Ein LGBT-Ausflug nach Debrecen

Eher verquer als queer

Die ostungarische Stadt Debrecen gilt als Hochburg der Regierungspartei Fidesz. Eine LBGT-Community soll es dort auch geben. Doch diese ist hinter all den nationalistischen Denkmälern kaum auszumachen.

»Debrecen.« – »Debrecen!?« In der Budapester LGBT-Öffentlichkeit reicht lediglich die Nennung des Namens der zweitgrößten Stadt Ungarns, um für Verstörung zu sorgen. Wer in Debrecen nach einem mit dem in der Metropole vergleichbaren Aktivismus im LGBT-Bereich mitsamt einer jährlichen Pride-Parade Ausschau hält, wird in der Tat bitter enttäuscht werden. Auf den ersten Blick scheint die nahe der rumänischen Grenze gelegene Stadt sich nicht von anderen Provinz­orten in der ungarischen Puszta zu unterscheiden. Bereits am Bahnhof lassen sich indes einige In­dizien dafür finden, dass dort die Uhren immer schon anders gingen. Unweit der Einganghalle des Bahnhofsareals finden selbst unbedarfte Besucherinnen und Besucher zahlreiche mit Spruchbändern in den Farben der ungarischen Fahne umwickelte Lorbeerkranzimitationen vor, die sich an den dafür vorgesehenen Aufhängevorrichtungen vor den in Stein gemeißelten Galionsfiguren des »neuen Ungarn« befinden. Dazu zählen nicht nur Lokalmatadore wie der in Debrecen zum Hauptmann des ungarischen Kampfbataillons ernannte Dichter Sándor Petőfi, der wegen seiner Verdienste in dem als »Freiheitskampf« bezeichneten antihabsburgischen Aufstand von 1848 verehrt wird; auch eine lokale Größe namens József Nagy-Sándor ist dort zu finden, der ebenfalls weniger aufgrund von lyrischen als vielmehr aufgrund seiner nationalen Verdienste derzeit besonders gewürdigt wird.

Die an zahlreichen Debrecener Häuserwänden angebrachten Lorbeerkränze dienen nicht nur als Ausdruck einer eigenständigen Gedenkkultur, sondern beinhalten oftmals auch die Eckdaten fik­tiver historischer Genealogien. Unter Rückgriff auf die Zahlen 1848, 1956 und 1998 wird die Geschichte einer Nation derzeit neu erfunden. Die Jahreszahlen verweisen auf historische Ereignisse, die als Vorboten der von Ministerpräsident Viktor Orbán propagierten »nationalen Revolution« gelten sollen. Das Jahr 1848 wird in der hegemonialen Geschichtsschreibung Ungarns zum Initationsmoment für die »Befreiung« vom Joch der Doppelmonarchie erklärt. Der antistalinistische Aufstand des Jahres 1956, der mit dem Tod von 2 500 Menschen endete, wird im Jargon der herrschenden politischen Klasse fälschlicherweise als »natio­nale Insurrektion« verbucht. Und das Jahr 1998, das nicht durch Zufall an die Stelle der tatsächlichen Zäsur von 1989 tritt, wird zum Moment des Bruchs mit jenem »kommunistischen Terror« stilisiert, der Orbán zufolge noch unter der demokratisch gewählten Regierung aus den Reihen der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP) andauerte. Vermittels der im öffentlichen Raum angebrachten Bänder in den Nationalfarben findet nicht nur eine Zusammenfügung des Inkommensurablen statt, ebenso wird auf diesem Weg ein Bild der Geschichte Ungarns hergestellt, das durch die Aneinanderreihung ganz unterschiedlich motivierter historischer Ereignisse entsteht.
Nicht nur auf das provinzielle Ressentiment gegen das Urban-Weltoffene ist es zurückzuführen, dass Debrecen, die heimliche Hauptstadt Ost-Ungarns, sich vom Geschehen in der Metropole so nachhaltig distinguiert. Zurückzuführen ist dies ebenso wenig nur auf die ökonomische Benachteiligung der Region, in der im Jahr 2009 eine Serie von Anschlägen auf die Roma-Ghettos in Ózd und Umgebung stattfand. In der insbesondere im Umland noch von Formen agrarischer Subsistenzwirtschaft bestimmten und im Gegensatz zum restlichen Ungarn protestantisch geprägten Hochburg der Regierungspartei Fidesz wird jener Kult des Magyarentums unter Rückgriff auf religiöse und symbolische Elemente besonders stark zelebriert, der seit 2010 zum kulturellen Umbau des Landes geführt hat.
So etwa befindet sich im Stadtzentrum von Debrecen seither ein Monument, das die »Verstümmelungen« Ungarns zur Schau stellt. Zu sehen ist der Torso einer nackten Frau, die an Armen und Beinen halbseitig amputiert ist. Die auf diese Weise dargestellten Phantomschmerzen resultieren aus dem Verlust von 70 Prozent der vormaligen Fläche des Landes im Vertrag von Trianon aus dem Jahr 1920 und werden mit Hilfe des dazugehörigen Monuments nahezu pornographisch reinszeniert.

