Ronaldo Wrobel im Gespräch über sein neues Buch »Hannahs Briefe«

»Die jüdische Gemeinde war von den Prostituierten irritiert«

Ronaldo Wrobel, geboren 1968, lebt und arbeitet als Schriftsteller, Journalist und Rechtsanwalt in Rio de Janeiro. In seinem neuen Roman »Hannahs Briefe« spiegelt er die Weltgeschichte am Vorabend des Zweiten Weltkriegs in einer Liebesgeschichte.

Ihre Spionagegeschichte »Hannahs Briefe« ist in der jüdischen Community im Rio de Janeiro der dreißiger Jahre angesiedelt. Muss man das Thema als Kriminalroman erzählen, um auf dem brasilianischen Buchmarkt Erfolg zu haben?
Ich mag Geschichten, die die Leser fesseln und überraschen. Ich habe mein Buch in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg angesiedelt, weil es eine tragische Zeit ist, die aber eben auch ganz gute Stories abwirft. Frieden und Wohlstand neigen dazu, langweilig zu sein. Rio war damals die Hauptstadt Brasiliens, die endlose Atlantikküste unseres Landes hatte eine große geostrategische Bedeutung in dem sich anbahnenden Konflikt zwischen Kommunisten, Nazi-Faschisten und US-amerikanischen Liberalen. Und Rio war der reale Schauplatz vieler Spionagegeschichten, die noch viel emotionaler und vertrackter sind als die in meinem Buch.
Dient die jüdische Community nur als Setting Ihres Spionageromans?
Der Schreibprozess funktioniert bei mir immer auf dieselbe Weise. Ich habe zunächst eine ganz einfache Idee, die ich dann mit immer neuen Motiven anreichere. Sagen wir, mein Ausgangspunkt ist eine deutscher Journalist in Rio, der einen Apfel kaufen will. Dann folge ich ihm gedanklich in einen Supermarkt und stelle mir Fragen: Würde er auch eine Birne kaufen? Ich versuche mich in die Leser hineinzuversetzen, versuche zu antizipieren, was sie überraschen könnte. Auf diese Weise häufe ich immer neue Motive und Wendungen einer Geschichte an.
Was hat Sie gerade an den dreißiger Jahren interessiert?
Es war eine spannende Zeit, die von gewaltigen Migrationsströmen, nicht nur europäischen, auch asiatischen und solchen aus dem Mittleren Osten, geprägt ist. Wer hier ankam, fand ein Land mit gewissen politischen Spannungen vor, das im Großen und Ganzen jedoch sehr gastfreundlich war. Ein gewaltiges Land mit gewaltigen Möglichkeiten. Viele Juden, die zu dieser Zeit hier ankamen, konnten sich beruflich sehr gut verwirklichen. So wie die Familie meiner Mutter, die aus einer kleinen Druckerei ein Kommunikationsimperium machte. Brasilien suchte in den dreißiger Jahren seine Identität. Für die Diktatur unter Getúlio Vargas war das damals das ständige Thema. Die Festschreibung von Portugiesisch als einzige Amtssprache und der Plan, die Bevölkerung »aufzuhellen«, sind davon ebenso Ausdruck wie beispielsweise der Druck auf einzelne Einwanderergruppen wie die Deutschen, die separatistische Tendenzen entwickelten. Ebenso wie den Italienern, Japanern und Juden wurde ihnen verboten, ihre Sprache zu sprechen. Die Juden brachte das in eine dramatische Situation, da religiöse Rituale auf Hebräisch abgehalten werden mussten. Es gibt einfach Begriffe, die unmöglich zu übersetzen sind, aber es gab staatliche Angestellte, die damals in den Synagogen saßen und das kontrollierten.
Es ging also auch darum, die jüdische Migrationsgeschichte in Brasilien sichtbar zu machen?
Logisch, denn die Migrationsgeschichte des Landes ist zu komplex, als das jemand »Das ist meines« schreien könnte. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts veränderte sich die Bevölkerungstruktur stark. In den Jahren zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg setzte zugleich ein ungeheures urbanes Wachstum ein. In den Städten trafen sich alle. Meine Geschichte spielt zum Beispiel in einem Viertel rund um den Praça Once, einem Ort, der später vollständig zerstört und umgestaltet wurde. Dort kamen Menschen aus aller Welt an, dort entstand der Samba, dort wurden afrikanische Kulthandlungen zelebriert, Libanesen, Portugiesen und Juden kamen hier zusammen. Rio war zu dieser Zeit eine äußerst kosmopolitische Stadt und sehr offen. Fremdenfeindlichkeit war vor allem ein Ausdruck bestimmter politischer Milieus und kein allgemeines Phänomen. Die Integralisten waren natürlich gegen die Juden und versuchten auf ihre Art den Faschismus zu imitieren. Aber es war eine elitäre Bewegung, die in ihrer Wirkung äußerst begrenzt war.
