Die Proteste in Istanbul

Glühbirnen zum Platzen bringen

Die Proteste in Istanbul gehen in geringerem Ausmaß weiter, können die Umgestaltung der Stadt aber nicht verhindern.

Etwa 200 Menschen drängeln sich um den kleinen Schiffsanleger im Istanbuler Viertel Beşiktaş. »Beşiktaş, wehr Dich, sonst legt kein Schiff mehr an deinem Ufern an«, rufen die Protestierenden. Die Antiterroreinheiten der Istanbuler Polizei rücken an und schieben die Demonstrierenden in Richtung des am frühen Abend stark befahrenen Barbaros-Boulevard. Die Menschen geben schließlich auf und ziehen über den Basar von Beşiktaş. Aus den Tavernen des Çarşı, wie auch der Fanclub des Istanbuler Fußballvereins Beşiktaş heißt, prosten viele den Demonstranten zu. Die Demonstration richtet sich gegen den Verkauf des historischen Schiffsanlegers an das nahegelegene Shangri-La-Hotel. Seit 1913 können die Istanbuler von hier aus zum Stadtteil Kadıköy auf der asiatischen Seite übersetzen.
Eyüp Muhçu, der Präsident der türkischen Architektenkammer, ist davon überzeugt, dass die Privatisierung Teil der politisch motivierten Stadtsanierungspolitik der Regierung ist. »Sowohl in Beşiktaş als auch in Kadıköy stellt die Republikanische Volkspartei den Bürgermeister«, stellt der prominente Istanbuler Architekt fest. »Während der Proteste um den Gezi-Park im vergangenen Sommer hat die islamisch-konservative Stadtverwaltung mehrfach den Fährverkehr eingestellt, damit die Leute von der asiatischen Seite, vor allem aus Kadıköy, nicht zu den Demonstrationen auf dem Taksim-Platz gelangen konnten.« Die Protestierenden ziehen weiter zum Abbasağa-Park oberhalb des Basars. Seit Mitte Juni, als der Gezi-Park geräumt wurde, treffen sich die Istanbuler in den Parks ihrer jeweiligen Wohnviertel. In öffentlichen Foren diskutieren sie die politische Lage.
An diesem Abend ist das Gerichtsverfahren gegen den Kunsthistoriker Osman Erden, Professor an der Mimar-Sinan-Kunsthochschule, Hauptthema. Am 13. Juli war Erden am Rande einer Demonstration auf dem Istiklal-Boulevard in der Nähe des Taksim-Platzes von der Polizei geschlagen und verhaftet worden. Er hatte sich eine Pressekonferenz der Taksim-Plattform angehört und war auf dem Weg nach Hause, als etwa 15 Beamte über ihn herfielen und ihm ins Gesicht schlugen. Auf einem Foto ist der Akademiker mit blutender Nase zu sehen, Polizisten führen ihn wie einen Straßenkämpfer ab, die Hände hinter dem Rücken mit Handschellen fixiert. Nach einigen Stunden war Erden wieder auf freiem Fuß, doch im September erreichte ihn Post von der Staatsanwaltschaft. Er habe Widerstand gegen die Staatsgewalt geleistet und müsse sich dafür vor Gericht verantworten. Darauf stehen in der Türkei zwischen sechs Monaten und drei Jahren Haft. Die genaue Anzahl der Anklagen ist nicht bekannt, es dürften aber an die 2 000 sein. Sie richten sich vor allem gegen Menschen, die wie Osman Erden am Rande von Demonstrationen wahllos von der Straße aufgegriffen wurden.

