Die Entpolitisierung der Politik durch deutsche Politiker

Bloß nicht festlegen

Das Desaster der EU-Flüchtlingspolitik, NSU, Energiewende – an politischen Themen mangelt es nicht. Doch lieber betreiben die deutschen Staatsakteure die Entpolitisierung der Politik.

Gut zwei Wochen nach der Bundestagswahl hat sich eine lähmende Ruhe über das Land gelegt. Der politische Diskurs ist mindestens scheintot. Gibt es keine Probleme mehr, keine Gegensätze, keine Konflikte? Träge plätschern die Gespräche zwischen den Parteien dahin. Immer wieder wird man mit belanglosen Meldungen behelligt: wie die Stimmung war, wer zu wem passt und dass im Grunde jeder mit jedem koalieren könne, was übrigens schon deshalb naheliegt, weil der Bestand an brauchbarem politischem Personal notrationsähnliche Dimensionen angenommen hat. Man fragt sich, wozu überhaupt gewählt wurde. Richtig: um die FDP rauszuschmeißen. Sie war das Problem, und das wurde gelöst.
Ganz so einfach ist die Antwort natürlich nicht. Aber die Frage ist ernst gemeint. Abgesehen von ein paar vagen Stichworten – Steuererhöhung? Bildung? Mindestlohn? Infrastruktur? Europa? PKW-Maut? – tun die Parteien so, als ob ihnen die politischen Themen abhanden gekommen seien. In Wirklichkeit ist es eher umgekehrt. Der Weg in die politische Zukunft ist mit so vielen Tretminen gepflastert, dass die Akteure und Akteurinnen sich nur noch mit größter Behutsamkeit bewegen und am liebsten zu Hause bleiben möchten. Bloß keinen Fehler machen, bloß nichts sagen, was als Festlegung interpretiert werden kann, bloß keine schlafenden Hunde wecken. Der deutsche Michel ist damit zufrieden, entspricht es doch seiner eigenen Mentalität. Er wünscht sich eine Große Koalition, damit alle Ruhe geben. Das eine kann er kriegen, das andere aber nicht.

Fangen wir mit dem Aktuellsten an. Vor Lampe­dusa ertrinken Flüchtlinge. Die Küstenwache leistet keine Hilfe: Die Behörden wollen Europas Grenzen schützen, nicht bei ihrer Überwindung helfen. Die Überlebenden werden interniert und angeklagt. So geht das seit mehr als einem Jahrzehnt. Die EU verweigert das Menschenrecht auf Asyl, weil diejenigen, die es in Anspruch nehmen wollen, europäischen Boden gar nicht erst betreten können. Nachdem selbst der Uno-Flüchtlingsbeauftragte die EU kritisiert hat, will die Bundeskanzlerin »etwas tun«. Wie das aussehen soll, konkretisiert ihr Innenminister: Ausbau der europäischen Grenzschutzorganisation Frontex und noch wirksamere Abschottung gegen Flüchtlinge.
Das ist nur die eine Seite des Problems. Die Flüchtlingspolitik der EU ist so konstruiert, dass das doing, wie man heute sagt, das »operative Geschäft«, bei den südeuropäischen Ländern liegt, obwohl sie zumeist doch gar nicht das Ziel der Flüchtlinge sind, sondern nur das Eingangstor. Dies gibt den in Griechenland, Italien, Spanien, Portugal, auf Zypern und Malta agierenden faschistischen Parteien und Terrorgruppen einen unerschöpflichen Vorrat für ihre Demagogie. Für sie ist das die optimale Mischung: Sie hetzen gegen Europa, gegen die Globalisierung, den reichen Norden, die Fremdbestimmung, und toben gleichzeitig ihren Rassismus aus. Die EU habe sie in die Wirtschaftskrise gestürzt und erwarte von ihnen auch noch, Afrikaner, Araber und Kaukasier aufzunehmen, bis die Nation ganz kaputt ist! Wie das funktioniert, kann man am Beispiel der griechischen »Goldenen Morgenröte« (GM) studieren. Oder bei Hitler nachlesen, denn von dort hat es die GM ja übernommen.
Nachdem der GM nahestehende Reservisten auch noch die Perspektive eines Militärputsches ins Spiel gebracht hatten, handelte endlich die griechische Justiz und stellte über 30 Haftbefehle aus. Sie hat einen Schritt nach vorn gemacht, dann wieder einen zurück und wieder einen nach vorn. Die Sache ist also offen, was für ein rechtsstaatliches Verfahren normal ist, aber nicht für eine Athener Regierung, der man mit einem Putsch gedroht hat. In dieser Situation verweist die GM auf den Front National (FN) in Frankreich; man mache doch nur das Gleiche wie die Freunde vom FN und der sei in Frankreich wohlgelitten. Ist das nur ein unverschämtes Ablenkungsmanöver? Oder ein treffendes Argument? Tatsächlich wurde nicht nur in Athen, sondern vor einem Vierteljahr auch in Paris ein junger Antifaschist von Faschisten erschlagen, ohne dass Marine Le Pen dadurch in politische Bedrängnis kam.

