Wildnis und Pioniergeist in den USA

Fiebern in Freiheit

Der 1831 in Alexis de Tocquevilles »Fünfzehn Tage in der Wildnis« beschriebene ­Pioniergeist prägt noch immer die Mentalität im ländlichen Amerika.

Als in der vergangenen Woche gemeldet wurde, dass wegen des shutdown, der Schließung zahlreicher Behörden aufgrund des Haushaltsstreits, 700 000 Touristen in den USA die Nationalparks verlassen müssten, weil die Ranger ohne Bezahlung ihren Dienst nicht mehr versehen könnten, fiel auseinander, was einmal zusammengehörte. Die amerikanische Wildnis war jener Ort, an dem sich der extreme Individualismus der europä­ischen Pioniere entwickeln konnte und der das spezifische Verhältnis amerikanischer Grund- und Landbesitzer zum Staat hervorbrachte, das bis heute vor allem im Mittleren Westen vorherrscht.
Der Staat hat nach dem Verständnis der »Bebauer des Bodens«, als die die Pioniere sich sahen, die Möglichkeit der Flucht in die sumpfigen und ungesunden Wälder eröffnet. Im Wald angekommen, waren sie auf ihrem sehr billig erworbenen Stück Land sehr allein. Im ersten Jahr befiel in der Regel die ganze Familie, vom Pionieroberhaupt bis zu den jüngsten Kindern, in ihrer kargen Holzhütte das Waldfieber und ließ sie arbeitsunfähig auf dem nackten Boden liegen.

»Haben sie wenigstens Zugang zur Hilfe eines Arztes?« – »Der nächste Arzt wohnt oft 60 Meilen von ihrer Heimstatt entfernt. Sie halten es wie die Indianer: Sie sterben oder werden gesund, wie es Gott gefällt.« Der Dialog findet sich in Alexis de Tocquevilles gerade auf Deutsch bei Diaphanes erschienenem Buch »Fünfzehn Tage in der Wildnis«. Tocquevilles nur knapp 100 Seiten lange Beschreibung der Situation der Pioniere an der Waldgrenze erzählt mehr über die Schwierigkeiten, die Präsident Barack Obama gerade zwingen, die zum Museum gewordenen Reste der amerikanischen Wildnis zu schließen, als der Großteil der europäischen Kommentare. Sein Bericht liefert aber nicht nur das Substrat einer amerika­nischen Mentalitätsgeschichte, er beschreibt auch in einer körperlich zu nennenden Sprache die Erfahrung, die dem letzten Kapitel des ersten Bandes von Karl Marx’ »Kapital« – »Die moderne Kolonisationstheorie« – zugrunde liegt. Marx beschreibt in diesem Kapitel die Schwierigkeiten, die der Kapitalismus in den USA hatte, solange die frontier, die Grenze zu den Indianerterritorien im Westen, noch nicht geschlossen war.
In Tocquevilles »Wildnis« fasst ein Landverkäufer den Grund der Probleme des Kapitals in einem Satz zusammen: »Ein Arbeiter kann also an einem Tag genug verdienen, um einen Morgen zu kaufen.« Weil ein Morgen noch nicht urbar gemachtes Land in den Wäldern der Indianerterritorien so billig war, konnten die aus Europa eingewanderten Pioniere die abhängigen Arbeitsverhältnisse in den Manufakturen und Fabriken an der Ostküste relativ schnell wieder verlassen. Das trieb die Arbeitskosten im Vergleich zu Europa unverhältnismäßig in die Höhe. Arbeitskraft wurde für viele Kapitalisten unbezahlbar und das ließ den Betrieb in der Neuen Welt ins Stocken geraten.
Marx betont in diesem Zusammenhang, dass die aus der abhängigen Arbeit geflohenen Einwanderer auch mit dem Erwerb von wildem Grund und Boden noch lange nicht ins Kapitalverhältnis eintreten. »Produktions- und Lebensmittel, als Eigentum des unmittelbaren Produzenten, sind kein Kapital«, schrieb er und fügte hinzu, dass sie es auch noch nicht werden, wenn sich einer der Siedler auf die Produktion von Holzschaufeln spezialisiert und sie mit den anderen gegen irgendetwas eintauscht.
Die Siedler in der Wildnis tragen für Marx ein doppeltes Gesicht. Zum einen sind sie das Geheimnis der »Blüte der Kolonien«, zum anderen Ausdruck ihres »Krebsschadens – ihres Widerstands wider die Ansiedlung des Kapitals«. Was Marx in seiner Analyse des Freiheitswillens der Pioniere als Widerstand gegen die abhängige Lohnarbeit unbeachtet lässt, nämlich die Mentalität des in der Wildnis arbeitenden Farmers, stellt Tocqueville in den Mittelpunkt: die Pioniere als eine »neue Rasse«, wie er es nennt, der die Zukunft der Neuen Welt gehöre. Und die untersucht er in seinem kurzen Bericht wesentlich genauer als in seinem weltbekannten, umfangreichen Standardwerk »Über die Demokratie in Amerika«. Was auch damit zu tun hat, dass Tocqueville die 15 Tage dauernde Reise in die Wildnis weder unter dem Aspekt der Demokratietheorie betrachtet, noch sie in einen Zusammenhang mit seinem ursprünglichen Auftrag stellt.
Als Tocqueville im April 1831 zu seiner großen Nordamerikareise aufbrach, hatte er einen klaren Auftrag. Er sollte die Gefängnisse in den Vereinigten Staaten untersuchen und Vorschläge für eine Gefängnisreform in Frankreich machen. Aus dem Auftrag resultierte auch sein erstes Buch über die USA mit dem Titel »Système Pénitentiaire aux États-Unis«. Das Werk über das Gefängnissystem wird in der Rezeption nur selten mit dem Buch über die Demokratie in Verbindung gebracht. Was kein Wunder ist, wenn man die drögen seitenlangen Beschreibungen des amerikanischen Gefängnisalltags nur als historische Abhandlung über Gefängnisse liest. Interessant wird die Sache aber, wenn man auf die Sprache achtet.

