Verfassungsschutzskandal in Niedersachsen

Niedertracht in Niedersachsen

Der niedersächsische Verfassungsschutz hat mehrfach illegal Journalisten beobachtet, die in der rechtsextremen Szene recherchieren. Nun wurde eine Task Force gegründet, die den Skandal aufklären soll.

»So viel Öffentlichkeit wie möglich – so wenig Geheimhaltung wie notwendig. Das ist der Grundsatz der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Niedersächsischen Verfassungsschutzes. Seit Jahren wird er beachtet und praktiziert.« So steht es auf der Internetseite des niedersächsischen Verfassungsschutzes. In der Vergangenheit konnte man jedoch durchaus eine gewisse Flexibilität erkennen, was die Beachtung und die Anwendung dieses Grundsatzes angeht. Und das nicht nur in der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit.
Zunächst wurde am 18. September bekannt, dass mehrere Journalisten durch den niedersächsischen Verfassungsschutz über Jahre hinweg rechtswidrig ausgespäht worden waren. Mindestens zwei Personen rief die Verfassungsschutzpräsidentin Maren Brandenburger (SPD) persönlich an und teilte ihnen mit, dass über sie ohne rechtliche Grundlage Daten gesammelt worden seien. Konkrete Aussagen, was den Zeitraum, den Umfang oder die eingesetzten Mittel der Überwachung angeht, gab es jedoch nicht. Die Daten wurden einer Mitteilung des niedersächsischen Innenministeriums zufolge unverzüglich gelöscht.

Zu den überwachten Personen gehörte auch die Journalistin Andrea Röpke, die seit Jahrzehnten über die rechtsextreme Szene schreibt. Röpke hatte schon im Februar 2012 durch ihren Anwalt ein Auskunftsersuchen an den Verfassungsschutz stellen lassen, sie erhielt die Antwort, dass »weder eine Akte geführt wird noch Angaben in Dateien gespeichert sind«. Das war, traut man den Mitarbeitern des Verfassungsschutzes ein gehöriges Maß an merkwürdig anmutendem Formalismus zu, auch gar nicht falsch: In dem Zeitraum zwischen Anfrage und Antwort wurde der Datensatz über Röpke gelöscht. Man kann es aber auch, so wie Röpkes Anwalt Sven Adam, schlicht eine Lüge nennen. Adam hat mittlerweile im Namen von Röpke Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Hannover wegen des Verdachts auf Urkundenunterdrückung gestellt und die übrigen Verfassungsschutzämter in Deutschland um Auskunft über mögliche Überwachungen Röpkes gebeten.
Dass die illegale Sammlung von Informationen überhaupt öffentlich wurde, lag nicht zuletzt am Regierungswechsel in Niedersachsen nach der Landtagswahl 2013 von einer schwarz-gelben Landesregierung zu Rot-Grün und dem Austausch der Leitung des Verfassungsschutzes. Dessen neue Präsidentin Maren Brandenburger zog nach ihrer Amtsübernahme im März eigenen Aussagen zufolge ohne Verdacht Stichproben von Datensätzen, um mehr über die Sammelpraxis ihrer Mitarbeiter zu erfahren.
Dabei fiel ihr auch der Name von Carlo Bleichert auf, des Sprechers der Landesarbeitsgemeinschaft »Rechtsextremismus/Antifaschismus« der Linkspartei in Niedersachsen. Ebenso wie alle anderen Betroffenen weiß Bleichert wenig über Art und Ausmaß der Überwachung, nicht »ob ich observiert oder mein Telefon abgehört wurde oder wie diese Daten zu Stande kamen«. Nicht nur das Misstrauen gegenüber seinem Umfeld oder die Unsicherheit, Telefonate zu führen, bereiten ihm Sorgen, sondern auch welche Folgen die Überwachung für seine Arbeit gegen Rechtsextremismus haben könnte. Insbesondere was das Vertrauen von Informanten zu seiner Person angehe. Bleichert ist erbost und fordert Konsequenzen: »Wenn eine Behörde so arbeitet, dann brauchen wir die nicht.« Die Aufarbeitung selbst bewertet er ambivalent, einerseits ließe die Veröffentlichung unter der neuen Leitung des niedersächsischen Verfassungsschutzes erkennen, dass die Arbeitsweise des Verfassungsschutzes verändert werden solle, andererseits sei gerade die Löschung der Daten eine Vorgehensweise, die ihn an die Datenvernichtung im Zuge der NSU-Affäre erinnere.