Das nächste treffende Argument der Goldenen Morgenröte, oder von wem auch immer, warten wir gar nicht erst ab, sondern bringen es selbst auf den Tisch: Richtig ist auch, dass von deutschen Nazis in den vergangenen 20 Jahren mehr Menschen ermordet wurden als von griechischen. Deswegen sitzen hierzulande gerade mal vier Per­sonen in U-Haft; zu Unterstützungshandlungen der NPD bei dieser Mordserie gibt es nicht einmal Ermittlungen. Erklärtermaßen bereitet der Bundesrat einen Verbotsantrag gegen die NPD vor. Der Bundestag wollte daran nicht teilnehmen, weil die FDP in der schwarz-gelben Koalition ihr Veto einlegte. Dieses Hindernis gibt es jetzt nicht mehr. Auch die Frage der Fortsetzung der Arbeit des NSU-Untersuchungsausschusses steht auf der Tagesordnung. Man kann ja mal daran erinnern. Es gibt Menschen, denen das wichtiger ist als die Sympathien zwischen Frau Angela Merkel und Herrn Sigmar Gabriel oder die Animositäten zwischen Horst Seehofer und Jürgen Trittin.
Um es gleich zu sagen: Kein Mensch braucht einen zweiten stümperhaften Verbotsantrag nach dem Vorbild Otto Schilys. Ebenso braucht kein Mensch einen Innenminister, der sich – auch nach dem Vorbild Schilys – blind auf die Geheimdienste verlässt und das Problem mit bürokratischen Reformen eher vergrößert als verringert. Was wir brauchen, sind Antworten auf Fragen wie diese: Lassen wir Rassismus in Europa zu? Verschaffen wir ihm mit einer selbst rassistischen Flüchtlingspolitik einen Nährboden? Wie gehen wir mit Rassisten und Nazis um? Wie gehen wir mit der Affinität der Sicherheitsbehörden und des Militärs zu rechtsradikalen Ideologien um? Gibt es hierzu ein Signal aus dem Ursprungsland des Nationalsozialismus? Kann ein solches Signal nicht nur in Griechenland, sondern auch in Österreich und Bayern (PKW-Maut für Ausländer!) empfangen werden?
Vernunftbegabte Menschen werden von einer Regierung kaum erwarten, dass sie die richtigen Antworten darauf findet. Es geht hier also mehr um die Agenda einer demokratischen Öffentlichkeit in dieser Legislaturperiode, die vielleicht das Glück hat, in einigen Abgeordneten Bündnispartner zu finden.
Bei vielen anderen Vorhaben, deren Realisierung zum Teil schon lange versprochen wurde, sei es die Regulierung des Arbeitsmarkts, die Einführung eines Mindestlohns, entschiedene Maßnahmen zur Verbesserung des Bildungswesens, Fortschritte bei der Einführung der erneuerbaren Energien, hören wir wieder den Standardspruch nach jeder Wahl: Sie stehen unter dem Finanzierungsvorbehalt. Interessant ist immer, wo es diesen Vorbehalt nicht gibt. Barack Obama stellte in der jüngsten US-Haushaltskrise als erstes klar, dass das Militär von der Sperrung der Mittel ausgenommen sei. So darf auch die Bundeswehr auf Kontinuität und Planungssicherheit hoffen, selbst wenn Trittin Verteidigungsminister würde. Bei den Geheimdiensten ist das Schmerzenswort gänzlich unbekannt, sogar beim Verfassungsschutz. Wenn man nur alle Versager entlassen und alle NPD-Sym­pathisanten im Staatsdienst mit Berufsverbot belegen würde, dann hätte man schon einige tausend Stellen gewonnen, die man mit Lehrern besetzen könnte. Und die Verfassung wäre wesentlich besser geschützt.