Nicht nur die »Hungarica«-Statue in der Stadtmitte Debrecens scheint für eine möglichst baldige »Wundversorgung« einer infolge von Gebietsverlusten sich als verstümmelt darstellend »Nation« zu appellieren. Auf symbolischem Weg lanciert wurde die Idee »Groß-Ungarns« von Orbán unter anderem auch zu Beginn der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft im Januar 2011, als Orbán einen Teppich ausrollen ließ, der Ungarn innerhalb der Grenzen von 1848 zeigte. Mehr als einmal sprach er davon, dass heutige Terrain Ungarns um jene von ungarischen Minderheiten besiedelten Gebiete Sloweniens, Kroatiens, der Karpato-Ukraine und der als »Unterungarn« bezeichneten ­serbischen Provinz Vojvodina erweitern zu wollen. Dass es auch religiös konnotierte Orte sind, an denen man der Idee »Groß-Ungarns« in Debrecen gedenkt, zeigt, wie man mit den Mitteln der im Schoße des Calvinismus beheimateten »innerweltlichen Askese« expansive Geisteshaltungen formen kann. In der Reformierten Kirche von Debrecen befindet sich der einem Betschemel ähnelnde Thron des Anführers der »nationalen Revolution« von 1848/49, Lajos Kossuth. Unter seiner Führung hatte hier der aus Pest geflohene Landtag die Ungarische Unabhängigkeitserklärung verabschiedet.
In Form von Provinzpossen wird am örtlichen Theater von Debrecen der Léharsche Operetten-Wahnsinn unter Rückgriff auf Pferde-Shows mit Vollblut-Hengsten reinszeniert, was dem Klischeebild Ungarns als »lustigster Baracke im Osten« besonders nahekommt. Anlässlich eines jährlich stattfindenden Blumenkarnevals wird an die calvinistische Geschichte des Ortes erinnert, während des »Fests des Huhnes« huldigt man tierischen Innereien, um das symbolische Terrain des städtischen Marktplatzes für ungarische Rockbands mit rechten Ambitionen freizugeben.

Gibt es in Debrecen dennoch eine Gegenkultur, die man queer nennen könnte? Wie, wenn überhaupt, organisiert sich dort eine lokale Szene? Während der Glanz Budapests als weltoffene Gay-Metropole mit ausgedehnter Badekultur unter dem Eindruck des derzeitigen (Neo-)Nationalismus kontinuierlich verblasst, hat es in Debrecen denselben niemals gegeben. Als ich mich auf Ungarisch nach Badefreuden für Frauen im örtlichen Thermalbad erkundige, sorgt dies für ein Unverständnis, das nicht allein auf meinen deutschen Akzent zurückführen ist. Frage ich mutmaßlich queere Studentinnen und Studenten danach, wo sie ihre Freundinnen und Freunde treffen, verweisen sie wortlos auf die Adresse einer WG, deren Bewohnerinnen lieber nicht offen als lesbisch in Erscheinung treten wollen. Ebenso warnt mich ein schwuler Engländer vor möglichen Missverständnissen: Seine jüngste Bekanntschaft, die dem Habitus nach einer Tom-of-Finland-Ikone ähnelte, habe sich im Bett als ungarischer Nationalist entpuppt. Der Rest der versteckten Homo-Existenzen trifft sich einmal im Monat in einem Club namens Kaptár (Bienenstock). An einen Bienenstock erinnert dieser jedoch kaum: Er besteht aus einem verfließten Raum mit einer unscheinbaren Bar, an der mehr Pálinka getrunken als getanzt wird. Man versteht nun, warum LGBT-Personen Debrecen eher meiden.