drMarias im Gespräch über die ungarische Kunst- und Musikszene

Termin beim Doktor

Er provoziert, verursacht Skandale und hält Professionalität für eine Zwickmühle: drMarias ist eine Ikone der ungarischen Kunst- und Musikszene. Die Jungle World traf den Künstler in seinem tannengrün getünchten Atelier im Norden Budapests. Es ist zehn Uhr morgens, drMarias serviert den stärksten Kaffee der Stadt.

Sie sind in Novi Sad aufgewachsen, der zweitgrößten Stadt Serbiens. Warum sind Sie Anfang der neunziger Jahre nach Budapest gezogen?
Ich war auf der Flucht. Ich hatte gerade vier Jahre in Belgrad studiert, als der Krieg 1991 ausbrach und das Militär an die Haustür meiner Eltern in Novi Sad klopfte, um mich einzuziehen. Meine Mutter rief mich sofort an und ich packte meine Sachen. Es war Zeit, das Land zu verlassen. Und so überquerte ich eines Nachts im Kofferraum eines Autos, den ich mir mit zwei Frauen, einem Hund und einer Tasche voll Blumen teilte, die Grenze und stieg in Budapest aus.
Damals waren Sie bereits als Künstler aktiv. Wann haben Sie Ihre ersten Erfahrungen mit Musik und Malerei gemacht?
In der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien genoss man einige Freiheiten, die den Menschen in anderen sozialistischen Staaten verwehrt waren. Wir hatten die Möglichkeit, uns in der Zeit zu verorten. Wir konnten reisen, uns Jeans, Kaugummis und Kondome kaufen und hatten Zugang zu Kunst aus dem Westen. Es war eine interessante, aufregende Phase, trotz der vielen Verbote und des allgegenwärtigen Militärs. Mitte der achtziger Jahre teilte ich mir mit Freunden ein kleines Atelier in Novi Sad. Wir hatten einen sehr direkten Zugang zur Kunst, malten mit Farbe, mit Scheiße – eigentlich mit allem, was uns in die Finger kam. Wir wollten einfach experimentieren und uns ausleben. Von diesem Gefühl war auch die Musik beseelt. 1987 gründete ich mit einigen Freunden die Band Tudósok (Wissenschaftler), die es immer noch gibt.
Tudósok sind heute sehr bekannt, obwohl die Musik getrost als sperrig bezeichnet werden kann. Woran orientieren Sie sich musikalisch?
Wir sind sehr offen, waren es auch schon in unseren Anfangstagen. Ich war damals vor allem an Punkrock und improviertem Jazz interessiert, wir ließen uns von solch verrückten Typen wie Caspar Brötzmann und John Cage inspirieren. Tudósok war der perfekte Ausgleich zum disziplinierten Studium der Musikethnologie. Während es in der Universität streng um Harmonien, Komposition und ernstes Klavierspielen ging, agierte die Band instinktiv, Regeln gab es keine. Das eine war gut für den Kopf, das andere für den Magen und das Herz. Die Musik hat sich im Laufe der Jahre natürlich verändert, die ablehnende Haltung gegenüber dem Mainstream ist jedoch bestehen geblieben. Mein 18jähriger Sohn steht auf House und Techno. Ich habe probiert, mich damit anzufreunden, aber ich höre immer nur dieses nts, nts, nts.
Haben Sie jemals in Erwägung gezogen, sich als Künstler ausbilden zu lassen?
Einige meiner Freunde studierten Malerei. Wissen Sie, was mit ihnen passiert ist? Die besten und talentiertesten unter ihnen haben sich von der Kunst inzwischen abgewandt, sie malen heute gar nicht mehr. Ich bin zu einem überzeugten Autodidakten geworden. Expertenwissen kann vorteilhaft sein, dich aber genauso gut unter ein Joch zwingen. In der Musik ist es ähnlich: Grundlagen sollten natürlich vorhanden sein. Wer aber einfach auf die Bühne geht und drauflos spielt, kann hundertmal intensivere Erlebnisse schaffen als jemand, der irgendwelches akademisches Zeug dudelt.
Wovon lebten Sie eigentlich, bevor der Künstler drMarias international ausgestellt wurde?
Als ich gerade in Budapest angekommen war, hätte es natürlich die Möglichkeit gegeben, in einer Tanzkapelle zu spielen. Glücklicherweise kam eines Abends – ich hatte mich gerade mit Freunden in unserer Lieblingsbar getroffen – dieser Typ auf uns zu und fragte, ob einer von uns Englisch unterrichten könne. Ich sagte natürlich: »Na klar, ich bin der perfekte Englischlehrer!«, und vergaß den Vorfall sofort wieder. Damals lebte ich in einem dieser scheußlichen Plattenbauten made in Germany am Stadtrand von Budapest. Die Wohnung war winzig, lediglich ein Klappbett fand darin Platz. Als es eines Abends an der Tür klopfte und jemand rief: »Hey, wohnt hier der Lehrer?«, dachte ich, jemand wolle mich auf den Arm nehmen. Tatsächlich aber war es dieser Vogel aus der Kneipe, der für einige konservative Mitglieder des Parlaments dringend einen Englischlehrer suchte. Ich folgte ihm, lief da in meinen Punkklamotten auf und brachte fortan Managern und Mitarbeitern von Firmen und Schulen Englisch bei.