Bei der Energiewende gibt es keinen Finanzierungsvorbehalt, weil man die geniale Lösung gefunden hat, die Bürger mit Strompreisen, die­ a priori nur steigen können, zur Kasse zu bitten. Auf diese Weise facht man mit tatkräftiger Unterstützung der Boulevardmedien systematisch den Ärger der Bürgerinnen und Bürger an. Die Hoffnung gleichzeitig die letzte Chance der Atomkonzerne ist natürlich, dass die Bild-Zeitungsleser darüber allmählich Fukushima und Tschernobyl vergessen. Alle Parteien haben versprochen, ­­die Energiewende irgendwie besser zu handhaben, aber das Konstrukt an sich tastet keiner an. Die Autoren des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) heißen ja auch nicht Merkel und Norbert Röttgen, sondern Gerhard Schröder und Trittin.
Dabei wird hier buchstäblich alles auf den Kopf gestellt. Die Bedenken, die gegen die Energiewende ursprünglich vorgebracht wurden, lauteten, man könne nicht mit Windrädern und Solarzellen acht Atomreaktoren ersetzen. Dafür brauche man viel mehr Zeit und Geld – und zwar gerade jenes Geld, das die Nuklearenergie erwirtschafte (die gleiche Argumentation wird heute von der französischen Regierung bemüht). Zwei Jahre später wissen wir, dass nicht nur die Stilllegung von acht Reaktoren möglich war, sondern dass es im Gegensatz zur beschworenen Energieknappheit eine Überproduktion von Strom gibt. Folglich müsste nach den Regeln der Marktwirtschaft der Strompreis fallen, und weitere Atomkraftwerke könnten heute schon nicht mehr rentabel betrieben werden. Die Energiewende ist ein voller Erfolg und ein internationales Vorzeigeprojekt! Gerade deswegen soll sie gebremst und zerredet werden. Die Produktionsverhältnisse hemmen die Entwicklung der Produktivkräfte – ein klassisches Beispiel für »Das Kapital«, 130 Jahre nach Karl Marx.
Gelegentlich findet man Hintergrundartikel, in denen dieser Sachverhalt tatsächlich erörtert wird. Dabei ist er absolut vordergründig. Die hohen Strompreise zahlen wir nicht für das Wachstum der erneuerbaren Energien, sondern für die Aufrechterhaltung des Betriebs überflüssiger, schädlicher und gefährlicher Atomkraftwerke. Die Energiewende enthielt wie schon der rot-grüne »Atomausstieg« eine Bestandsgarantie für die Meiler. Der nächste (Grafenrheinfeld) darf frühestens in zwei Jahren und der letzte (Neckarwestheim, ausgerechnet) frühestens in neun Jahren abgeschaltet werden. Daran fühlen sich erstaunlicherweise auch die Oppositionsparteien gebunden, während Schwarz-Gelb vor drei Jahren kein Problem damit hatte, eine Laufzeitverlängerung zu beschließen. Warum fordern nicht einmal die Grünen eine Laufzeitverkürzung? Sie agieren, als gäbe es Schwarz-Grün schon seit einiger Zeit und verbreiten den Eindruck, als wollten sie auf keinen Fall aus der Reihe scheren. Aber bei wem stehen sie denn im Wort und mit was? Das wüsste man gerne von einer Partei, die angeblich transparent sein möchte.
Schließlich gibt es einen nicht unbedeutenden Politiker, der zurzeit mucksmäuschenstill hält und für die Dauer der Koalitionsbildung auf Tauchstation gegangen ist. Ihn wollen wir natürlich nicht übersehen. Um es mit einem bekannten europäischen Trainersatz auszudrücken: Was er­lauben Öttinger? Spielen wie Flasche leer! Der deutsche EU-Kommissar bekämpft nicht nur ­offen die Energiepolitik seines Entsenderlandes, er wartet auch mit populistischen Sprüchen ­gegen südeuropäische Länder auf, die mit seinem Amt unvereinbar sind. Wenn dieser Mann weiterhin Deutschland in Brüssel vertritt, dann kann man die Europa-Politik ohnehin in die Tonne treten. Dann wäre die AfD zwar an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. Aber sie würde trotzdem zur Koalition gehören.