Wie die europäische Krisenpolitik die Menschen verarmen lässt

Armutsrisiko Krisenpolitik

Ein Bericht der Hilfsorganisation Oxfam weist darauf hin, dass das Armutsrisiko in Europa aufgrund der Krisenpolitik steigt. Die Verarmung wird als notwendig hingenommen.

Vom Treffen der EU-Finanzminister im litauischen Vilnius Mitte September wird, wenn überhaupt, nur der hochrote Kopf des sichtlich erregten französischen Finanzministers Pierre Moscovici in Erinnerung bleiben. »Hört auf mit dieser Art von ›Frankreich-Bashing‹, als wären wir der kranke Mann Europas«, rief er seinen europäischen Kollegen und den Verantwortlichen der EU-Institu­tionen zu und verwies auf die zuletzt von der Regierung durchgesetzten Maßnahmen. Moscovicis Ausbruch ausgelöst hatte offensichtlich EU-Währungskommissar Olli Rehn, der zu Beginn des Treffens die französische Regierung zu weiteren Reformen aufgerufen hatte. Es sei noch eine Menge zu tun, »um nachhaltiges Wachstum und neue Jobs zu schaffen«, sagte Rehn ausdrücklich auch im Namen der gesamten EU-Kommission. Die Regierung werde »das Reformtempo erhöhen müssen«, um die Wettbewerbsfähigkeit Frankreichs zu stärken, hatte bereits einen Tag zuvor Jörg Asmussen, das deutsche Mitglied im Direktorium der Europäischen Zentralbank (EZB), zur Börsen-Zeitung gesagt. Zwar seien die allesamt in diesem Jahr in Kraft getretenen gesetzlichen Regelungen, wie die Erhöhung der Rentenbeiträge, die Lockerung des Kündigungsschutzes, die Einführung von Kurzarbeit, Stellenstreichungen im Öffentlichen Dienst und die Haushaltseinsparungen von insgesamt 15 Milliarden Euro für das kommende Jahr, in die »richtige Richtung« gegangen, aber eben »nicht weit genug«, so Asmussen.

Zufriedener zeigten sich die Verantwortlichen in der EU dagegen mit der Entwicklung in anderen Teilen Europas. Wie es dort konkret aussieht, hat ein Mitte September veröffentlichter Bericht der Hilfsorganisation Oxfam enthüllt. Unter dem Titel »Ein abschreckendes Beispiel: Europas bittere Krise der Armut und Ungleichheit« werden hier die sozialen Folgen des EU-Krisenregimes untersucht. Darin heißt es: »Bereits Ende des vergangenen Jahres waren mehr als 24 Prozent der Bevölkerung in Europa, d. h. 121 Millionen Menschen, von Armut bedroht. Wir gehen davon aus, dass die Zahl um bis zu 25 Millionen bis zum Jahr 2025 steigen könnte, wenn die Sparpolitik nicht beendet und ein anderer Kurs eingeschlagen wird.« Laut Oxfam erinnerten die europäischen Sparmaßnahmen an die »Strukturanpassungsprogramme« des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Ländern Lateinamerikas, Südostasiens und Afrikas in den achtziger und neunziger Jahren.
Die auffälligste Folge des Krisenregimes sei, wie eben in den genannten Programmen, die Verstärkung sozialer Ungleichheit in den Gesellschaften. »Griechenland, Irland, Italien, Portugal, Spanien und Großbritannien – Länder, die bei den Sparmaßnahmen am aggressivsten vorgegangen sind –, werden bald die Länder mit der größten Ungleichheit in der ganzen Welt sein«, heißt es in dem Bericht. Anlässlich der Vorstellung der Untersuchung zog Natalia Alonso, Leiterin des EU-Büros von Oxfam, Vergleiche mit den Ländern mit der am wenigsten gleichmäßigen Vermögensverteilung: »Die Kluft zwischen Arm und Reich in Großbritannien und Spanien könnte bald genauso groß sein wie im Südsudan oder Paraguay.« Auch wenn dieses Szenario übertrieben sein dürfte, so haben EU-weit lediglich die reichsten zehn Prozent vorbehaltlos von der Politik der vergangenen Jahre profitiert. In allen europäischen Staaten konnten sie ihren Anteil am Gesamtvermögen steigern: In Deutschland in den vergangenen Jahren um jährlich ein Prozent auf deutlich über 60 Prozent; und sogar in Griechenland stieg der Gesamtvermögensanteil der 2 000 reichsten Familien von etwa 75 auf über 80 Prozent.
Auf der anderen Seite prägen sinkende Reallöhne und Arbeitslosigkeit die Lebensrealität des nicht privilegierten Teils der Bevölkerung in den Krisenstaaten. »Eine von zwei Arbeiterfamilien dort ist direkt von dem Verlust des Arbeitsplatzes oder der Reduzierung der Arbeitszeit betroffen«, heißt es im Oxfam-Bericht. Die Arbeitslosenquote in der EU ist seit 2008 von 7,1 auf 11,1 Prozent gestiegen, im Euroraum gar von 7,6 auf 12,1 Prozent. Rekordhalter ist Zypern, das in den vergangenen fünf Jahren mehr als eine Vervier­fachung der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen hatte. Die Quote auf dem Inselstaat stieg in dem Zeitraum von 3,9 auf fast 17 Prozent. In Spanien und Griechenland haben sich die Werte seit 2008 ­jeweils auf über 26 Prozent verdreifacht. Die Jugendarbeitslosigkeit erreicht in beiden Ländern Werte von über 50 Prozent. Die Einsparungen bis hin zu kompletten Streichungen bei Arbeitslosenunterstützungen, Renten und öffentlichen Dienstleistungen – in Griechenland sollen nur noch 40 Prozent der Bevölkerung einen uneingeschränkten Zugang zum Gesundheitssystem haben – ergeben ein düsteres Bild brutaler Verarmung, das durch die Lohnentwicklung in Europa ergänzt wird.