Andauernd redet Tocqueville von der »wilden Natur«, die unbedingt gezähmt werden muss. Die wilde Natur widerspricht nämlich dem pädagogischen Ziel, die moralische Größe der Freiheit zu erreichen. Und die moralische Größe der Freiheit hat einen Gegner in fast jeder Form der Gemeinschaftsbildung. Weil das Gespräch der Häftlinge allein vom Verbrechen handelt, findet notwendig »ein verderblicher Einfluss des einen auf den anderen statt«. Deshalb plädiert Tocqueville für eine strenge Einzelhaft der Gefangenen. Nur in der Einzelhaft können die Gefangenen zurück zu einer nun doch wieder »guten Natur« finden und zumindest eine äußere »Ordnung der Dinge« erreichen.
Für Frankreich sieht Tocqueville allerdings selbst in Einzelhaft für die »gute Natur« schwarz, weil dort der »Geist des Gehorsams gegen die Gesetze« fehle, den man im Allgemeinen nur in den Vereingten Staaten finde. Und genau diesen Geist des Gehorsams gegen die Gesetze, verbunden mit der moralischen Größe der Freiheit, hatte Tocqueville auf seiner Reise bei den amerikanischen Pionieren in ihrer Einsamkeit – oder böse ausgedrückt: Einzelhaft – in der Wildnis gefunden.
Was natürlich nicht ohne anfängliche Irritationen abging. Als er mit seinem Begleiter, Freund und späteren Herausgeber, Gustave de Beaumont, die letzte größere zusammenhängende Siedlung verlassen hat, finden sie am Straßenrand einen jungen, betrunkenen, im Sterben liegenden In­dianer, auf den eine junge Indianerin laut schimpfend eintritt. Erst als Tocqueville und Beaumont die Frau eindringlich auffordern, den Betrunkenen in Ruhe zu lassen, verschwindet sie mit einem diabolischen Lachen. Zurück in der Pioniersiedlung finden die beiden dann niemanden, der sich um den Indianer kümmern will, selbst angebotenes Geld bewegt keinen zur Hilfe. Zur Freiheit an dieser Grenze gehört auch die Freiheit, auf der Straße zu sterben. Das ist in diesem Teil Amerikas aber nicht nur ein Programm zur Vernichtung der Indianer. Die Siedler lassen die gleiche Unerbittlichkeit auch gegen ihresgleichen walten.

Tocqueville fragt sich denn auch, ob Menschen, die zu solcher Härte auch gegen sich selbst fähig sind, kalt oder gefühllos sind. Oder müsse man ihnen »im Gegenteil eine jener so brennenden, so zähen, so unbarmherzigen Leidenschaften des Geistes zuerkennen«? Eine Leidenschaft des Geistes für Freiheit, die aus der Erfahrung einer doppelten Flucht erwächst. Denn die Pioniere sind nicht naiv. Sie sind zuerst aus Europa geflohen und dann noch einmal vor den alten Abhängigkeiten der Kapitalverhältnisse in der Neuen Welt. Sie bilden mit den Worten Tocquevilles »eine unruhige, diskutierende, abenteuerliche Rasse, die mit Kälte tut, was einzig durch die Glut der Leidenschaften erklärlich ist«. Sie sind »eine Nation von Eroberern, die das Leben in der Wildnis auf sich nehmen, ohne jemals seinem Zauber zu verfallen; die von Kultur und Bildung nur schätzen, was ihrem Wohlstand zuträglich ist, und sich mit einem Beil und Zeitungen versehen in die Einsamkeit Amerikas zurückziehen«.
Wenn man Tocquevilles Beschreibung der Mentalität der Pioniere mit Marx’ Theorie der modernen Kolonisation zusammenliest, bekommt man einen guten Eindruck von den Motiven, die Teile des ländlichen Amerikas so heftig gegen Obamas Gesundheitsreform opponieren lassen. Die Gesundheitsreform wäre das erste genuin europäisch-sozialdemokratische Gesetz, dass dem Staat auch den Zugriff auf die letzte Hütte in den Bergen Montanas gestatten würde, und nicht zuletzt dagegen richtet sich der Kampf. Um das zu verstehen, reicht es weder, die Gegner der Reform als »Tea-Party-Irre« abzustempeln, wie es das deutsche Staatsfernsehen tut, noch sie als hoffnungslos veraltet oder sozialdarwinistisch darzustellen.
Denn ganz gleich wie domestiziert die letzte Hütte Montanas und wie kapitalisiert die letzte Wildnis in den Nationalparks tatsächlich ist, den extremen Individualismus der Pioniere hat Marx genauso wenig verdammt wie Tocqueville. Daraus ergibt sich natürlich kein Votum für die derzeitige Politik der Republikaner gegen Obama. Nur machen sie es sich mit dem extremen amerikanischen Individualismus nicht so einfach wie diejenigen, die glauben, mit dem Gesetz zur Gesundheitsreform ziehe das »Wir« in Amerka ein.