Deutschland nach der Wahl

Tage wie diese

Nach der Bundestagswahl stehen schwierige Koalitionsverhandlungen an.

Beinahe erinnerte Sigmar Gabriels Wahlnachlese nach dem rot-grünen Debakel an den berüchtigten Auftritt Gerhard Schröders in der »Elefantenrunde« 2005. Angela Merkel werde »keine Koalition unter ihrer Führung mit meiner sozialdemokratischen Partei hinkriegen«, verkündete seinerzeit der frisch abgewählte Bundeskanzler. »Also, ich meine, wir müssen die Kirche doch mal im Dorf lassen.« Ein paar Wochen später stand die Große Koalition, Merkel wurde Bundeskanzlerin. Am Tag nach der Bundestagswahl 2013 klang das bei Gabriel so: »Wir stehen nicht da, um uns wie die FDP von Frau Merkel ruinieren zu lassen.« Am vergangenen Freitag beschloss die SPD die Aufnahme von Sondierungsgesprächen mit der Union.

Die Wahl am 22. September hat zu politischen Verhältnissen geführt, die auf den ersten Blick denen vor acht Jahren ähneln. Auch damals konnte sich die Union als stärkste Kraft feiern, an der kein Vorbeikommen war, weil eine rot-rot-grüne Parlamentsmehrheit nur arithmetisch, aber nicht politisch existierte. Damit enden allerdings schon die Gemeinsamkeiten. Denn die Kräfteverhältnisse haben sich dramatisch verschoben. 2005 lag die SPD noch auf Augenhöhe mit der Union. Davon kann nicht mehr die Rede sein. Inzwischen liegen die Sozialdemokraten 15,8 Prozentpunkte hinter CDU und CSU, die nur knapp die absolute Sitzmehrheit verpassten. Mit diesem Wahlergebnis sei die SPD wieder »in den fünfziger Jahren« angekommen, sagte der stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende Olaf Scholz der FAZ zufolge auf dem Parteikonvent am Freitag voriger Woche. Der Erste Bürgermeister Hamburgs irrt: So schlecht schnitten die Sozialdemokraten einst nicht ab.
25,7 Prozent der Stimmen holte die SPD am vorvergangenen Sonntag, nur 2009 sah es noch düsterer aus. Da kann es nicht wundern, dass wohl den meisten Genossen eine Neuauflage der Großen Koalition unter Merkel als Albtraum erscheint, dem sie liebend gern entkommen würden. Wären da nicht zum einen jene »staatspolitische Verantwortung«, der sich ihre führenden Kader noch nie entziehen konnten, und zum anderen die Aussicht auf Neuwahlen, die zu noch trüberen Verhältnissen führen könnten.
Die Große Koalition ist auch demokratietheoretisch eine Horrorvorstellung. Denn im Gegensatz zur Situation von 2009 wäre die verbleibende Opposition aus Linkspartei und Grünen zu klein, um Untersuchungsausschüsse einberufen oder Sondersitzungen des Bundestages verlangen zu können. Auch könnte sie nicht vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, um Gesetze überprüfen zu lassen. Die Kontrollrechte der Opposition würden sich auf ein Minimum beschränken.
Andere Koalitionsmöglichkeiten sind jedoch nicht in Sicht. Rot-Rot-Grün hat die SPD vor den Wahlen kategorisch ausgeschlossen. Außerdem wäre die Mehrheit im Parlament zu knapp: Fünf Abweichler vom rechten SPD-Flügel oder auch aus den Reihen der Grünen reichten, um ein solches Bündnis platzen zu lassen. Und dann gibt es auch noch die strikten Gegner einer Regierungsbeteiligung innerhalb der Linkspartei. Auch Schwarz-Grün ist kein realistischer Ausweg, obwohl der SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs, Sprecher des parteirechten Seeheimer Kreises, der Union die vergiftete Empfehlung gegeben hat, »sehr genau« zu überlegen, »ob sie es nicht sehr viel preiswerter mit den Grünen haben kann«. Nicht nur angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat ist das ein absurdes Gedankenspiel: Die Grünen können und werden sich nach ihrem miserablen Ergebnis von 8,4 Prozent nicht auf eine schwarz-grüne Koalition einlassen. Sie könnten »nach dem Wahldebakel, in höchst angegriffener Situation, nicht auch noch ein Bündnis eingehen, das die Basis wohl allenfalls dann akzeptieren würde, wenn die Grünen im Hochgefühl eigener Stärke in ein solches Bündnis ziehen könnten«, schreibt Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung.