Wie ein roter Faden zieht sich die glücklose Liebessuche des jüdischen Schusters Max Kutner durch das Buch. Seine Geschichte wirkt im Wortsinne unglaublich. Ist es eine fiktive Geschichte? Sie beschreiben im Roman zugleich, wie Sie die Geschichte recherchiert haben.
Alles ist frei erfunden. Nichts von all dem ist geschehen. Ich habe bereits viele Anfragen von Journalisten erhalten, die Max kennenlernen wollten. Dabei wollte ich die Leser doch nur ein bisschen verwirren. Selbst mein Verleger sagte mir nach der Veröffentlichung, was ich doch für ein Glück gehabt hätte, solch einen Zeitzeugen getroffen zu haben. Es gibt natürlich reale Fragmente, aber das Drama meines Buches ist eine Fiktion. Das historische Ambiente gab es, auch ähnliche Personen wie Max, der als Übersetzer bei der Briefzensur mitarbeitet, muss es gegeben haben.
Sie sind Kolumnist der jüdischen Zeitschrift Menorah und bewandert in der jüdischen Geschichte und Kultur. Sie flechten jiddische Begriffe in den Roman ein, setzen den jüdischen Festtagskalender ein. Verfolgen Sie mit Ihrer schriftstellerischen Arbeit einen Bildungsauftrag?
In meinen Buch wimmelt es von Archetypen der jüdischen Folklore. Die musste ich nicht er­finden, die gab es im Unterschied zu den Plots bereits. Eines meiner literarischen Idole ist Isaac Bsahevis Singer, ein Jude aus Osteuropa, der auf Jiddisch schrieb und in den siebziger Jahren den Nobelpreis bekam. Er sprach immer viel von der jüdischen Kultur, den Riten und Mythen aus dem Inneren Europas. Da habe ich mich bedient, was vielleicht nicht sonderlich kreativ ist. Dafür ist die Handlung meines Buches komplett erfunden. Einen Bildungsanspruch hatte ich dabei nicht, vielleicht ist es eine kleine Hommage an die Epoche geworden, aber eigentlich wollte ich nur eine gute Geschichte erzählen. Und die ist beeinflusst von den Erzählungen von Freunden und Verwandten. Der Judaismus liefert nun mal gute Narrative.
Neuere Studien zur jüdischen Migration in Brasilien, etwa Misha Kleins Band »Kosher Feijoada«, vertreten die These, dass die Beschäftigung mit den aus Europa und Deutschland importierten Topoi des Antisemitismus den Blick auf die Verhältnisse in Brasilien verstellt. Wie ist Ihre Einschätzung?
Ich würde sagen, es gab zu dieser Zeit einen Antisemitismus, der sich jedoch auf eine sozio-ökonomische Elite konzentrierte. Ich finde es wichtig in diesem Zusammenhang, eine histo­rische Revision vorzunehmen, um dem, was wirklich passiert ist, nahezukommen.
Dazu gehört dann auch der Bruch mit einem heiklen Tabu?
Das Buch handelt auch von der sogenannten jüdischen Prostitution. Es gab zu dieser Zeit eine jüdische Organisation in Buenos Aires mit Mitgliedern aus aller Welt, die Frauenhandel betrieben und junge jüdische Frauen aus osteuropäischen Dörfern nach Lateinamerika lockten. Sie heirateten die Mädchen und zwangen sie später zur Prostitution. Ich bin dafür kritisiert worden, dass ich den leidvollen Teil der jüngeren jüdischen Geschichte für mein Buch benutze. Ich bin dafür, offen mit Momenten der Geschichte umzugehen, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind.
Max Kutner, ein Schusterjunge aus der polnischen Provinz, wird in Ihrem Buch wider Willen als Übersetzer rekrutiert, muss für den Geheimdienst der Diktatur Getúlio Vargas’ Briefe jüdischer Migranten durchsehen. Er wird von den Ereignissen mitgerissen, ist vom bohemischen Rio de Janeiro überfordert und unglücklich verliebt – lost in translation, wenn man so will. Steht Kutners Geschichte nur für sich?
Er ist eine Figur, die sich am Anfang der Geschichte dagegen sträubt, eine tragende Rolle zu spielen. Er will Schuster bleiben, doch wir sind nun mal alle historische Agenten. Und er, der am Anfang sicherlich als ein Opfer erscheint, ist es, der mit seinem Begehren die Geschichte vorantreibt. Er wird zum Epizentrum der Konflikte. Er ist kein Opfer, selbst wenn er das selbst glauben mag. Seine Initiative bewegt die Dinge.
Anders als der Antiheld Kutner ist Hannah, die Sexarbeiterin und Agentin, der er nachläuft, den Ereignissen durchaus gewachsen.