In 16 von 27 EU-Ländern sind die Löhne laut dem Europäischen Tarifbericht der DGB-nahen Hans-Böckler-Stiftung im vergangenen Jahr gesunken. In Großbritannien und Portugal beispielsweise sanken zwischen 2010 und 2012 der Oxfam-Studie zufolge die Reallöhne, also der reale Wert der Löhne, um mehr als 3,2 Prozent, und fielen damit auf das Niveau von 2003 zurück. Italien, Spanien und Irland verzeichneten in diesem Zeitraum ebenfalls einen Rückgang, wobei Griechenland mit einem durchschnittlichen Einbruch der Reallöhne von mehr als zehn Prozent den Spitzenplatz belegt. Umso dramatischer sind diese Zahlen, wenn man bedenkt, dass das Lohngefälle immer größer wird, da die unteren Lohngruppen überproportional starke Einschnitte hinzunehmen hatten. Der Niedriglohnsektor, definiert durch Löhne, die weniger als zwei Drittel des mittleren Lohns eines Landes betragen, wird in Europa nach deutschem Vorbild überall ausgebaut. Hierzulande arbeitet mittlerweile fast jeder Vierte für Niedriglöhne. Während in Osteuropa die Quoten überwiegend noch höher sind, wird dieser Sektor in allen westeuropäischen Staaten derzeit nach dem Vorbild der »Agenda 2010« ausgebaut. In vielen Ländern wurden dafür die Mindestlöhne gesenkt, in Griechenland im vergangenen Jahr um ganze 22,5 Prozent und in Portugal auf weniger als drei Euro pro Stunde.
Während in Deutschland und Schweden die Lohnquote, der Anteil der Löhne am Bruttoinlandsprodukt, schon in den vergangenen 20 Jahren von 71 auf 64,2 beziehungsweise von 76,2 auf etwas über 64 Prozent fiel, müssen die weniger wettbewerbsfähigen Staaten dies nun in kürzerer Zeit nachholen. Die Lohnentwicklungen, genauer gesagt ihr Verhältnis zur Produktivität, die Lohnstückkosten, wurden in allen EU-Konzepten von der Lissabon-Strategie über den »Euro-Plus-Pakt« bis hin zum Zehnjahresplan der Agenda »Europa 2020« zum zentralen Instrument für die Wiedergewinnung der Wettbewerbsfähigkeit erklärt (Jungle World 18/2012). Die Verarmung ist dabei ein notwendiger und gewünschter Kollateralschaden, um Menschen in immer schlechter bezahlte Arbeit zu drängen.
Die Kritik an der französischen Regierung geht auf diese Strategie zurück. Die zweitgrößte Volkswirtschaft des Euroraumes war in den vergangenen beiden Jahren die einzige innerhalb der EU, in der der Einkommensanteil der reichsten zehn Prozent gegenüber dem ärmsten Zehntel gesunken ist, und auch die Lohnquote ist stabil geblieben. Mit solch halbherziger Verarmung wollen sich die Herrschenden der EU beim Kampf um den »wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt« (Lissabon-Strategie) trotz aller Reformen der Präsidentschaft François Hollandes nicht mehr länger zufrieden geben.