Großungarische Ambitionen

Heim ins Reich

Die ungarische Regierung bemüht sich um die Auslandsungarn. Dazu gehören nicht nur völkische Veranstaltungen wie der »Székler Schnellzug«, sondern auch der Ausbau des Wirtschaftsraums im Karpatenbecken.

Man stelle sich vor: Ein von der deutschen Regierung unterstützter Sonderzug der Deutschen Bahn fährt ins Elsass. An den deutschen Bahnhöfen stehen deutsche Schulklassen und winken ihm mit Deutschland-Fähnchen zu. Nach dem Passieren der Grenze winken die Reisenden aus allen Fenstern mit Deutschland-Flaggen, Reichskriegsflaggen und vereinzelten NPD-Fahnen, die Elsässer winken zurück. Der Zug hält an jedem größeren Bahnhof an, die Reisenden werden von Trachtengruppen mit Blaskapelle, Brot und Schnaps begrüßt. Bürgermeister halten Ansprachen: Deutsche und Elsässer gehörten einem Volk an, das Elsass sei urdeutsches Gebiet, auf dem sich deutsches Wesen am ursprünglichsten erhalten habe, aus der heutigen Bundesrepublik komme man hierher nach Hause. Auf dem zentralen Festakt in Straßburg sind rund 500 000 Menschen anwesend – darunter vereinzelte NPD-Anhänger und andere Rechtsextreme, teils in Uniform –, dort feiern Bundespräsident Joachim Gauck, der Vorsitzende der CSU, Horst Seehofer, und die ganze CSU-Bundestagsfraktion die Einheit des deutschen Volkes in den tausendjährigen Landesgrenzen. Die französische Polizei hält sich zurück, um keine Ausschreitungen und diplomatischen Verstimmungen zu provozieren.
Etwas Ähnliches veranstaltet die ungarische Regierung seit Jahren. Es handelt sich dabei nicht um eine politische Veranstaltung, sondern eine katholische Wallfahrt, die jedes Jahr zu Pfingsten im Rahmen der Marienwallfahrt von Csíksomlyó/Şumuleu Ciuc im Széklerland stattfindet. Diese Region, die vor 1920 und von 1940 bis 1944 zu Ungarn gehörte, ist das Gebiet mit dem höchsten ungarischen Bevölkerungsanteil in Rumänien und somit von besonderem Interesse für die ungarische Regierung. Die jahrhundert­alte traditionelle katholische Marienwallfahrt der Székler ist seit 1989 und besonders in den vergangenen Jahren zu einem völkisch-nationalistischen Woodstock mit Auslandsungarn aus aller Welt geworden, die gemeinsam das Trianon-Trauma von 1920 und die Volksgemeinschaft in den tausendjährigen Grenzen zelebrieren.
Dabei gedenkt man immer häufiger der Zeit zwischen 1940 und 1944. Reichsverweser Miklós Horthy war seinen Bund mit Nazideutschland eingegangen, um die 1920 verlorenen Gebiete wiederzubekommen. Nach dem Zweiten Wiener Schiedsspruch fiel Nordsiebenbürgen 1940 zurück an Ungarn, ungarische Truppen marschierten ein. In den so »zurückgekehrten« Gebieten begannen die ungarische Armee und die örtlichen Behörden mit der Deportation der jüdischen Bevölkerung, deren Besitz vom ungarischen Staat beschlagnahmt wurde. Von den etwa 150 000 Deportierten kamen bis 1946 etwa 20 000 aus Auschwitz zurück.
Den Pilgerzug »Székler Schnellzug«, ein Sonderzug der Ungarischen Staatsbahnen, gibt es seit 2008. Seit 2010 ist er ökumenisch und steht unter der Schirmherrschaft des ehemaligen reformierten Bischofs, EU-Abgeordneten und Vorsitzenden des Siebenbürger Nationalrats, László Tőkés. Dieser ist ein Verbündeter Viktor Orbáns und einer der politischen Anführer der sogenannten Rumänien­ungarn.
Der »Székler Schnellzug« hat sein explizites historisches Vorbild im gleichnamigen Zug, der 1943/44 durch Nordsiebenbürgen fuhr und Budapest mit dem östlichsten Teil des ungarischen Reichs verband, mit 750 Kilometern war das damals die längste Bahnstrecke Ungarns. Das diesjährige Bordmagazin des Pilgerzuges ist illus­triert mit Fotos vom Einmarsch der ungarischen Truppen in Nordsiebenbürgen 1940, die von den Einheimischen jubelnd empfangen werden. In dieser Tradition verstehen sich auch die für die Pilger aus dem Mutterland an den Haltepunkten inszenierten und im Komplettpaket gebuchten und bezahlten Empfänge mit den Einheimischen.