Prantl schlägt stattdessen eine für deutsche Verhältnisse unkonventionelle Lösung vor: Die Union solle es mit einer Minderheitsregierung versuchen. Die SPD könne dann ihrer »staatspolitischen Verantwortung« dadurch nachkommen, »dass sie erklärt, eine solche Minderheitsregierung zu tolerieren – und für diese Tolerierung quasi-koalitionäre Abmachungen trifft«. Für die Sozialdemokraten dürfte sein Vorschlag jedoch wenig attraktiv sein, taugt er doch nicht zur Befriedigung der zahlreichen Karriereambitionen. Bei einer Großen Koalition winken hingegen, so erhoffen es sich jedenfalls die führenden Genossen, sechs Minister- und etliche Staatssekretärsposten. So wird am Freitag dieser Woche der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel zusammen mit dem Fraktionsvorsitzenden Frank-Walter Steinmeier, dem ehemaligen Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück, der Generalsekretärin Andrea Nahles, der nordrhein-westfälischen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz in die Sondierungsgespräche mit der Union ziehen. Sie werden bis zur Schmerzgrenze der Union gehen. Und wenn sie Pech haben und sich verzocken, auch darüber hinaus. Bei den wenigen Stimmen, die Merkel zur absoluten Mehrheit fehlen, dürfte ihre Leidensfähigkeit nicht unendlich sein. Dann könnte es doch bald Neuwahlen geben – und die Wählermehrheit rechts der Mitte könnte zu einer Parlamentsmehrheit werden. Die aktuellen Meinungsumfragen nach der Wahl verheißen jedenfalls nichts Gutes: Während die SPD stagniert und die Grünen mit weiteren Verlusten rechnen müssten, könnte die Union nochmals zulegen. Außerdem dürfte die »Alternative für Deutschland« (AfD) mit ihrem erstmaligen Einzug in den Bundestag rechnen.
Auch die FDP sollte nach ihrem wohlverdienten Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde nicht vollends abgeschrieben werden. Immerhin verfügt sie noch über neun Landtagsfraktionen. Aber es wird schwer werden für den designierten Bundesvorsitzenden Christian Lindner. Der neue – letzte – Hoffnungsträger der sklerotischen Partei wird versuchen, nach dem Vorbild seines Erfolgs in Nordrhein-Westfalen der FDP ein neues, eigenständigeres Image zu verpassen, wozu neben einer personellen Erneuerung auch gehört, nicht mehr ausschließlich auf platte wirtschaftsliberale Propaganda zu setzen. Zumindest verbal will er sich auf verschüttete liberale Grundwerte besinnen. Die alte Parteiführung trage die Schuld daran, dass die liberale Idee »unter Klientelverdacht, Lobbyvorwürfen und Häme verschüttet wurde«.

