Der ungarische Geschichtsrevisionismus

Ungarisches Haus

Die Regierung Ungarns betreibt die völkische Umdeutung der ungarischen Geschichte. Dem Museum »Haus des Terrors« kommt dabei eine zentrale Rolle zu.

Wo immer man derzeit hinsieht, wird die ungarische Hauptstadt durch neue Denkmäler, Straßennamen und Gedenktafeln im Sinne eines völkischen Geschichtsverständnisses umgedeutet, demzufolge der Vertrag von Trianon, also das ungarische Äquivalent zum Versailler Vertrag, die nationale Katastrophe im 20. Jahrhundert war. Tatsächlich wurde bei der Auflösung des Habsburgerreichs ein beträchtlicher Teil des vormaligen Königreichs Ungarn den Nachbarstaaten zugesprochen. Dass jedoch ein großer Teil der ungarischen Bevölkerung auch heute noch ernsthafte Ansprüche auf Teile Kroatiens, der Slowakei, Rumäniens, Österreichs und Italiens erhebt, wirkt ziemlich befremdlich.
Genau das ist allerdings der Fall, und die Großungarn-Politik wird von offizieller Seite unterstützt. Im Budapester Stadtteil Csepel etwa steht ein Denkmal, das an die Opfer der Jahre 1939 bis 1945 erinnern soll. Eingerahmt wird es von Tafeln, die die Wappen ungarischer Verwaltungseinheiten zeigen – allerdings jener des Königreichs vor 1918.

Auch wer das 2002 eingeweihte »Haus des Terrors« in der Budapester Innenstadt besucht, das auf Initiative der ersten Regierung Orbán entstandene Herzstück des gegenwärtigen ungarischen Geschichtsrevisionismus, bekommt gleich im ersten Raum der Ausstellung einen Film vorgeführt, der in Form einer animierten Europakarte darlegt, wie der »von den Siegermächten diktierte« Vertrag von Trianon Ungarn zerstückelte. »Isoliert (…) und von feindlichen Mächten umzingelt« sei Ungarn gewesen, heißt es im begleitenden Informationstext. Dennoch sei es ein freies und demokratisches Land gewesen, in dem die Menschen »besser und freier lebten als ihre Nachbarn«. Kein Wort über die mehr als 3 000 Opfer des »weißen Terrors« nach dem Ende der kurzlebigen Räterepublik, kein Wort über die bereits 1920 eingeführte Begrenzung der Anzahl jüdischer Studenten an den Universitäten und gerade mal ein einziger Nebensatz über die späteren Judengesetze des Reichsverwesers Miklós Horthy. Konsequenterweise werden auch die Gebietsgewinne, die Ungarn als Verbündeter Deutschlands und aufgrund einer über zwei Jahrzehnte betriebenen Revisionspolitik erreichen konnte, als »Wiederbesetzungen« bezeichnet. Ungarn hat sich nur genommen, was ihm sowieso gehören sollte, so die Botschaft.
Ohnehin scheint das ganze »Haus des Terrors« von vorne bis hinten darauf zugeschnitten zu sein, die Weltsicht der regierenden völkischen Nationalisten zu vermitteln. Eine zentrale These hierbei ist die Annahme, dass mit dem Putsch der Pfeilkreuzler, also der ungarischen Nationalsozialisten, Ende 1944 einen Bruch mit Traditionen des Rechts gegeben habe, zumindest bis 1990. Für alles dazwischen, vor allem für die über 500 000 ermordeten ungarischen Juden, seien die Ungarn nicht verantwortlich. Der Mord an mehreren tausend Roma wird gar nicht erst erwähnt.
Überhaupt wird versucht, den Eindruck zu erwecken, die Kommunisten und vor allem die Sowjets seien weit schlimmer gewesen als die deutschen und ungarischen Nazis. In der Ausstellung selbst widmen sich gerade einmal zwei von insgesamt über 30 Räumen der Zeit der Pfeilkreuzler. In den restlichen Räumen wird museums­pädagogisch geschickt versucht, einen Eindruck des unermesslichen Leids zu vermitteln, den das ungarische Volk angeblich unter der Führung der Sowjetunion zu erleiden hatte. Wenn man bedenkt, dass die Zahl der Opfer der Pfeilkreuzler mehr als das Hundertfache jener der realsozialistischen Ära beträgt, wirkt diese Aufteilung doch etwas unausgewogen.

