetischen Modell der Kultur gelöst, weil es nicht funktionierte. Ich hoffte immer, dass so etwas nicht ein weiteres Mal kommt. Nun besteht es als nationales Modell. Die Kunst ist aber nicht Ideologie.
Verstehen Sie sich immer noch als Oppositioneller?
Opposition, das ist kein Wert für sich. Es gab Zeiten, in denen mir Regierungsparteien näher waren, etwa meine ehemalige Partei der Freien Demokraten, SZDSZ, und die Sozialisten, MSZP. Aber auch mit ihnen war ich nicht zufrieden und habe das artikuliert. Es ist bisher keine moderne politische Klasse entstanden. Zurzeit ist es zwar eher eine Klasse, aber inhaltlich ein Mischmasch aus dem rohen Kapitalismus und mittelalterlichen Versatzstücken. Das ist nicht meine Welt.
Schmerzt es Sie, wenn man Sie gegenwärtig viel nach Politik fragt und nicht nach Literatur?
Ich teile eher den Schmerz der verarmten Schichten der ungarischen Bevölkerung. Ich hatte eine von Armut geprägte Kindheit – aber natürlich war es nicht diese tiefe Armut, die heute in Ungarn herrscht. Es ist paradox, dass diese Demokratie die Demokratie der Armut ist und schon seit 1990 immer war, immer! Selbst zu Zeiten, die als prosperierend galten.