Die Geschichte der ungarischen Rockmusik

Durch die Paprikapresse

Die ungarische Rockmusik erlebte ihre Blütezeit in den siebziger Jahren – von wegen. Eine kleine Reise durch die Musikgeschichte eines Landes, dessen politische Verhältnisse ästhetisch einzigartige Folgen hatte.

Kritiker und Sammler sind sich einig: Von wahrer Qualität kann bei osteuropäischer Rockmusik erst seit den siebziger Jahren gesprochen werden. Wobei Qualität für diese Experten gleichbedeutend ist mit überladener Produktion, musikalischer Versiertheit und einer klar erkennbaren Ambition, Anschluss an den westlichen Mainstream zu finden.
Die Geschichte der Popmusik zeigt allerdings, dass Herausragendes am besten im Verborgenen gedeiht. Und so war vielleicht auch die unfreiwillige Abschottung dafür verantwortlich, dass osteuropäische Musiker in den sechziger Jahren überraschend einzigartige Werke hervorbrachten. Informationen gab es kaum, Platten noch weniger – Bands orientierten sich an den wenigen erhältlichen Veröffentlichungen westlicher Künstler und waren staatlichen Eingriffen ausgesetzt. So auch die damalige Dreifaltigkeit der ungarischen Rockszene: Illés, Metro und Omega. Sie ließen sich von der aufkommenden Beatmusik inspirieren und nahmen ungarische Versionen der Songs ihrer Vorbilder The Shadows auf, einer britischen Band, deren instrumentaler Rock ’n ’Roll auch in Ungarn erhältlich war. Der Staat zögerte nicht lange und schickte den Künstlern Schlagersänger ins Studio. Experiment, Unkenntnis und Bevormundung – aus diesen Zutaten entstand eine originär ungarische Pop- und Rockmusik, die bis heute Bestand hat.
Die ersten ungarischen Gehversuche in Sachen Rock ’n ’Roll waren herrlich unbefangen und voller Witz. Janós Breitner, Lehel Németh und Janós Koos waren Schlagersänger, die mit »Paprika Twist« zwar munter drauflos twisteten. Ihre Musik war dennoch eher dem Schlager zuzuordnen. Richtigen Rock lieferte erst Bergendy Együttes, die Bergendy-Gruppe, obwohl sich die Brüder István und Péter Bergendy mit weiteren Studenten der damaligen Karl-Marx-Universität zunächst als Jazzband zusammenfanden. Ihre erste EP erschien 1964 auf Qualiton, dem staatlichen Label, auf dem in den sechziger Jahren alles veröffentlicht wurde, was aus Ungarn kam. Auf der Platte singt die damals gerade 17jährige Sarolta Zalatnay den Song »There’s Part When Goin’ On«, eine radebrechende, aber rockende Version von Wanda Jacksons Rockabilly-Klassiker »There’s a Party Going On« aus dem Jahr 1960. Zalatnay ahmt die Reibeisenstimme von Jackson exzellent nach, wenn auch offensichtlich ohne Englischkenntnisse und ohne den Inhalt des Originaltextes auch nur annähernd zu erfassen. Die übrigen Songs entstammen verschiedenen Stilrichtungen: »Megszogktad Mar« erinnert an Phil Spectors Girlgroup-Sound, »Sweet William« an die englische Ska-Sängerin Millie und die Ballade »Zuhogj Esö« an den Orgel-Sound von The Zombies. Diese Zusammenstellung ließ bereits den ungarischen Sound der sechziger Jahre erkennen, der sich vor allem dadurch auszeichnete, dass er sich auf keinen Sound festlegen ließ. Eine Tatsache, die in gewisser Weise den politischen Umständen geschuldet war: Weil nur wenige ungarische Bands die Erlaubnis erhielten, Platten zu veröffentlichen, mussten diese wenigen alle Stilrichtungen bedienen, die in den Sechzigern international geboten wurden.
Auf der ersten EP von Metro sind neben Coverversionen von Manfred Manns »Do Wah Diddy« und Roy Orbisons »Pretty Woman« auch Instrumentalstücke im Stil von The Shadows zu finden. Besonders die 1965 aufgenommenen Songs »Kosmos« und »Nincs Kegyelem« (»Ohne Entschuldigung«) bestechen durch ihren eigenwilligen, an die schwedischen The Spotnicks erinnernden kosmischen Gitarren-Sound. Als ihre erste LP vier Jahre später erschien, war die Band bereits dem internationalen Trend aus Progressive Rock und Psychedelia verfallen. Zusammen mit den Debütalben von Omega und Illés führten sie die ungarische Rockmusik zu einer Blütezeit, wenn auch einer sehr kurzen. Krautrock war damals noch nicht ausgereift, bundesdeutsche Rockproduktionen konnten mit der Qualität der psychedelischen, progressiven ungarischen Rockmusik der Jahre 1968 und 1969 nicht mithalten.
