Die völkische Ideologie in Ungarn

Viktor Orbáns völkische Mission

In Ungarn ist das völkische Denken allgegenwärtig – auch in der Opposition. Die Regierung kann ihre ethnonationalistische Politik fast ungestört durchsetzen.

Seit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung, genannt Grundgesetz, am 1. Januar 2011 ist Ungarn im Prinzip keine Republik mehr, obwohl der Begriff in einem etwas versteckten Passus vorkommt. Statt der Unantastbarkeit der menschlichen Würde als Ausdruck der universellen Menschenrechte und der pluralen Demokratie steht jetzt die »Nation« beziehungsweise das »nationale Glaubensbekenntnis« im Mittelpunkt. Die erste Zeile der Präambel lautet: »Gott, segne den Magyaren!« Es handelt sich um ein Zitat aus der ungarischen Hymne, das besagt: Minderheiten zählen nichts mehr.
Die Verabschiedung des Grundgesetzes ist zwar eine tiefe politische Zäsur, doch kam diese nicht unerwartet. Die »national-konservative Revolution«, oder mit Viktor Orbáns Worten »die Revolution in der Wahlkabine«, war das Ergebnis einer seit Jahrzehnten andauernden Entwicklung nach rechts. Das völkische Denken hat seit der Vorkriegszeit Tradition, es war im Realsozialismus zu beobachten, gewann jedoch nach der Wende erheblich an Bedeutung. 2010 kulminierte diese Entwicklung schließlich in den Wahlsiegen der konsequent völkischen Parteien Fidesz und KDNP einerseits und Jobbik andererseits. Letztere steht sozusagen als Opposition der Opposition ideologisch auf der Seite der Regierung und übt einen beträchtlichen Druck auf diese aus, die völkische Politik konsequent durchzusetzen.

In den Kategorien von links und rechts zu sprechen, ist in Bezug auf Ungarn missverständlich, denn der gesellschaftliche Bruch verläuft nicht zwischen links und rechts, sondern zwischen den völkischen und den nicht-völkischen Kräften, wobei selbst ein großer Teil der Mitglieder der sozialistischen Partei MSZP und der grün-ökologischen LMP völkisch denkt, nur weniger konsequent. Das völkische Denken infiltriert die Gesellschaft seit Jahrzehnten. Selbst die verschiedenen antifaschistischen Gruppen, die zum Teil einfach die Fortsetzung ihrer realsozialistischen Vorgänger sind, propagieren »Volksgemeinschaft statt Kapitalismus« und vertreten mit ihrer antiimperialistischen, antizionistischen Haltung einen Antisemitismus von links, was ihnen jedoch nicht bewusst ist. Der Regierung und einem Großteil der Opposition gemein ist die Abwehrhaltung gegenüber dem »Kapital«, wobei das Kapital als das »raffende« und »fremde«, von außen kommende definiert wird. Auch diese Gemeinsamkeit ist den Oppositionellen nicht bewusst.
Der bewusste gemeinsame Nenner der Opposition ist die negative Einstellung zur Regierung, aber nicht die Sorge um die Demokratie. Wie im Realsozialismus meint man, gegen eine »unterdrückerische Macht« zu kämpfen und einen Klassenkampf auf Seiten der Massen zu führen. Dabei geht die Regierung einen Ethnonationalismus, der nach und nach das gesamte politische und kulturelle Leben okkupiert. Ungarn ist jetzt eine Ethnokratie: Die »national gesinnten wahren Magyaren« beherrschen und unterdrücken diejenigen, die sie als »nationale Atheisten« und nichtmagyarisch betrachten. Von einer Gleichschaltung, von einem »totalen Nationalismus« kann noch nicht gesprochen werden, weil es weiterhin Nischen für oppositionelle Aktivitäten gibt, auch dank des Internet und des massiven Drucks seitens mancher EU-Behörden und ausländischer Medien. Doch die oppositionellen Medien erreichen beinahe ausschließlich die Bevölkerung Budapests. Faktisch existiert kein landesweiter Informationsfluss mehr.
Das Geschehen wird auch in der Opposition nicht in seiner Gesamtheit begriffen. Ursache und Wirkung werden verwechselt, es herrscht die Meinung vor, »Mafia-Strukturen« würden das Land beherrschen. Auch namhafte oppositionelle Kritiker und Intellektuelle sprechen vorrangig vom »Filz-Land«. Nicht gesehen wird dabei, dass es vor allem die Ethnopolitisierung ist, die zum »Filz« führt. Die Argumentation der Opposition wird von einem ökonomistischen Reduktionismus beherrscht. Dies hängt damit zusammen, dass die Denkweise der Opposition in Ungarn noch immer der marxistischen Orthodoxie folgt, wonach die gegenwärtige gesellschaftliche Krise – im Sinne der Faschismusdefinition Dimitroffs – allein aus der Entwicklung des Kapitalismus zu erklären sei.
Was heute in Ungarn als revolutionär gilt, ist die »Erlösung der Nation« durch die »völkische Mission«. Deshalb fühlt sich Viktor Orbán als »konservativer Revolutionär«. Er meint, Europa werde vom Marxismus beherrscht – wobei Orbán, wie auch große Teile der Opposition, nur den orthodoxen Marxismus kennt. Die allgemein vorherrschende ethnische Sichtweise, zu der auch der Glaube an klar definierbare Ethnien oder »Volksgruppen« gehört, führt dazu, dass auch der Kampf gegen bestimmte Ausgrenzungsmuster den ethnischen Teufelskreis nicht durchbrechen kann. So wird allgemein mit Wohlwollen aufgenommen, wenn Orbán betont, dass er »die Juden« in Ungarn verteidigen werde. Auch die von der Regierung Orbáns 2011 verabschiedete »Roma-Strategie«, als deren Protagonist sich der neulich vom bundesdeutschen Präsidenten Joachim Gauck mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete Minister für Humanressourcen, Zoltán Balog, profiliert, wurde vom Europaparlament gelobt.

