Wohnungsbau ist zu profan

Der Raum ist aus

Das Tempelhofer Feld in Berlin ist eine einzigartige städteplanerische Gelegenheit, die nicht planlos verbaut werden sollte.
Von

In Berlin sammelt eine Bürgerinitiative Unterschriften für ein Volksbegehren. »100 Prozent Tempelhofer Feld« nennt es sich, weil die Bürgerini­tiative 100 Prozent, also die gesamte Fläche jenes Feldes, so wie es heute ist, erhalten möchte. Und wie ist es heute? Eine öde, fast baumlose Brachlandschaft, die die Berlinerinnen und Berliner dennoch höchst vielfältig zu nutzen wissen, zum Drachensteigenlassen, Skaten, Urban Gardening und Grillen etwa. Es geht um 380 Hektar. Ja, unfassbare 380 Hektar umfasst das Tempelhofer Feld, sprich das Loch im Stadtplan Berlins. Ein Hektar sind 10 000 Quadratmeter, das Tempelhofer Feld ist also 3,8 Quadratkilometer groß. Und es liegt nicht irgendwo am Stadtrand oder in der Brandenburger Pampa, nein, es liegt mitten in Berlin. Mitten in einer der angesagtesten Städte der Welt. Im Herz der Metropole: ein großes Nichts, eine Leerstelle. Oder um es positiv auszudrücken: ein Raum, eine Gelegenheit, vielleicht sogar die größte städteplanerische Gelegenheit der Welt.
Was könnte man nicht alles damit anstellen! 71 Cheopspyramiden ließen sich dort errichten oder 6,5 Reichsparteitage gleichzeitig neben einander abhalten. In neun Vatikanstädten könnten neun Päpste regieren, ohne sich in die Quere zu kommen – räumlich, versteht sich. Man könnte auch einen Staat gründen, vielleicht ein kleines Steuerparadies. Das Fürstentum Monaco ist nur 202 Hektar groß und dort leben 36 000 Menschen, es gibt dort zehn Stadtviertel, einen Hafen, einen Fürstenpalast, einen Bischofssitz und bekanntlich finden sogar Formel-1-Rennen dort statt, es gibt weder Staatsverschuldung noch Arbeitslosigkeit. Wäre so etwas nicht ulkig, zwischen Tempelhof, Kreuzberg und Neukölln?

Es gab auch realistischere Pläne: Etwa, einen ein Kilometer hohen Berg dort hinzusetzen. Mit allem drum und dran, Seilbahn und Gipfelkreuz. Oder wie wär’s mit einem riesigen Badesee, größer als der Große Wannsee, rundherum Strand? Warum nicht auch einen dichten Wald, eine zusätzliche »grüne Lunge« für Berlin? Nicht, dass Berlin dies unbedingt benötigte, aber schön wär’s schon, mit Rehen und Wildschweinen, vielleicht sogar Elchen, wenn man sie dort ansiedeln würde. Und mitten im Wald ein idyllisches Künstlerdorf im Hobbit-Stil, wo Künstler mit Kreativstipendium ein Jahr umsonst leben und arbeiten dürfen, oder mit lauter von freakigen Architekten kons­truierten Baumhäusern voller Hightech-Ausstattung. Spannend wäre auch eine Science-Fiction-Stadt: hoch in den Himmel ragende gläserne, mit Bäumen bewachsene Hochhäuser, und statt Bürgersteigen gibt es elektrische Laufbänder. Oder alle Häuser werden ökologisch aus recycelten Eierkartons hergestellt und aus den Wasserhähnen der Wohnungen fließen Kaffee und Wein. Ach! Man könnte stundenlang weiterspinnen, was alles mit so einem einmaligen Raum getan werden könnte. Stattdessen wird über profane Dinge wie Wohnungsbau diskutiert.

Nun gut. Wohnungen werden benötigt, also lasst uns dort Wohnungen bauen, einen ganzen Stadtteil meinetwegen, mit schicken Lofts für die Reichen, angenehmen, modernen Sozialbauten für die Ärmeren, oder auch umgekehrt, mit Kneipen, Büros, Theatern, Kinos, Sport- und Spielplätzen, Sozialzentren, Altenheimen, Supermärkten, halblegalen Technoclubs, Spätverkäufen, einem Rotlichtviertel und Drogenumschlagplätzen – na eben allem, was zu einem lebendigen Stadtteil so dazugehört. Aber nein, so ist es nicht vorgesehen.
Zwar wirbt der Senat mit dem Slogan »Tempelhofer Freiheit« und dem fancy Versprechen: »Freiraum für die Stadt von Morgen. In Tempelhof entsteht ein moderner Park mit neuen Stadtquartieren an seinen Rändern«. Doch wer Berlin kennt und sich die unambitionierten Pläne anschaut, die bislang vorliegen, der weiß genau, was da in Wirklichkeit vor sich geht: Es wird hier am Rand ein bisschen was gebaut und dort am Rand ein bisschen was. Und so wird dann nach und nach der ganze wertvolle innerstädtische Raum vollgekleckert, ohne jedes Konzept, ohne Sinn und Verstand. Und dann ist er weg, der schöne »Freiraum«, und mit ihm die Möglichkeiten, die er heute noch bietet, und die »Stadt von morgen« wird das städtebauliche Desaster von Gestern sein.
Wenn nun engagierte Bürger »100 Prozent Tempelhofer Feld« fordern, so ist ihnen unbedingt zuzustimmen. Nicht in dem Sinne, dass dort alles zu 100 Prozent so bleiben sollte, wie es ist, aber wenn man dort etwas plant, dann sollte man es richtig, zu 100 Prozent tun. Solange es ein solch umfassendes Konzept für diesen Raum nicht gibt, sollte man diesen ollen Flugplatz so belassen, wie er jetzt ist, denn so besteht zumindest eines: eine Möglichkeit.