Glücklicherweise setzte der ungarische Beatfilm »Ezek a fiatlok« allen drei Bands 1967 ein Denkmal. Metro, Omega und Illés sind darin live zu sehen, der Höhepunkt und Hit des gleichnamigen Soundtracks ist der Song »Mister Alkohol«: Zsuzsa Koncz singt und wird begleitet von Illés. Ein solcher Film konnte nur zustande kommen, weil ungarische Beatfans, ähnlich wie jugoslawische und tschechoslowakische, Mitte bis Ende der sechziger Jahre ein kleines Stück mehr Freiheit genossen als ihre Genossen in der DDR, denen Beat seit 1966 verboten war. Hungária, eine weitere einflussreiche Rockband der sechziger Jahre, nahm ihr erstes Album, »Hungária a Marson« (»Hungária auf dem Mars«), erst 1970 auf. Als wären sie sich ihres Charakters als Nachzügler bewusst gewesen, begleitet ihre Glam-Garage-Prog-Psych-Songs etwas augenzwinkernd Nostalgisches.
Metro, Omega und Illés schufen mit ihren Alben wichtige Beiträge zur Rockgeschichte. Dabei sind die Songs ihres Frühwerks, insbesondere die vielen ausschließlich als Single erschienenen Tagesschlager, noch facettenreicher. Ob Schlager, Beat oder Soul – alles, was die Pop­schmieden des Westens fabrizierten, wurde schonungslos durch die Paprikapresse gezogen. Trotz oder gerade aufgrund dieses unermüdlichen Allzweckmusizierens entstanden einige großartige, progressive Rockplatten, zu denen auch die 1971 erschienene LP »Kis Virág« zählt, eine Zusammenarbeit von Zsuzsa Koncz und Illés.
Zu Beginn der Siebziger hatte ungarische Rockmusik den Höhepunkt ihrer internationalen Wertschätzung erreicht. Metro, Omega und Illés veröffentlichten Platten mit deutschsprachigen Versionen ihrer Hits in der DDR, Aufnahmen von Omega und Zsuzsa Koncz erschienen sogar in der BRD.
Doch die kurze Zeit der relativen Freiheit hatte bald ein Ende. 1972 wurden Illés wegen kritischer Äußerungen während eines Interviews in London mit einem Auftritts- und Veröffentlichungsverbot belegt. 1973 löste sich die Band schließlich auf, der politische Druck war zu stark geworden. Metro nahmen 1969 ihre erste und einzige LP auf und trennten sich 1972. Auch musikalisch hatte sich der Wind gedreht. Die siebziger Jahre brachten zwar eine bislang unerreichte Professionalität mit sich. Mit ihr schlich sich aber auch eine gleichförmige Seichtheit in die ungarische Rockmusik, ein von der vor allem die unzähligen Platten der populären Band Neoton Família zeugen. Omega verschärften schließlich ihren Sound und wurden die erfolgreichste Bombastrockband des Ostblocks. Trotz des überragenden Erfolgs ungarischer Bands war die innovative Zeit Anfang der siebziger Jahre endgültig vorbei, ungarische Pop- und Rockbands unterschieden sich zumeist nicht mehr vom Sound internationaler Bands. Originär ungarische Rockmusik entstand erst wieder Anfang der achtziger Jahre, als sich, wiederum im Verborgenen, Punk in Ungarn entwickelte.
Was aus den Bands geworden ist? Hungária erfanden sich im Zuge des Rockabilly-Revivals Ende der Siebziger als Oldies-Gruppe neu und lösten sich schließlich 1989 auf. Bergendy, die in den frühen Siebzigern zur Speerspitze des ungarischen Hardrocks wurden, überlebten in wechselnden Formationen und machen mittlerweile Jazz und Tanzmusik. Omega sind als dienstälteste ungarische Rockband ebenfalls noch aktiv und Sarolta Zalatnay wurde zu einer der bekanntesten Schlagersängerinnen Ungarns. In den neunziger Jahren heiratete sie einen Pornofilm-Regisseur, zog sich für den Playboy aus und musste wegen Steuerbetrugs zwei Jahre ins Gefängnis. Zsuzsa Koncz tritt immer noch regelmäßig in Budapest auf.