Doch statt gegen Antiziganismus und Antisemitismus vorzugehen, werden Programme zum »Judenschutz« und für die »Zigeunerpolitik« aufgelegt. Das Problem wird bei den Minderheiten ausgemacht. Dass dabei Antisemitismus und Antiziganismus nicht eingedämmt, sondern eher sogar gefördert werden, wird in Ungarn kaum gesehen, auch nicht bei der Opposition. Allein beim Thema Homophobie ist der vorherrschende Chauvinismus auch der Oppostion bewusst. Die Völkischen meinen, das Problem bei den Schwulen anpacken zu müssen, und viele von ihnen vertreten die Meinung, dass Schwulsein eine Krankheit und heilbar sei. Gábor Vida, Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, vergleicht Homosexualität mit dem Bettnässen und bezeichnet es als »Gefahr für die Menschheit«. Deshalb fühlt sich der Budapester Oberbürgermeister István Tarlós auch im Recht, wenn er immer wieder die Gay Pride in Budapest verbieten will.

Politische Propaganda funktioniert durch die Mobilisierung aggressiver Affekte gegen einen politischen Gegner oder Sündenbock. Verschwörungstheorien und kollektive Wahnvorstellungen existieren auch innerhalb der Opposition und führen zu Kollektivierungstendenzen, bei denen die Ideale der Individualität erdrückt werden. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn auch die oppositionelle oder antifaschistische Kritik von einem regressiven Antikapitalismus geprägt ist. So warf zum Beispiel neulich die größte Oppositionspartei, die MSZP, dem Ministerpräsidenten vor, er würde mit dem »Großkapital paktieren«. Noch vor einigen Monaten versprach der MSZP-Vorsitzende Attila Mesterházy, das »globale Kapital« in die Verantwortung zu nehmen. In der demokratischen Opposition gibt es kaum Kräfte, die die Konzeption der ethnischen Kulturnation dezidiert in Frage stellen und Kapitalismuskritik nicht als nationale Frage, sondern als Systemfrage begreifen.
Währenddessen wird die einzige Partei, die konsequent demokratisch und antifaschistisch ist und für universelle Menschenrechte und die plurale Demokratie eintritt, nämlich die kleine Demokratische Koalition (DK) um den ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, von den anderen Oppositionsparteien ausgegrenzt. Diese Ausgrenzung hat antisemitische Untertöne und ist äußerst hasserfüllt. Gyurcsány sagte neulich in einem Interview, ihm sei bewusst, dass ihn die »Rechten am liebsten umbringen und die Linken deportieren möchten«. Er und die DK sind das kollektive Feindbild schlechthin. Und so behauptete auch der Budapester Oberbürgermeister, dass die Mitglieder der Demokratischen Koalition »immer nur das Alte Testament« läsen.
Seit einigen Jahren ist zu beobachten, dass das kollektive Feindbild des »ewigen Juden« in Ungarn langsam von der kleinen liberalen Partei, der SZDSZ, auf die neue Partei DK übertragen wird. Dies hat wohl auch damit zu tun, dass die Liberalen seit etlichen Jahren eine nationalistische Wende durchmachen. Gegenwärtig ist zu beobachten, dass fast alle kleinen Oppositionsparteien von der tendenziell völkischen MSZP aufgesogen werden.