Die wichtigste Veranstaltung der Wallfahrt ist die Messe am Pfingstsamstag, an der dieses Jahr der ungarische Staatspräsident János Áder, der Vize­premier und Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Volkspartei KDNP, Zsolt Semjén, sowie die gesamte Fraktion der Partei teilnahmen. Die Messe wurde live vom ungarischen Staatsfernsehen übertragen. Die ungarische Flagge, die rot-weiß-gestreifte Árpád-Flagge und die blau-goldene Székler-Flagge waren vor der Bühne gut zu sehen. Die rechtsextremen Árpád-Streifen als Symbol der tausendjährigen Staatlichkeit Ungarns sind nunmehr vom ungarischen Staatspräsidenten legitimiert worden und gehören zur etablierten nationalistischen Ikonographie. Die Székler-Fahne wurde 2004 vom Székler Nationalrat erfunden und 2009 von den Székler-Gemeinden übernommen. Sie steht für die Forderung nach Gebietsautonomie des Széklerlandes – das Nationalisten als urungarisches »Kernland« imaginieren, in dem sich das »ungarische Wesen« angeblich am reinsten erhalten habe.
Im März wurde die Székler-Fahne an öffentlichen Gebäuden in Siebenbürgen angebracht, das sorgte für diplomatische Verstimmungen zwischen Ungarn und Rumänien. Prompt fanden sich 10 000 Rumänienungarn in Targu Mures zusammen, um für territoriale Autonomie zu demons­trieren. Verstärkt wurden sie von Teilnehmern aus Ungarn, Südtirol, dem Baskenland und Katalonien – inklusive Jobbik, der Jugendbewegung der 64 Burgkomitate HVIM und anderen Rechtsextremen. Seither wurde an vielen ungarischen Rathäusern die EU-Flagge durch die Székler-Flagge ersetzt.
Wer nach Csíksomlyó pilgert, tankt dort Volksgemeinschaft und träumt von einer »großungarischen Wiedervereinigung«. Diese wird nicht nur spirituell und emotional durch Veranstaltungen wie den Pilgerzug inszeniert. Sie wird auch als politisches Projekt angesehen, dessen Verwirklichung noch aussteht.

Die Orbán-Regierung hat in den vergangenen Jahren Schritte in diese Richtung unternommen. Sie hat den Auslandsungarn das Wahlrecht gegeben und pumpt seit 2010 ungarische Steuergelder in die Institutionen der ethnischen Ungarn in Rumänien. So stellte sie den ungarischen Universitäten in Siebenbürgen 2012 vier Milliarden Forint (rund 13,3 Milionen Euro) zur Verfügung – auszahlbar bis Ende 2014, ein halbes Jahr nach den ungarischen Parlamentswahlen. Doch geht es hier nicht nur um kurzfristigen Stimmenkauf.
Mit dem »Wekerle-Plan« hat die ungarische Regierung 2012 eine eigene »Wachstumsstrategie für die ungarische Wirtschaft im Karpatenbecken« verabschiedet, die einer gezielten ethnischen Wirtschaftsförderung in den Nachbarländern gleichkommt. Dieser Plan wird als rein ungarische Angelegenheit betrachtet und wurde nicht mit den Regierungen der Nachbarländer abgestimmt. Bei der Anerkennung des Széklerlandes als autonome Region spielt vor allem der Zugang zu EU-Geldern eine Rolle.
Neben dem langfristigen Ausbau der ungarischen Wirtschaftssphäre ist der ungarische Staat offenbar auch strategisch daran interessiert, in Siebenbürgen eine ethnisch homogene Region zu schaffen, mit der dann gezielt kooperiert werden soll. Ein Indiz dafür ist der von Jenő Szász, dem Leiter des Nationalstrategischen Forschungsin­stituts der ungarischen Regierung, eingebrachte Vorschlag, die in Siebenbürgen verstreut lebenden Ungarn (»Menschen von nationalstrategischem Wert«) sollten konzentrierter angesiedelt werden, im Széklerland. Der Vorschlag stieß bei den Rumänienungarn auf Ablehnung, zeigt aber, worüber die Verantwortlichen der ungarischen Nationalitätenpolitik derzeit nachdenken. Diese Region wird von Ungarn aus ethnisiert und langfristig aufgebaut.
Die politischen Parteien der Rumänienungarn versuchen derzeit so legitim wie vergeblich, ihre Autonomie im Rahmen der EU zu verwirklichen. Dieses Jahr wurden bereits zwei EU-Bürgerbegehren abgewiesen, das eine eingereicht vom rechtsextremen Székler Nationalrat, das andere von der gemäßigten Demokratischen Union der Ungarn in Rumänien (RMDSZ) als EU-übergreifendes Paket zum Minderheitenschutz in Kooperation mit der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen (FUEN).
Als letzteres im September abgelehnt wurde, erklärten die Ungarische Volkspartei und der Ungarische Nationalrat Siebenbürgens sofort, in Kooperation mit ungarischen Organisationen des Karpatenbeckens unter der Ägide von László Tőkés, nun ihrerseits ein solches EU-Bürgerbegehren zu erarbeiten, die vom Székler Nationalrat im Oktober geplanten Massendemonstrationen nach katalanischem Vorbild zu unterstützen und auch selbst Proteste zu veranstalten.
Ein für Oktober geplantes EU-Bürgerbegehren kündigte der Vizepräsident des ungarischen Parlaments, Sándor Lezsák, bereits am diesjährigen Trianon-Gedenktag im Juni an. Durchgeführt wird es nun offenbar von den rumänienungarischen Trabanten.
Im rumänischen Wahljahr 2012 unterstützte die Orbán-Regierung die Ungarische Volkspartei und den Ungarischen Nationalrat Siebenbürgens mit fast einer Million Euro. László Tőkés, der Vorsitzende des Ungarischen Nationalrats Siebenbürgens, bezeichnet die Autonomie des Széklerlandes explizit als Wiedergutmachung für die ungarischen Gebietsverluste durch den Vertrag von Trianon 1920 und spricht sinngemäß von einem »seit 93 Jahren andauernden« Mord am ungarischen Volk. Im Sommer forderte er Viktor Orbán auf, Siebenbürgen nach dem Muster Südtirols als »Protektorat« Ungarns zu behandeln.
Die Ankündigung des EU-Bürgerbegehrens für den Oktober legt nahe, dass die ungarische Regierung das heikle Thema »Autonomie der Auslands­ungarn« im ungarischen Wahlkampf nutzen will.