Ethnonationalistische Kulturpolitik

Wer braucht schon Niveau?

Die ungarische Kultur soll der ethnonationalistischen Regierungspolitik dienen. Ein Qualitätsverlust wird in Kauf genommen, die Isolierung von Europa sogar befürwortet.

Die Diskussion darüber, ob Ungarn in den vergangenen drei Jahren ein Mafiastaat geworden sei und ob sich dieser Staat in Richtung Faschismus bewege, wird in Ungarn lebhaft geführt. Eines ist sicher: Ministerpräsident Viktor Orbán, der seine politische Karriere als liberaler Atheist begonnen hatte, hat eine radikale Wandlung zu einem proklerikalen Blut-und-Heimatboden-Politiker durchgemacht. Ob er wirklich glaubt, was er da verkündet, oder ob er die ethnona­tionalistische Ideologie nur zum Zweck des Machterhalts instrumentalisiert, wie die meisten Kritiker vermuten, ist Gegenstand heftiger Debatten.
Gegenstand des von Orbán herbeiphantasierten »nationalen Freiheitskampfes« ist auch die Kultur, der nicht mehr die gleiche Autonomie wie nach der Wende gewährt wird. Sie soll ein Mittel der Politik werden – vergleichbar mit der Zeit des Stalinismus in Ungarn zwischen 1949 und 1956. Das geht einher mit maximalen Eingriffsrechten des Staats oder seiner Beauftragten. Fähigkeit und Talent zählen in der Regel nicht mehr. Parteisoldaten werden bevorzugt.
Allerdings reihen sich die bekannten Schriftsteller Ungarns nicht in die vorgegebene »nationale Einheit« ein und wenn einer wie György Konrád seine jüdische Identität nicht verleugnen, wird er ausgegrenzt. György Fekete, der Präsident der ungarischen Kunstakademie, bemerkte Ende vorigen Jahres höhnisch: »Auch einen György Konrád betrachtet das Ausland als Ungarn.« Das heißt: Ein »Landesverräter« und Jude könne nur in fremden Augen als Ungar erscheinen.
Fekete, ein künstlerisch unbedeutender, politisch extrem weit rechts stehender Innenarchitekt, verfügt über Milliarden Forint an Subventionen, die der Staat durch die obskure Kunstakademie verteilen lässt. Diese Akademie ist eine private Einrichtung, die die gleichen Rechte erhalten hat wie die international anerkannte Ungarische Akademie der Wissenschaften. Dem bedeutenden Schriftsteller Konrád, der in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag feierte, hat das offizielle Ungarn nicht gratuliert, als ob es dokumentieren wolle, dass er von den Machthabern nicht als Ungar wahrgenommen wird.
Der ungarische Philosoph Sándor Radnóti bemerkte in seinem Artikel »Kalter Bürgerkrieg in Ungarn« dazu: »Der Herr Präsident hat Konráds Ungartum in Abrede gestellt und ihn damit als Juden abgestempelt. Die Unterscheidung zwischen Ungar und Nicht-Ungar erfuhr plötzlich eine entscheidende Bedeutung. Den Vorgang könnte man mit den Begriffen von Carl Schmitt beschreiben: Aus dem politischen Raum und der öffentlichen ›Wortmeldungswelt‹ wurde ein freund- und feinderkennendes System. Die ungarische Gesellschaft hat nach alledem innere Feinde. Und deren subversive ›Wühlarbeit‹ ist dafür verantwortlich, dass die Orbán-Regierung international ungünstig beurteilt wird.«
Ähnlich wie Konrád erging es dem ungarischen Literaturnobelpreisträger Imre Kertész. Im Bericht der ungarischen öffentlich-rechtlichen Fernsehnachrichten zum Besuch Orbáns in Berlin im Oktober 2012 wurde er als »Schriftsteller ungarischer Herkunft« bezeichnet. Die Formulierung »ungarischer Herkunft« ist eine Chiffre für »jüdisch«, die impliziert, dass Kertész als Jude kein Ungar sei.
Damit Klarheit herrscht, welche Schriftsteller im heutigen Ungarn bevorzugt werden, hat man den Pfeilkreuzlerpolitiker József Nyirö rehabilitiert. Er wurde ebenso wie der Blut-und-Boden-Schriftsteller Albert Wass (Jungle World 24/2012) und die antisemitische Schriftstellerin Cecile Tormay in den nationalen Lehrplan aufgenommen. 49 Denkmäler für Wass wurden in letzter Zeit aufgestellt, und dabei wirkte auch der ungarische Ministerpräsident mit. Ungarns Staatspräsident János Áder zitierte in seiner Antrittsrede auch Wass. Dies wird in Ungarn als eine Taktik der Fidesz-Politiker gesehen, um rechtsextreme Wähler zu befriedigen. Die ideologischen Übergänge zwischen Fidesz und Jobbik sind fließend und immer öfter sind Unterschiede nicht einmal mehr feststellbar. In den von Fidesz kon­trollierten Medien Echo TV, der Tageszeitung Magyar Hirlap und dem Magazin Demokrata werden Inhalte publiziert, die so in Österreich oder Deutschland nur von Neonazis propagiert werden.