Über eine unzulässige Überwachung informiert wurde neben Röpke und Bleichert auch der Journalist Ronny Blaschke, der überwiegend Berichte über die Verbindungen der rechten Szene zum Sport veröffentlicht. Nach dem Telefonat mit dem Verfassungsschutz schrieb Blaschke einen Artikel in der Süddeutschen Zeitung, in dem er sich überrascht und bestürzt über die Überwachung zeigte, und trat auch in einem Fernsehbeitrag des NDR auf. Auch er fürchtete Konsequenzen für seine Arbeit. Peinlich für die Aufklärer war, dass man zumindest Blaschke das ganze Theater hätte ersparen können – er wurde offenkundig verwechselt und selbst nie überwacht, sondern einfach nur falsch informiert.
Zunächst hieß es noch, dass ausschließlich »publizistisch und journalistisch« tätige Personen überwacht worden seien. Ende September kamen aber immer mehr Details ans Licht. So wurde durch Recherchen des NDR bekannt, dass auch Sven Adam, der Anwalt von Röpke und Bleichert, beobachtet wurde. Pikant ist dabei nicht nur, dass Adam der Anwalt von mehreren derzeit Betroffenen ist, sondern auch, dass er den Göttinger Journalisten Kai Budler, der ebenfalls über Neonazis recherchiert, gegenüber dem Verfassungsschutz vertritt. Budlers Überwachung wurde schon 2011 bekannt.
Zudem musste der Verfassungsschutz zugeben, dass auch mindestens ein Mitglied der Grünen Jugend Niedersachsen beobachtet wurde. Auch hier gibt es eine Vorgeschichte, schon letztes Jahr war bekannt geworden, dass zwei Mitglieder der Grünen Jugend ausgespäht worden waren. Nun gibt es erneut einen Fall. Lara Jil Dreyer, Sprecherin der Grünen Jugend Niedersachsen, sieht darin den wiederholten Beweis, dass die Behörde alles tue, nur nicht ihrer eigentlichen Aufgabe, dem Schutz der Verfassung, nachkomme. »Wir fordern schon seit Jahren die Auflösung des Verfassungsschutzes«, diese Forderung stellte die Grüne Jugend Niedersachsen auch vehement nach dem Bekanntwerden der Mordserie des NSU (Jungle World 49/2011).

Mittlerweile wurde eine Task Force eingesetzt, die die vom Verfassungsschutz gesammelten Daten nach zweifelhaften Fällen durchsuchen soll – allerdings sollen wohl lediglich Datensätze über Journalisten künftig von der Löschung ausgenommen sein. Auch ein paar personelle Änderungen wurden vorgenommen, der Vizepräsident und der Leiter der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit wurden versetzt, ob das jedoch wirklich den Geist der Behörde verändert, bleibt fraglich, zumal noch nicht klar ist, wer überhaupt die Überwachungen angeordnet hat. Eine Arbeitsgruppe zur Reform des niedersächsischen Verfassungsschutzes wurde allerdings schon vor dem Bekanntwerden der Affäre Anfang September einberufen.

Inzwischen geht jedenfalls das übliche politische Gerangel um die Deutungshoheit über den Skandal und dessen Aufarbeitung los. Die Argumentationslinien sind relativ klar – die SPD und die Grünen fordern den Umbau des Verfassungsschutzes, wobei insbesondere die SPD die Löschung der Daten verteidigt. CDU und FDP zweifeln die Rechtswidrigkeit der Überwachung an. Während die FDP eine unabhängige Untersuchung fordert, lässt es sich die CDU-Fraktion nicht nehmen, im Nachhinein die Überwachung noch einmal zu begründen: Es sei eine »Tatsache, dass sich zumindest eine latente Nähe zum Extremismus bei kaum einem der bisher bekannt gewordenen Fälle leugnen ließe«. Aus dieser Mitteilung der CDU wird nicht deutlich, welche Seite des Extremismus gemeint sein soll, aber Journalisten, die über Rechtsextremismus publizieren vorzuwerfen, im rechtsextremen Milieu zu recherchieren, dürfte eigentlich nicht einmal einem unbedarften Lokalpolitiker einfallen. Folglich dürfte die »latente Nähe« in der Lesart der CDU wohl nur links von ihrer Partei zustande gekommen sein.
Diese Aussage passt gut zur Politik des ehemaligen Innenministers Uwe Schünemann (CDU). Auf der Internetseite des Verfassungschutzes Niedersachsen lässt sich Schünemanns Beschreibung von Linksextremen immer noch finden. »Es sind Linksextremisten, die unter dem Banner des ›Antifaschismus‹ nicht nur gegen Rechtsextremisten vorgehen, sondern auch ihre antidemokratischen Ziele verfolgen. Ja, mehr noch: Im Sinne einer Bündnisstrategie versuchen sie, auf der Grundlage des Antifaschismus den bürgerlichen Protest auf ihre Seite zu ziehen. Faschismus wird von Linksextremisten oft genug mit dem demokratischen Staat gleichgesetzt.« Das bedeutet wohl, dass jene, die sich auch über Lichterketten hinaus antifaschistisch betätigen, unter dem Verdacht stehen, Verfassungsfeinde zu sein.