Ein weiteres Thema der Debatten in den Foren ist die politisch motivierte Umgestaltung der Stadt. Architekt Eyüp Muhçu zeigt Pläne von dem geplanten Bau einer Moschee am Taksim-Platz, mit einer absurden bläulichen Kuppel und einer Mondsichel darüber. Der Platz wurde in den dreißiger Jahren als öffentlicher Platz für die Istanbuler eingerichtet, das dem Abriss geweihte Atatürk-Kulturzentrum beherbergte die Oper, mehrere Kinos und Konferenzsäle. Der Kulturpalast ist seit fünf Jahren geschlossen. Noch können die Istanbuler vom Gezi-Park aus auf den Bosporus schauen. Die Bauwut der Regierung sieht hier aber ein Stadtmuseum im Stil einer osmanischen Kaserne vor. Um den Taksim-Platz herum eröffnen immer mehr Konditoreien, die türkische Süßigkeiten statt alkoholischer Getränke verkaufen. Ein osmanisches Disneyland stellt sich Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan hier offenbar vor.
Zusammen mit dem Bürgermeister von Beyoğlu grinst Erdoğan von einem riesigen, an einem Bauzaun hängenden Plakat herab. Der Ministerpräsident hat gut lachen. Sein Schwiegersohn, Berat Albayrak, gehört zu den Profiteuren des Sanierungsprojektes Tarlabaşı. Auf 20 000 Quadratmetern werden fast 300 Häuser abgerissen. Es entstehen Betonburgen mit kitschigen Fassaden. Albayrak ist Geschäftsführer der Çalık-Hol­ding, die als Textilunternehmen angefangen hat und jetzt mit Baugewerbe, Energiegewinnung und Bergbau Milliarden verdient. Daneben macht das Unternehmen als Betreiber eines Medienkonzerns, der die Tageszeitung Sabah und den Fernsehsender ATV einschließt, Propaganda für die Regierung.

Die Kurdin Leyla Bağ geht mit ihrem vierjährigen Sohn durch das halb abgerissene Viertel. Im Alter von 13 Jahren migrierte die mittlerweile 28jährige mit ihrer Familie nach Istanbul. »Ich habe hier immer gern gewohnt«, sagt sie traurig. Leyla ist eine der wenigen, die noch hier leben, ihr Vater ist alt und krank und die Stadtverwaltung wartet bislang auf den Abschluss eines Gerichtsverfahrens, in dem die Bağs auf ihr Recht auf Wohnraum klagen. Die meisten Leute haben ihre Wohnung hier billig verkaufen müssen und sind in Trabantenstädte am Stadtrand gezogen.
Die Regierung hat 2007 ein Gesetz verabschiedet, demzufolge Wohngebiete zum Nutzen des Allgemeinwohls verstaatlicht werden können. Das kommt im Grunde einer Enteignung gleich.
Das Roma-Viertel Sulukule an der historischen Stadtmauer wurde bereits 2009 abgerissen. »Wer die Roma verachtet, ist bei uns kein Rassist, sondern Bürgermeister und heißt Mustafa.« Asil Koç, Burak Kaçar und Veysi Özdemir sitzen lässig auf einem ausgebrannten Auto am Rande der Luxusbungalows des heutigen Sulukule und wiegen sich im Takt des Sprechgesangs. Tahribat-ı İsyan, »Aufstand gegen die Zerstörung«, haben die Rapper ihre Band genannt, sie ist ebenfalls ein Teil der Istanbuler Protestbewegung. Burak, der sich den Künstlernamen »Zenci«, »Neger«, zugelegt hat, ist zwar ein Kurde aus Van, fühlt sich aber mit den Roma solidarisch. »Die Kurden sind die Neger der Türkei. Ob in Van oder Sulukule, abgerissen werden immer nur die Häuser der Schwachen«, sagt er ernst. Alle drei sind knapp unter 20, Sulukule ist für sie ein Synonym für Unrecht. Obwohl sie mittlerweile in angrenzenden Vierteln leben, kommen sie täglich, um mit Kindern aus dem Viertel im Rahmen eines sozialen Projekts Musik zu machen. Ein kleines Häuschen am Rande der vor allem von Islamisch-Konservativen bewohnten Viertels Karagümrük ist ihr Musikstudio. Wenn das Trio mit zwölf Kindern Sprechgesang improvisiert, beben die Wände, doch kein Nachbar hat sich je beschwert. Die ebenfalls armen islamisch-konservativen Nachbarn hatten nichts gegen die Roma. »Das sind die geplatzten Glühbirnen«, rappt Tahribat-ı İsyan und spielt damit auf Erdoğans islamisch-konservative »Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung« (AKP) an, die eine Glühbirne als Partei-Emblem führt.
Istanbul bereitet sich auf einen heißen Herbst vor. Die Protestbewegung versucht, die Polizei möglichst nicht mehr zu Gewalttätigkeiten zu provozieren. Neben den Foren und den spontanen Protestaktionen, wie der über die sozialen Medien organisierten Demonstration vor dem Schiffsan­leger von Beşiktaş, spielen die Kreativen eine wichtige Rolle. »Wir wollen wieder hier wohnen«, rappt ein kleiner Junge im Workshop von Tahri­bat-ı İsyan. Seine Augen blitzen zornig. Heute ist er noch arm und machtlos, morgen aber vielleicht ein ausdrucksstarker Musiker, der gegen die autoritäre türkische Regierung protestiert.