Gerade auf dem Gebiet der Kultur verwirklicht die im Parlament über eine Zweidrittelmehrheit verfügende Fidesz-KDNP einige Initiativen der nazistischen Partei Jobbik. So wurde das Neue Theater in Budapest dem rechtsextremen Schauspieler György Dörner und dem inzwischen verstorbenen antisemitischen Politiker István Csurka, der sich während der Kádár-Periode nach der Niederschlagung des ungarischen Aufstands einen Namen als Dramatiker gemacht hatte, übergeben. Dieses Theater wurde von Dörner, der zuvor großspurig erklärt hatte, er wolle mit der »krankhaften liberalen Hegemonie« aufräumen und »der liberalen Anspruchslosigkeit der Unterhaltungsindustrie den Krieg erklären«, an den Rand der Pleite geführt. Im Oktober 2012 war das Neue Theater zu zwölf Prozent und im folgenden Monat zu 16 Prozent ausgelastet.
Eine ganz andere Bedeutung hat das Budapester Nationaltheater, das seit 2008 von Róbert Alföldi erfolgreich geleitet wurde. Sein Vertrag lief Mitte dieses Jahres aus, zum neuen Direktor wurde Attila Vidnyánszky ernannt. Imre Kerényi, vom Ministerpräsidenten ernannter »Sonderkommissar für die Förderung des Rechtsbewusstseins und des nationalen Kulturerbes«, beeilte sich zu erklären: »Ich meinerseits vertraue sehr darauf, dass Herr Vidnyánszky das tun wird, was die Heimat von ihm verlangt, (…) er wird das Nationaltheater leiten, das genauso erfolgreich wie unter Alföldi sein wird, es wird nur nicht um Schwuchteln gehen, sondern um die Liebe, um die Freundschaft und die Treue.«
Vidnyánszky überging diese anzügliche Bemerkung Kerényis und protestierte nicht. Doch diesmal war das sogar einigen regierungstreuen Zeitungen zu viel. Zu offensichtlich wurde, dass Ungarn damit einen europäischen Mindeststandard verletzte. Vidnyánszky ist der einzige talentierte Theatermacher, der Fidesz zur Verfügung steht. Weil sein Stil den meisten Kritikern in der Hauptstadt nicht gefiel und er nicht die Anerkennung fand, die er erhoffte, orientierte er sich nach rechts.
Vidnyánszky erklärte in seiner ersten Rede vor seinen Mitarbeitern, auf die Arbeit von Róbert Alföldi anspielend, die auf Provokation gründende Kunst hätte keine Zukunft, weil sie feige sei. »Wie oft muss man noch das Christentum und die Pfarrer schmähen und Hymnen singen über die Andersartigkeit für ein gutes Theater?« Vidnyánszky versprach: »Das Nationaltheater wird sich von Europa isolieren und damit Achtung erringen.«
Mit seiner letzten Inszenierung »Mephisto« hatte Alföldi zuvor einen großen Erfolg gefeiert, das Publikum verabschiedete ihn mit stehenden Ovationen, was einer politischen Demonstration gleichkam. Die Wahl des Stücks war nicht zufällig und die Parallelen zur Kulturfeindlichkeit der Nazis waren offensichtlich.
Auch die Filmindustrie soll dem »nationalen Freiheitskampf« dienen. Nach der Wende wurde ein kompliziertes, aber gut funktionierendes System zu ihrer Unterstützung geschaffen. Die öffentlich-rechtliche Staatliche Stiftung für Filmföderung (MMKA) überlässt es den Fachgremien zu entscheiden, welche Filme unterstützt werden. Dem zu verdanken ist der mit Beginn des 21. Jahrhundert einsetzende Aufschwung der Filmindustrie, der in der ganzen Welt anerkannt wurde. Ungarische Filme wurden wieder auf wichtigen Filmfestspielen ausgezeichnet.
Die neue Fidesz-Regierung beschuldigte die MMKA der Korruption, konnte aber bislang keinen Beweis dafür vorbringen. Stattdessen gründete die Regierung eine neue Organisation, die Nationale Ungarische Filmstiftung (MNFA), zu deren Chef der ehemalige Hollywood-Filmproduzent Andrew Vajna ernannt wurde, nicht gerade ein Freund der Werte der ungarischen und europäischen Filmkultur. Arthouse-Kinos wurden geschlossen, anspruchsvolle Filmzeitschriften liquidiert oder an den Rand der Pleite getrieben. Während der zwei Jahre seit der Schaffung der MNFA ist kein einziger ungarischer Spielfilm in die Kinos gekommen, den die MNFA voll oder teilfinanziert hätte. Und man weiß auch nicht, wo das Geld für die Filmfinanzierung geblieben ist.
Bereits vor zwei Jahren protestierten die namhaften ungarischen Regisseure Ildikó Enyedi, Benedek Fliegauf, Szabolcs Hajdú, Miklós Jancsó, Ágnes Kocsis, Márta Mészáros, Kornél Mundruczó, György Pálfi und Tarr Béla gegen die Abschaffung der Autonomie der Filmindustrie und erhielten auch Unterstützung von prominenten ausländischen Regisseuren wie Theo Angelopulos, Andrzej Wajda, Hanna Schygulla, Atom Egoyan, Michael Haneke, Gus Van Sant und Aki Kaurismäki. Die ungarische Regierung ließ sich davon nicht beeindrucken.
Sich von Europa zu isolieren, begeistert einige wenige am rechten Rand der europäischen Gesellschaften, doch Erfolge auf dem Gebiet der Kultur sind so nicht zu erreichen. Die Regierung setzt, wo sie es als nötig erachtet, Einschüchterung und Desinformation ein. Bald werden wir erfahren, schreibt Sándor Radnóti, »ob Orbáns Plan von Erfolg gekrönt wird und ob sich Ungarn als ein ähnlich langweiliges, provinzielles, schlechtgelauntes, niederträchtiges und autokratisches System entpuppt, wie es in den meisten langen Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen war«. Hoffentlich tritt dieser Fall nicht ein.