Ein weiteres zentrales Thema der aktuellen Erinnerungspolitik ist der Aufstand von 1956. Überall in Budapest wurden Gedenktafeln an Wände montiert, die an »Märtyrer« des »Volksaufstands« erinnern sollen, und auch das »Haus des Terrors« erinnert in erster Linie an Menschen, die 1956 in den Jahren darauf wegen ihrer Beteiligung an dem Aufstand verhaftet oder getötet wurden.
Wie deren Schicksal und die Bedeutung des Aufstands für die ungarische Geschichte nach dem Wunsch der Regierung zu interpretieren ist, offenbart sich bei einem Blick in den Museumsbuchhandel. Dort nämlich findet sich unter anderem auch das Buch »Manhunt on Command« von Valéria Kormos, das die nationalis­tischen Unruhen im September 2006 thematisiert und die These vertritt, die sozialliberale Regierung unter Ferenc Gyurcsány habe damals die gezielte Jagd auf die Protestierenden veranlasst. Als das Buch 2008 im »Haus des Terrors« vorgestellt wurde, verglich Zoltán Balog (Fidesz), der derzeitige Minister für Humanressourcen, das Vorgehen der Regierung Gyurcsány sogar ganz offen mit dem Stalinismus und seinen Gulags.
Dieser Vergleich der Unruhen von 2006 mit dem Aufstand von 1956 hat System. Der heute ­regierende Fidesz sieht in den von ihm unterstützten Protesten tatsächlich so etwas wie eine »nationale Revolution«, die mit dem Aufstand 50 Jahre zuvor vergleichbar sei, und für nicht wenige Völkische sind Kommunisten, Sozialde­mokraten Liberale und Juden ohnehin mehr oder minder das Gleiche. Ihrer antisemitischen Logik folgend, begehrte also in beiden Fällen das von jeglicher Schuld unbefleckte ungarische Volk ­legitimerweise gegen ein und denselben Feind auf.
Gleichzeitig ist der Bezug auf den Aufstand von 1956 aber auch als kommunikativer Akt nach außen zu verstehen. Immerhin gilt der ungarische »Volksaufstand« in weiten Teilen der Welt als legitim und die durch ihn kurzzeitig wieder an die Macht gekommene Regierung Imre Nagys als vergleichsweise progressiv. Für die völkische Rechte in Ungarns ist jedoch nicht der Kampf gegen die Diktatur der entscheidende Punkt, vielmehr wird Nagys besondere Bedeutung darin gesehen, dass er einen »nationalen und menschlichen Sozialismus« postulierte und daher für eine völkische Geschichtsdeutung vereinnahmt werden kann.
Wirklich penetrant und international im Grunde nur schwer vermittelbar ist die konsequente Relativierung der Shoa. In den Informationsblättern, die den Rundgang durch das »Haus des Terrors« begleiten, kommt sie nur am Rande vor. Der sowjetische Antizionismus – der natürlich für sich genommen ebenfalls ein Verbrechen war – nimmt im Vergleich deutlich mehr Raum ein. Ebenfalls breit ausgewalzt wird das Thema der Umsiedlungen in den Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs, die als »neue Welle kollektiver Verfolgungen« bezeichnet und sogar explizit mit der Shoa verglichen werden. Vor allem jedoch wird beweint, dass das ohnehin schon zerstückelte Ungarn durch diese erneut einen Teil seiner Bevölkerung verlor. Dass unter den Ungarndeutschen, die umgesiedelt wurden, die überwältigende Mehrheit auf Seiten der Nazis und Pfeilkreuzler gestanden hatte und somit zumindest mittelbar an schlimmsten Verbrechen beteiligt war, bleibt unerwähnt. Ein wenig könnte der Verdacht aufkommen, Erika Steinbach wäre hier als Beraterin tätig gewesen.
Überhaupt fällt auf, dass die Juden in der Wahrnehmung der Macher der Ausstellung im »Haus des Terrors« kaum eine Rolle zu spielen scheinen – es sei denn natürlich, sie waren Opfer der Kommunisten. Nirgendwo findet sich ein Hinweis darauf, dass das Haus, bevor es zum Hauptquartier der Pfeilkreuzler wurde, ein jüdisches Bürgerpalais war, und auch die Frage, wie es denn dazu kam, dass die ehemaligen Bewohner dort irgendwann nicht mehr lebten, bleibt unerwähnt. Schließlich spielt es aus Sicht des Fidesz, dessen klare Handschrift das Museum trägt, auch gar keine Rolle. Was zählt, ist allein die durch Blut und Willen verbundene un­garische Nation, und zu dieser gehören Juden genauso wie Kommunisten, Liberale, Homosexuelle, Roma oder anderweitig missliebige Elemente nun einmal bestenfalls unter Vorbehalt.