Nebenbei arbeitete ich als Redakteur für ein Internetmagazin, das zugleich ein Underground-Plattenlabel war. Wir veröffentlichten über 50 CDs und wollten eine frei zugängliche Musikbibliothek im Internet ins Leben rufen. Aber die Öffentlichkeit war noch nicht bereit zu akzeptieren, dass Dinge umsonst verbreitet werden sollten. Aufgrund unserer Erziehung im Kommunismus kam uns das sehr eigenartig vor. Wir versuchten noch eine Weile, Lösungen zu finden, arbeiteten mit einem russischen Server, aber die Idee ließ sich nicht realisieren. Absurd, wenn man bedenkt, was 15 Jahre später auf Youtube zu finden ist.
Haben Sie eine Strategie entwickelt, trotz wachsender Kenntnisse und handwerklicher Fähigkeiten das Unmittelbare in Ihrer Kunst beizubehalten?
Ich passe mich der Geschwindigkeit unserer Zeit an. Wenn man heutzutage etwas bewirken will, muss die Aussage rasch und genau platziert werden. Deshalb halte ich mich weder mit einem Bild noch mit einem Musikstück länger als zwei Tage auf. Man kann es sich einfach nicht mehr leisten, ein halbes Jahr an einem Bild herumzumalen.
Es sei denn, man heißt Georg Baselitz und beabsichtigt nicht, das Weltgeschehen direkt zu kommentieren. Hatte Politik in Ihrer Kunst schon immer einen hohen Stellenwert?
Lange Zeit wollte ich mit Politik nichts zu tun haben. Letztlich muss ich mich als Künstler aber mit der Gegenwart auseinandersetzen, erst recht unter den politischen Zuständen, die in Ungarn herrschen. Die Politik, damit meine ich nicht nur diese Regierung, sondern auch vorangegangene, führt auf vielen Ebenen einen ideologischen Krieg gegen das intellektuelle Leben des Landes. Wissen Sie, das ungarische Verlagswesen hat eine lange Tradition, genauso wie der Buchhandel und vor allem das Lesen von Büchern mit literarischem Wert. Als plötzlich diese merkwürdigen Celebrity-Bücher auftauchten und alle von Dostojewski zu »50 Shades of Grey«, oder wie auch immer diese ganzen Titel lauten, wechselten, kam niemand den Verlagen zur Hilfe. 80 Prozent von ihnen mussten schließen, Bücher in kleineren Auflagen konnten nicht mehr wirtschaftlich produziert werden. Das brachte mich auf die Idee, Celebrities zu malen. Und damit gingen die Probleme erst richtig los.
Inwiefern?
Naja, ich machte mich über diese ganzen Bastarde lustig und die Galerien bekamen Angst. Richtig heikel wurde es, als vor den vergangenen Wahlen meine Politikerporträts ausgestellt wurden. Ich malte Viktor Orbán als Jesus Christus, der blutend am Kreuz hängt, genauso wie seinen Gegenspieler, Gordon Bajnai, diesen sogenannten linken Sozialisten, als »Der vitruvianische Mensch« von Leonardo da Vinci. Nebenbei bemerkt, es gibt keine linken Sozialisten in der ungarischen Politik.
Befürchteten die Galerien und Kuratoren, verklagt zu werden?
Ja. Wovor sie sich aber genauso fürchteten, war die Möglichkeit, die finanzielle Unterstzung zu verlieren. Auf diese Weise wird hierzulande Zensur ausgeübt. Man muss sich bei der ungarischen Akademie der Künste, die von der Regierung Orbáns installiert wurde, um Förderung bewerben. Ihr Vorsitzender, der 80jährige protestantische Pfarrer György Fekete, ist der Ansicht, Kunst dürfe nicht provokativ sein, sie solle nationale und religiöse Werte verbreiten. Wir organisierten damals eine Konferenz gegen diese Akademie und ich malte György Fekete als Allegorie auf »St. John the Baptist«, das Bild von Leonardo. Anders als auf der Vorlage wird aber nicht ein Zeigefinger zum Himmel gerichtet, sondern ein Mittelfinger auf ein Kreuz: Der Pfarrer schert sich weder um die Demokratie noch um das Christentum, das Freiheit und Liebe predigt. Diesem Mann sollte nicht die Möglichkeit gegeben werden, Künstler um ihre Arbeit zu bringen. Über Facebook verbreitete sich das Bild und entwickelte sich geradezu zu einer Ikone. Mir hat das gefallen, weil es einen starken Eindruck hinterließ, Reaktionen hervorrief und zu einem einflussreichen Kunstwerk wurde.
Sehen Sie sich selbst eher als Underground-Künstler oder agieren Sie bewusst im Hinblick auf den Kunstmarkt?
Theodor W. Adorno hat sinngemäß einmal gesagt: Die einzig legitime Macht in einem System ist diejenige, die es zerstört. Um den Kunstmarkt effektiv angreifen zu können, musst du ein Teil von ihm sein. Als ich jung war und die ersten Bilder von Andy Warhol sah, brachte es mich fast um den Verstand. Seine Arbeiten kamen mir wie ein Verrat an der Kunst vor. Erst Jahre später wurde mir bewusst, wie gezielt Warhol die damalige New Yorker Szene herausgefordert hatte. Wenn sich der Kunstmarkt ändert, musst du zwei Dinge tun: Du musst deine Art der Provokation soweit anpassen, dass sie verstanden wird. Und du musst möglicherweise sogar einige Kompromisse eingehen, um einen Dialog mit den Leuten führen zu können. Einen Schritt zurückzutreten und die Realität als Groteske zu betrachten, kann dabei sehr heilsam sein. Man sollte darauf achten, dass das Lachen nicht zu kurz kommt.

www.drmarias.hu
www.myspace.com/tudosok

Tudósok-CD »A legszebb szerelmes dalok«, April 2013