Ob der 34jährige Lindner die marode FDP wieder flott kriegt, ist völlig offen. Fest steht nur, dass am Wahlabend endlich und endgültig die Ära von Guido Westerwelle geendet hat. Obwohl mit 51 Jahren immer noch im besten Politikeralter, wird er in der FDP keine Rolle mehr spielen. Der ehemalige Parteivorsitzende und Noch-Außenminister war für die Freidemokraten Segen und Fluch zugleich. »Guido Westerwelle wird als derjenige in die Geschichte eingehen, der das beste Wahlergebnis für die FDP bei einer Bundestagswahl eingefahren hat – und daraus dann nichts gemacht hat«, sagte FDP-Präsidiumsmitglied Wolfgang Kubicki dem Tagesspiegel. Kubicki hatte so früh wie kein anderer vor dem drohenden Untergang gewarnt. »Die Situation, in der wir uns befinden, erinnert mich fatal an die Spätphase der DDR«, warnte Kubicki bereits im Dezember 2010 im Spiegel. »Wir sind an einem unteren Scheitelpunkt, es geht dann irgendwann ganz schnell.« Damals wäre noch Zeit zum Umsteuern gewesen.
Doch die Berliner Parteioberen konnten oder wollten den Ernst der Lage nicht erfassen. Zu mehr als einer halbgaren Personalrochade waren sie nicht imstande. Der im Mai 2011 als neuer Parteivorsitzender inthronisierte Philipp Rösler begriff ebenso wenig wie der auf den Fraktionsvorsitz gewechselte Rainer Brüderle, was die Ursachen für die existenzgefährdende Krise waren. Beide führten die Linie Westerwelles fort, der in seiner zehnjährigen Amtszeit weder großen Wert auf den Erhalt und die Restaurierung liberaler Bürgerrechtstraditionen noch auf die überfällige Modernisierung der Partei gelegt hat. Marktradikale Propagandakompanie und Unionsanhängsel  – das war irgendwann zu wenig. Damit machten sich die einstmals so stolzen Freidemokraten vollends vom Willen des neoliberal-konservativen Teils der Unionswählerschaft abhängig, die FDP als Funktionspartei noch einmal ins Parlament zu hieven. Ein Vabanquespiel, das schiefging.

Trotzdem hätte Brüderles jämmerliche Bettelkampagne »Wer Merkel will, wählt FDP« die Partei knapp ins Ziel retten können – wäre da nicht die Konkurrenz der »Alternative für Deutschland« (AfD) gewesen, die im gleichen Wählersegment gewildert hat. Doch auch diese Gefahr ignorierte die FDP-Führung tapfer – bis es zu spät war. Dabei hätte ihr schon nach dem Ausgang ihres Mitgliederentscheids zum »Europäischen Stabilitätsmechanismus« Ende 2011 klar sein müssen, dass Positionen, wie sie diese deutsche Variante der Tea-Party-Bewegung vertritt, gerade in den Reihen der FDP und ihrer Anhängerschaft auf beachtenswerten Zuspruch treffen. Immerhin erhielt der Antrag des Vorstands, den Regierungskurs weiter mitzutragen, nur eine knappe Mehrheit, während 44,2 Prozent auf den Gegenantrag der Euro-Abweichler um den Bundestagsabgeordneten Frank Schäffler entfielen.
So viele Stimmen wie keine andere Partei verlor die FDP bei der Bundestagswahl an die AfD. 430 000 Wähler wechselten zu den europafeindlichen Marktradikalen. »Die EU-Gegnerschaft der AfD reiht sich nahtlos in das weltanschauliche Gedankengebäude der Marktfundamentalisten ein«, schrieb Jens Berger in der Taz. »Wer den Staat auf ein Minimum reduzieren will, lehnt natürlich auch jede Form einer starken Zentralregierung ab.« Gepaart mit ihrer rechtspopulistischen gesellschaftspolitischen Ausrichtung ergibt das eine unappetitliche Gemengelage, die nicht nur der FDP bei ihren Rekonstruktionsbemühungen noch größere Probleme bereiten dürfte, sondern künftig darüber hinaus eine höchst unangenehme Rolle in der deutschen Politik spielen kann.
Wenn sie sich nicht doch noch zuvor selbst zerlegt, kann die nationalchauvinistische AfD bei der Europawahl im kommenden Jahr sogar auf ein zweistelliges Ergebnis hoffen. Damit droht eine signifikante Verschiebung des Parteienspektrums nach rechts. Da beruhigt es nur wenig, dass die Bundesrepublik immerhin noch weit von österreichischen Verhältnissen entfernt ist. Dort kamen die europafeindlichen Rechtsaußenparteien FPÖ, BZÖ und Team Stronach am Sonntag zusammen auf mehr als 30 Prozent der Stimmen.