Interessant ist dabei der Weg der großen Hoffnung der Opposition, Gordon Bajnai, der Ministerpräsident der sozialistischen Minderheitsregierung von 2009 bis 2010 war. Bei seinem überraschenden Comeback forderte er am 23. Oktober 2012 einen neuerlichen Regierungswechsel und gründete zusammen mit der Jugendorganisation Milla (»Eine Million für die Pressefreiheit«) und einem Teil der grün-ökologischen LMP die Partei E2014 (»Gemeinsam 2014«). Dabei wird er vom völkischen Sog der Sozialisten mitgerissen. Die Popularität des Bündnisses E2014 hat schon wieder deutlich nachgelassen, wohl auch deshalb, weil die Bevölkerung merkt, dass diese Partei nichts Bahnbrechendes zu bieten hat.
Bestanden Umfragen zufolge vor einigen Monaten noch Chancen für die Opposition, die Regierung Orbáns bei den Wahlen im kommenden Jahr abzulösen, haben sich diese inzwischen verflüchtigt. Dennoch führt für die Opposition kein Weg daran vorbei, sich zusammenzuschließen.

Das verbreitete völkische Denken führt jedoch auch dazu, dass progressive Aktivisten regelmäßig zusammen mit rechten Gruppen gegen die »Machthaber« demonstrieren und dass in der Kommunalpolitik in Sachfragen »über ideologische Unterschiede hinweg geschaut« wird, wie es dann gerne heißt. Das ist die Ursache für die Zusammenarbeit der grünen LMP mit der Nazipartei Jobbik im Untersuchungsausschuss »Vetternwirtschaft von Fidesz«, und das ist auch der Grund für das gelegentliche gemeinsame Auftreten von Milla mit dem dezidiert antisemitischen Motorradclub »Goj Motorosk«. Solche Bündnisse illustriert zum Beispiel ein Foto, das Gordon Bajnai freundlich lächelnd zusammen mit einem Jobbik-Sympathisanten beim Anpacken von Sandsäcken während des Hochwassers im Frühsommer zeigt und das auf Bajnais Facebook-Seite sowie der Homepage von E2014 veröffentlicht wurde.
Es ist also nicht verwunderlich, dass in diesem politischen Klima mit der Koalition aus Fidesz und KDNP 2010 die Völkischen die absolute Mehrheit erlangten und nun die diskursive Deutungshoheit besitzen. Jetzt kann die »völkische Mission« erfüllt werden. Die neue Verfassung, das neue Mediengesetz, die Maßnahmen in der Kultur-, Bildungs- und Wirtschaftspolitik, die Judikative, die Exekutive – einfach das gesamte Handeln des Staates unterliegt völkisch-idealistischen Kategorien. Die Gewaltenteilung wird dadurch obsolet. Die neue »Integrationsstrategie« für Roma schlägt sich in Ungarn als strukturell rassistische Sozialpolitik nieder, in der nicht nur Roma, sondern auch Arme und Obdachlose kriminalisiert und ausgegrenzt werden.
Bisweilen scheint es, die ungarische Regierung könne Europa doch auf der Nase herumtanzen. So wie Minister Balog vor kurzem die »liebevolle Segregation« für Roma in Aussicht gestellt hat, sprach in diesen Tagen der Parlamentspräsident László Kövér von einem geplanten »nicht im negativen Sinne gemeinten Ermächtigungsgesetz«.