Zunächst ging es mir vor allem darum, Stereotype aufzubrechen. Stereotype sind eine Plage des Alltags. Wer in Stereotypen denkt, weiß immer schon, was er von anderen zu erwarten hat. Das ist Ausdruck einer großen Unsensibi­lität. Und Hannah ist eine Figur, die das Denken in Stereotypen herausfordert. Max hält sie zunächst für eine bemitleidenswerte Person und wird dann immer wieder von ihr überrascht. Auch die jüdische Gemeinde war von den Prostituierten irritiert und konnte nicht begreifen, dass Frauen, die sich prostituierten, am jüdischen Glauben und an den Traditionen festhielten. Sie sprachen ihnen die spirituelle Größe ab, jüdisch zu sein. Dabei trugen sie maßgeblich zum Erhalt des jüdischen Lebens bei, organisierten eine eigene Synagoge und Wohlfahrtsverbände. Sie ließen ihre Kinder beschneiden, sich nach jüdischem Brauch beerdigen. Das sorgte für eine ungeheure Verwirrung in der konservativen jüdischen Gemeinde. Sie verweigerten den Frauen die Anerkennung. Dieser interne Konflikt zeigt letztlich auch, dass die jüdische Gemeinschaft viel komplexer ist, als das allgemeine Vorurteil glauben lässt.
Welche Möglichkeiten der Emanzipation hatten die Frauen Ihrer Meinung nach?
Zunächst einmal glaube ich, dass viele der Prostituierten Opfer waren. Ihre Ankunft hier war erzwungen und sie hatten keine Alternative. Doch Lebensläufe sind komplex, einige hörten schnell mit dem Gewerbe auf, andere hatten bereits vorher in Warschau als Prostituierte gearbeitet. Sie waren Opfer, aber nicht nur, und sie konnten oftmals ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Einmal in Lateinamerika, akzeptierten viele ihre neue Tätigkeit. Sie verdienten Geld, einige wurden reich. Mein Buch ist keine Apologie der Prostitution. Was ich zeigen wollte, ist, dass auch innerhalb einer menschlichen Tragödie moralisches Handeln möglich ist.
Es gibt in Brasilien zahlreiche Sexarbeiter­innen, die für eine gesellschaftliche Anerkennung ihrer Arbeit eintreten und Ihnen sicherlich vorhalten würden, stereotyp zu denken.
Es wird immer Prostitution geben. Aber ich persönlich denke nun mal, dass es ein leidvolles und kein glückliches Schicksal ist. Ich würde einem Freund oder einer Freundin von diesem Weg abraten. Aber zugleich kann keine Gesellschaft Prostituierte ausschließen. Sie müssen als vollwertige Mitglieder respektiert werden, denn sie sind ein konstitutives Element des Zusammenlebens.
Was ist geblieben vom Shtetl der dreißiger Jahre? Wie ist die Situation der jüdischen Gemeinde Rio de Janeiros heute?
Die heutige jüdische Gemeinde ist eine völlig andere, nicht zuletzt deshalb, weil das nicht-jüdische Rio, die Welt eine andere ist. In den Dreißigern wusste niemand, wohin die politische Reise gehen würde. Die Juden wurden damals stark diskriminiert, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Brasilien. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann dann ein verstärkter Dialog, der jedoch noch immer von der Angst vor einer erneuten Verfolgung geprägt war. Viele Ältere, die den Krieg miterlebten, rieten mir unentwegt dazu, mir jüdische Freunde zu suchen, eine Jüdin zu heiraten, denn jederzeit könne ein neuer Hitler auftauchen, alle könnten sich gegen mich verbünden und nur unter Juden könne ich Solidarität finden. Für mich war das schon als Jugendlicher alles schwer nachvollziehbar. Klar, ich verstehe den Standpunkt. Aber ich wuchs bereits in einer Gesellschaft auf, in der die Grenzen zwischen Juden und Nicht-Juden zunehmend diffus wurden. Wenn ich als Kind gefragt wurde, ob ich mich eher als Jude oder als Brasilianer fühlen würde, verstand ich die Frage nicht. Das wäre so, als ob ich Sie fragen würde, fühlen Sie sich eher als Mann oder als Deutscher? Mehr als die Hälfte der Kinder an jüdischen Schulen stammt heute aus Ehen zwischen Juden und Nicht-Juden. Allein das zeigt, dass die jüdische Gemeinschaft sich heute mehr und mehr über eigene Werte, Kultur und Tra­ditionen als über eine äußere Bedrohung definieren muss.
Damals durften Sexarbeiterinnen nicht zum Gebet und organisierten eine eigene Synagoge. Hat sich das inzwischen etwas geändert?
Ich habe darauf keine Antwort, weil ich persönlich keine einzige jüdische Prostituierte kenne. Was ich sagen kann, ist, dass es in der jüdischen Gemeinschaft konservative und liberale Gruppen gibt. Es gibt reformistische Synagogen in Rio, die Homosexuelle akzeptieren, die es Frauen erlauben, die Tora zu tragen und Zeremonien abzuhalten. Es gibt auch eine Rabbinerin. Und es gibt Orthodoxe, die das alles nicht erlauben. Deshalb ist es auch schwierig, von »der« jüdischen Gemeinschaft zu sprechen. Der Judaismus existiert nur als Ganzes, wenn man von außen draufschaut.
Ronaldo Wrobel: Hannahs Briefe. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Nicolai von Schweder-Schreiner. Aufbau-Verlag, Berlin 2013, 328 Seiten, 19,99 Euro